Vor einer Woche schien die Welt kurz vor dem Untergang zu stehen: Ein Abgesang auf die aktuellen Strategien der Netzgemeinde jagte den nächsten. In dieser Woche kehrt etwas Ruhe ein: Es sei keine netzpolitische Ära, die ihr Ende gefunden habe, sondern lediglich eine frühe Entwicklungsphase, schreibt beispielsweise Wolfgang Michal. Und Alex Rühle, Autor bei der Süddeutschen Zeitung, stellt die These der „digitalen Filterbubble“ infrage. Währenddessen versuchen sich andere an einer Analyse der deutschen Gesellschaft: Unsere Ablehnung von Big Data sei ein „romantischer Verteidigungsreflex des in Bedrängnis geratenen abendländischen Denkens“, war diese Woche in der Zeit zu lesen. Das und mehr in der digitalen Presseschau.
Video der Woche
“Wird jetzt alles gut in der Netzpolitik?” Darüber sprechen Thilo Jung und Markus Beckedahl von netzpolitik.org in einer weiteren Folge von “Jung & Naiv”.
Avantgarde.
Wie Wahrnehmung des Internets hat sich zum Negativen verändert – und die Netzgemeinde ist mindestens desillusioniert, wenn nicht gar „zu Tode betrübt“: Vergangene Woche schrieb der Blogger Michael Seemann vom „Ende einer netzpolitischen Ära“ [wir berichteten]. Wolfgang Michal reagiert nun auf Seemanns Blogpost und warnt die Netzszene vor einer Überschätzung der eigenen Bedeutung. Nicht eine Ära sei es, die zu Ende gegangen sei, sondern lediglich eine frühe Entwicklungsphase. Der Carta-Mitherausgeber Michal zählt dazu einige Probleme der Netzgemeinde auf: Sie habe sich von den lammfrommen „Alt-Medien“ abhängig gemacht und damit die Chance verpasst, sich an andere Akteure, wie Gewerkschaften oder Kreative, zu wenden. Außerdem würden die meisten politischen Blogger der „Medien- und Talkshow-Abhängigkeit“ erliegen. Gleichzeitig hätte die Netzszene (bisher) die Chance vertan, eine verständliche und nicht-elitäre Sprache zu entwickeln. Die „expertografische Lobbyarbeit“ der Netzgemeinde sei die falsche Strategie für eine solch junge Bewegung. Und last but not least: Den Netzbewegten fehle das Zeug zum „political animal“ – sie seien eher Medienmenschen als Gestalter von Politik. All das aber sei kein Grund für Untergangsszenarien, meint Michael. „Alles was heute unter Netzpolitik läuft, ist (…) nur Vorläuferform, Frühform und Avantgarde, (…) ein Vorprogramm für größere politische Organisationen“. Erst wenn die digitale Revolution die Gesellschaft wirklich durchdrungen hätte, könne der Einfluss der Netzgemeinde steigen. Immerhin: „Im Vorteil ist, wer sich frühzeitig damit auseinandersetzt.“
Wundertüte.
„Lassen wir (…) die Piraten in ihrem Elend vorerst alleine und gucken tatsächlich mal bei Twitter rein“. Auch Alex Rühle von der Süddeutschen Zeitung setzt sich mit der trauernden Netzgemeinde auseinander. Und stellt fest: Eigentlich sei Twitter gar nicht die digitale „Filterbubble“, als die es heute wahrgenommen wird. Vielmehr sei jeder Tweet ein kleines Fenster zur großen Welt. Jeder dritte Tweet in Deutschland enthalte einen Link zu einem Online-Angebot redaktioneller Medien, führe also „als Wegweiser in andere Texte hinein“. Twitter sei eine Art Wundertüte, in der man Aufsätze, Diskurse, Dinge und Autoren finden können, von denen man noch nie gehört habe. Höchst spannend, spaßig und relevant also. Und trotzdem: Die Eignung von Twitter für den Wahlkampf stellt auch Rühle in Frage.
Romantischer Verteidungsreflex
„Schwache Gesellschaften schrecken vor starken Technologien zurück“. Genauer: „Datenabwehr ist ein romantischer Verteidigungsreflex des in Bedrängnis geratenen abendländischen Denkens, das sich lieber in Obskurantismus flüchtet, als sich dem Maschinengehirn anzuvertrauen.“ Alexander Pschera holt auf Zeit Online mit der ganz großen Keule aus: Das Sammeln von Daten sei keine Erfindung von Geheimdiensten, sondern „das Prinzip der modernen Naturwissenschaften und damit die Logik des humanitären Fortschritts“. Big Data würde Leben verlängern – man denke an big pharmaceutical data – Katastrophen verhindern und Arbeitsplätze schaffen. Für die allgemein vorherrschende Skepsis in Deutschland gegenüber der Sammlung und Auswertung von Daten gebe es zwei Gründe: Zum einen stehe die deutsche Gesellschaft nach wie vor unter dem Schock der nationalsozialistischen „Technokratie“. Datenabwehr gelte in Deutschland noch immer als Faschismusabwehr. Zum anderen würde das maschinelle Sammeln von Daten unserem „Verständnis von Erkennen und Verstehen“ widersprechen. Die Gesellschaft wolle die „subjektive Kontrolle über den Erkenntnisprozess“ behalten. Allerdings sei die Welt mittlerweile zu komplex, um diesem „idealistischen, maschinenfreien Erkenntniskonzept“ weiterhin anzuhängen. Der Mensch müsse wieder zum Fragensteller werden. Denn auf gute Fragen würden die Daten auch gute Antworten liefern.
Unsere Lehnsherren
Nicht Besonnenheit, sondern Aufbegehren, fordert dagegen Bruce Schneier, einer der bekanntesten US-amerikanischen Experten für Computersicherheit und Kryptographie, auf der Website der Bundeszentrale für politische Bildung. Im Internet herrsche das Mittelalter. Skype, Apple, LinkedIn, Twitter: All das seien keine bloßen Unternehmen im traditionellen Sinn, sondern unsere Lehnsherren – und wir ihre Knechte. Die Machtlage in der IT habe sich zugunsten von Cloud-Diensten und in sich geschlossenen Online-Plattformen verschoben. Das würde vor allem die Sicherheit im Internet gefährden. Das „neue“ Sicherheitsmodell bestehe darin, dass die User ihre Sicherheit an andere delegieren, im Vertrauen darauf, dass sie uns vor Missbrauch schützen. „Und dieser Jemand sagt uns nichts über die Details“. Wir Bürger müssten „alle Macht, die wir als Individuum noch haben, nutzen, um mit unseren Lehnsherren zu verhandeln“. Auf lange Sicht aber sei ein Eingreifen der Regierungen nicht zu vermeiden, um die mit vielen Rechten ausgestatteten „Lehnsherren“ zu mehr Verantwortung zu zwingen.