Die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung (2006/24/EG v. 15. 3. 2006) ist in ihrer jetzigen Form unzulässig, urteilten die Richter des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) heute. Wird es nun eine Neuauflage der Richtlinie auf europäischer Ebene geben? Was bedeutet das Urteil für die politische Situation in Deutschland? Wir haben bei der Rechtsanwältin und Bloggerin Nina Diercks nachgefragt.
Der Prozess vorm EuGH hatte vor allem in Deutschland Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) erklärte zum Amtsantritt, er wolle keinen neuen Gesetzentwurf vorlegen, sondern das Urteil des EuGH abwarten – im Gegensatz zum Bundesinnenminister Thomas de Maizière, der eine schnelle gesetzliche Neuregelung anstrebte. Ein neuer Gesetzesentwurf wurde erforderlich, da das Bundesverfassungsgericht die geltende Regelung 2010 für verfassungswidrig erklärte. Seitdem scheinen die Parteien das Thema zu umgehen und verweisen auf die EU. Jetzt deutet sich eine Fortsetzung des Konflikts in der Großen Koalition an, da Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) weiterhin eine „verfassungsgemäße und mehrheitsfähige Neuregelung“ der Vorratsdatenspeicherung anstrebt, wohingegen Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) keine Grundlage für einen neuen Gesetzesentwurf sieht.
Die Rechtsanwältin Nina Diercks beschäftigt sich schon seit längerem mit dem Thema Vorratsdatenspeicherung und betreibt zusammen mit Stephan Dirks eine Anwaltskanzlei sowie den Blog Social Media Recht. Dort argumentiert sie für eine juristisch-sachbezogene Vorratsdatenspeicherung in klaren rechtlichen Grenzen. Das heutige Urteil bedeutet ihr zufolge nicht, dass es keine gesetzliche Vorratsdatenspeicherung geben wird. Die große Hürde sei, ein Gesetz vorzulegen, welches dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügt.
politik-digital.de: Frau Diercks, welche Auswirkungen hat das Urteil auf die nationale Gesetzgebung in der Sache?
Nina Diercks: Rein rechtlich betrachtet sind die Auswirkungen des EuGH-Urteils eher als gering einzustufen. Schließlich hatte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) bereits im Jahr 2010 hinsichtlich der deutschen Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung (ehem. §§ 113a und 113b TKG) geurteilt, dass die Vorratsdatenspeicherung nicht per se unzulässig, aber die konkrete gesetzliche Ausgestaltung ungenügend ist, damit ein ungerechtfertigter Eingriff durch die Vorratsdatenspeicherung in die Grundrechte der Bürger vorliege und deswegen die Normen verfassungswidrig seien. In Deutschland existiert damit seit fast vier Jahren keine Vorratsdatenspeicherung mehr. Der EuGH erkennt nun quasi selbiges hinsichtlich der EU-Richtlinie. Auch der EuGH erklärte nicht die grundsätzliche Unzulässigkeit der Vorratsdatenspeicherung. Er erklärte vielmehr die Richtlinie für ungültig, da sie nicht präzise genug ausgestaltet gewesen sei, also – wie Juristen sagen würden – die durch die Richtlinien aufkommenden Grundrechtseingriffe nicht hinreichend gerechtfertigt und verhältnismäßig im engeren Sinne gewesen seien.
Politisch wird die Gesetzgebung aber natürlich maßgeblich durch dieses Urteil beeinflusst. Bislang hieß es von Seiten der Regierung, dass vor einem neuen Entwurf zu einem Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung die Entscheidung des EuGH abgewartet werden solle. Nun ist das neue Urteil da… und schon konnte man heute auf Twitter lesen, dass die EU zunächst einmal neue Vorgaben machen solle. Deutschland beeinflusst natürlich auch die in der EU entstehenden Richtlinien. Insoweit ist das meines Erachtens am Ende des Tages nur ein Schritt, um die in der Bevölkerung ungeliebte VDS nun nicht sofort selbst wieder auf das Tableau bringen zu müssen – auch wenn diese meiner Meinung nach früher oder später sicher wieder auf der Agenda stehen wird.
politik-digital.de: Wird trotz des Urteils eine Umsetzung der VDS durch die Große Koalition in Deutschland möglich?
Nina Diercks: Ja. Weder EuGH noch BVerfG haben einen grundsätzlichen und unlösbaren Konflikt mit den Grundrechten gesehen. Beide Gerichte erkennen an, dass es gute Gründe für eine VDS und die damit verbundenen Grundrechtseingriffe geben kann. Derartige Eingriffe müssen aber eben gerechtfertigt sein. Gerechtfertigt sind sie aber nur, wenn sie aufgrund eines Gesetzes erfolgen, das dem sog. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügt. Ein solches Gesetz bzw. eine solche Richtlinie zu entwerfen, das wäre dann die große Hürde, die es zu nehmen gälte.
Und ich bin mir im Übrigen sicher, wenn sich die Aufregung gelegt hat, dann wird es neue Entwürfe zur Regelung der Vorratsdatenspeicherung geben. Erst auf EU-Ebene und dann auf nationaler Ebene.
politik-digital.de: Wenn die VDS trotzdem umgesetzt werden sollte: Wie sollte die Speicherung dann Ihrer Ansicht nach geregelt werden? Was halten Sie von einem Quick-Freeze-Verfahren, bei dem die Dauer der Speicherung signifikant abgekürzt wird?
Nina Diercks: Das ist eine schwierige Frage, auf die es keine einfache Antwort gibt. Natürlich klingt Quick-Freeze toll und verhältnismäßig. Das Problem ist aber, dass ein solches Quick-Freeze zu spät sein kann. Gerade bei Delikten wie dem Identitäts-Diebstahl, das massive Auswirkungen auf die betroffene Person, also den Rechtsverletzten haben kann, kann es sein, dass eine Datenspeicherung in dem Moment, in dem das Delikt realisiert wird schon zu spät ist. Denn zu diesem Zeitpunkt muss nicht mehr zwingend eine zu speichernde und nachzuverfolgende Verbindung gegeben sein. Und die „alten“ Daten (von vor zwei Tagen oder Wochen) sind dann bereits gelöscht. Ich erlebe solche Fälle in der Praxis. Die Betroffenen stehen dann vollkommen rechtsschutzlos da. Ein Ergebnis, dass auch nicht richtig sein kann. Allerdings sind diese Delikte in der öffentlichen Meinung noch nicht sonderlich bekannt.
Lange Rede, kurzer Sinn: Nein, ein Quick-Freeze-Verfahren ist meines Erachtens nicht sinnvoll. Wie lang der Zeitraum der Vorratsdatenspeicherung sein sollte, tja, ich finde sechs Monate gar nicht so schlecht. Aber es ist eine reine Bauchfrage und sehr schwierig zu beantworten. Das BVerfG hatte jedenfalls grundsätzlich nichts an den 6 Monaten auszusetzen. Da befinde ich mich dann wohl in ganz guter Gesellschaft (lächelt).
politik-digital.de: Im Hinblick auf die gesamteuropäische Kommunikation, etwa Verbindungsdaten von Deutschland nach Frankreich: Bedarf es einer Regulierung des Themas auf EU-Ebene und wenn ja, wieso?
Nina Diercks: Schön wäre das. Und das nicht, weil dann europaweit „geschnüffelt“ werden könnte, sondern weil es europaweit ein einheitliches Schutzniveau gäbe – jedenfalls in der besten aller Welten. Ebenso schön wäre eine globale Regelung für die Eingriffe in die digitalen Grundrechte der Bürger anderer souveräner Staaten. Das Stichwort lautet hier NSA & Co. Also, anders ausgedrückt, wenn man sich auf so etwas wie die UN-Charta des Internetrechts (die Idee stammt von Geesche Jost) einigen könnte. Aber da müssen wir wohl noch ein wenig träumen. Und viele kleine Schritte gehen, damit der Traum irgendwann wahr wird.
politik-digital.de: Und ihre ganz persönliche Meinung zu dem Thema?
Nina Diercks: Ich finde, ganz unabhängig, wie man nun zur Vorratsdatenspeicherung stehen und ob man einen Sinn in ihr erkennen mag: Das heutige Urteil ist ein Grund zur Freude. Denn es zeigt, dass die Gewaltenteilung funktioniert. Und das ist etwas, was nicht hoch genug geschätzt werden kann.
Weiterführende Links:
Urteil des EuGH über die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung: bit.ly/1hbeaZ1
EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung (2006/24/EG v. 15. 3. 2006): bit.ly/1lIbmmB
Bilder: oben: gulli.com; Portät: © Lisa Krechting
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Den Optimismus, dass eine grundrechtskonforme Ausgestaltung der Vorratsdatenspeicherung möglich ist, halte ich angesichts der Randnummer 57 (sowie ggf 58) des Urteils für unbegründet.
Eine Aufzeichnung der Kommunikation von völlig unverdächtigen Personen in einem unbestimmten Gebiet noch vor einer konkreten Straftat ist mit dem Urteil des EuGH meiner Ansicht nach nicht vereinbar.