Beeinflussung droht an allen Ecken: von Politik, Werbeindustrie und Medien. Doch wo verläuft die Grenze zwischen legitimer Beeinflussung und illegitimer Manipulation? Eine Antwort verlangt insbesondere das Internet, wo Manipulationen für den Nutzer oft nur schwer erkennbar sind. Internetdienste beteuern, mit ihren Experimenten nur die Verbesserung ihrer Dienste im Sinn zu haben. Doch heiligt der Zweck alle Mittel oder gibt es Grenzen?
Ein Raunen ging durch das Netz, als Ende Juni dieses Jahres bekannt wurde, dass Facebook den Newsfeed von mehreren hunderttausend Nutzern für eine Studie manipuliert hatte. Die Untersuchung hatte es zum Ziel, herauszufinden, wie Newsfeed-Beiträge mit negativem oder positivem Tenor den Nutzer in seinem eigenen Verhalten auf Facebook beeinflussen.
Für dieses Experiment durfte sich Facebook ordentlich Schelte anhören: Neben ethischen Vorwürfen zielte die Kritik ebenso auf die zweifelhaften Ergebnisse der Studie. Facebook handelte sich am Ende eine Untersuchung durch die US-Handelskommission (FTC) und die britische Datenschutzbehörde (ICO) ein. Doch weder die FTC noch das ICO haben ihre Ergebnisse bisher veröffentlicht und eine Stellungnahme darüber abgegeben, ob Facebook mit dem durchgeführten Experiment gesetzeswidrig gehandelt hat oder nicht.
Facebook muss keine ernsthaften Folgen fürchten
Gab es also nur eine kurzfristige und oberflächliche Entrüstung über die Studie, weil es aktuell en vogue ist, sich über Facebook zu empören und die Studie längst schon wieder durch andere Ereignisse verdrängt wurde? Ist eine Stellungnahme von Behördenseite nicht innerhalb eines Zeitraums zu bewerkstelligen, in dem das Ereignis den Menschen noch präsent ist? Denn eins ist sicher, bei aller Sorgfalt, die von einer Behörde bei ihrer Arbeit erwartet wird: Je mehr Zeit verstreicht, desto weniger Menschen werden sich für eine Stellungnahme interessieren, die einen zurückliegenden Aufreger thematisiert. Falls Facebook mit diesem Experiment gegen das Gesetz verstoßen hat, dann muss dieses Verhalten zeitnah bewertet und möglicherweise sanktioniert werden. Auch aus psychologischer Perspektive sollte eine Strafe erkennbar, d.h. zeitnah erfolgen.
Experimentieren als Funktionsprinzip von Webseiten
Unwahrscheinlich, dass Christian Rudder, Mitgründer der US-Datingplattform OkCupid, diese Gedanken hatte, als er Facebook in seinem gestrigen Blogeintrag zur Seite sprang und offen eingestand: „Wir experimentieren mit Menschen“. Ob man sich bei Facebook in Palo Alto über so viel Unterstützung freut oder eher die erneute Aufmerksamkeit für das eigene Treiben missbilligt, ist leider nicht bekannt. Jedoch übernimmt Rudder die Argumentationsbasis von Facebook und erklärt, dass diese Art von Experimenten allein dem Zweck diene, den eigenen Dienst und somit das Nutzererlebnis für die User zu verbessern. Rudder bezeichnet dieses Vorgehen des ständigen „Experimentierens“ gar als Funktionsprinzip von Webseiten. Hat er Recht?
Nutzer helfen bei Produktentwicklung
Richtig ist, dass es inzwischen üblich ist, Online-Dienste oder Computerprogramme nicht mehr bis zur Marktreife zu entwickeln, sondern bereits lange vorher auf den Markt zu werfen, um sie zu testen. Schließlich weiß man nie, welche Idee das nächste große Ding sein könnte, und möchte häufig erst mal testen, ob der neue Dienst bei den Menschen ankommt. Denn erst mit dem vorzeigbaren Erfolg kommen die Investoren, die das nötige Geld in das Projekt pumpen, um es weiterzuentwickeln.
Genauso läuft das bei existierenden Diensten, die an neuen Funktionen arbeiten. Facebook etwa testet neue Funktionen oder Designänderungen generell vorab an ausgewählten Nutzern, bevor es alle Accounts auf die Neuerungen umstellt. Diese Gruppe repräsentiert einen Querschnitt der Facebook-Community. Mit dieser Vorgehensweise findet das Unternehmen schnell heraus, wie gut eine neu erdachte Funktion oder Änderung bei seinen Nutzern ankommt. Bei negativer Rückmeldung kann es rechtzeitig reagieren und entweder vollständig auf die Funktion verzichten oder auf die Kritik der Nutzer eingehen und nachbessern. Es gibt also plausible Gründe für Experimente auf Webseiten, von denen wir alle profitieren. Für die Webseitenbetreiber ist die Weiterentwicklung ihrer Dienstes überdies existenziell, sonst können sie sich in die Reihe der vergessenen Dienste hinter AOL, Myspace, StudiVZ etc. eingliedern, die die letzten Trends verpasst haben. Wieso also der Aufschrei, wenn das Herumprobieren notwendig ist und alle so arbeiten?
Sollte alles erlaubt sein, was technisch machbar ist?
Das Argument „Produktentwicklung“ verfängt nicht so richtig. Sicher, jeder freut sich über neue sinnvolle Funktionen und wird der Annahme zustimmen, dass kein Programmierer alle Szenarien im Voraus durchdacht haben kann. Aber es gibt (ethische) Grenzen, die nicht durch das technisch Machbare gesetzt werden sollten, sondern durch Werte und Diskussionen über eben jene Grenzen.
OkCupid-Chef Rudder und Sheryl Sandberg, Leiterin des operativen Geschäfts von Facebook, sind sich offenkundig nicht bewusst (oder gestehen es nicht zu), dass ein Unterschied zwischen Produktentwicklung und Manipulation existiert. Die Grenzen sind wie so oft nicht absolut, aber eine Sensibilität für solche Feinheiten wären beiden zuzutrauen. Wieso ist es für die Facebook-Betreiber wichtig zu wissen, ob und wie die Laune der Nutzer von positiv bzw. negativ lautenden Beiträgen in ihrem Nachrichtenstrom beeinflusst wird? Facebook würde vielleicht ganz naiv entgegnen: „Weil wir unsere Nutzer zu ‘glücklichen’ Menschen machen wollen“. Näher an der Wahrheit ist wohl, dass sie wissen wollen, auf welche Weise sie die Werbeumsätze steigern können. Das ist nicht per se verwerflich, denn irgendwie muss sich Facebook finanzieren, aber dann sollten diese Experimente nicht mit dem einzigen Argument der Produktoptimierung gerechtfertigt werden.
Die Wünsche der User sind Facebook nicht egal
„Facebook macht doch eh, was es will, und interessiert sich nicht für die öffentliche Meinung“, ist ein beliebtes fatalistisches Argument in Diskussionen über das größte soziale Netzwerk der Welt. Facebook ist mächtig. Facebook lässt sich tatsächlich nicht einfach von ein bisschen Gegenwind beeindrucken. Andererseits kann es sich selbst Facebook nicht leisten, dauerhaft die Bedürfnisse vieler Nutzer zu ignorieren. Lange Zeit vertrat Facebook-Chef Mark Zuckerberg das Mantra, möglichst alle persönlichen Informationen und Inhalte auf Facebook sollten für möglichst alle Besucher einsehbar sein. Nutzer mussten permanent ihre Privatsphäre-Einstellungen anpassen, weil Facebook bei Änderungen die Voreinstellungen meist auf ein Minimum reduzierte. Sicher wäre Zuckerberg dieser Strategie gerne treu geblieben, aber Facebook hat mittlerweile verstanden, dass es geschäftsschädigend wäre, dem Wunsch der Nutzer nach Privatheit nicht nachzukommen.
Nur schlechte PR führt zur Einhaltung von Datenschutz
Von institutioneller Seite gab es übrigens doch noch eine Reaktion: Die Datenschutzbehörde des Vereinigten Königreichs hat an diesem Montag einen Bericht (englisch) zum gesetzeskonformen Umgang mit Big Data veröffentlicht. Eine erschreckende Erkenntnis der Datenschützer lautet, dass einzig und allein schlechte PR (wie das Bekanntwerden der Facebook-Userstudie) die Unternehmen dazu veranlasse, die Datenschutzgesetze einzuhalten. Dementsprechend schreiben die Datenschützer den Medien eine wichtige Wächterfunktion zu. Ein weiterer Bestandteil des Berichts ist zudem die Forderung nach Richtlinien, die Kunden einen einfachen Zugang zu ihren Daten ermöglichen sollen. Diese Daten sollen die Kunden darüber hinaus woanders wiederverwenden oder verkaufen können. Wir müssen uns also in Geduld üben und vermutlich auf den nächsten Skandal warten, um zu sehen, ob und in welchem Maße sich die Internetunternehmen an solchen Richtlinien orientieren werden.
Foto: dkalo (CC BY-SA 2.0)