Wahlkampf_WG_Torsten_Schäfer_GümbelAlle reden von der Bundestagswahl, der Bedeutung sozialer Medien sowie dem Haustürenwahlkampf. Im hessischen Landtagswahlkampf, der sich parallel dazu vollzieht, spielen hingegen andere Innovationen bei der Kampagnenführung eine Rolle: Die Wahlkampf-WG der Hessen-SPD als Experiment mit Freiwilligen-Engagement.
Wir kennen die Szene aus Filmen über US-Wahlkämpfe: In einem angemieteten Ladenlokal sitzen Freiwillige und unterstüzen die Kampagne eines Kandidaten für ein politisches Amt durch diverse Dienstleistungen. Sie opfern oft ihren Urlaub, um unter der Leitung eines professionellen Campaigners in Vollzeit für die Wahl des Kandidaten zu werben. Damit kompensieren sie den Mangel an einer organisatorischer Infrastruktur, die in anderen politischen Systemen von Parteien, ihren Funktionären und Mitgliedern gebildet wird. Trotzdem gibt es auch in Deutschland mit der Auslagerung der Wahlkampfleitung aus der Parteizentrale wie bei der sozialdemokratischen “Kampa” zur Bundestagswahl 1998 Ansätze zur Adaption dieses Modells. Diese wurden zum Teil auch wieder revidiert –  Amerikanisierung fungiert in Publizistik, Parteien und Politikwissenschaft häufig als Schimpfwort zur Charakerisierung politisch-organisatorischer Fehlentwicklungen. Doch spätestens mit Obama setzte hier ein Umdenken ein.
Es ist kein Zufall, dass die Kampagne des hessischen Sozialdemokraten Thorsten Schäfer-Gümbel zur letzten Landtagswahl in Hessen von dieser Konstellation geprägt ist und er einigen gar als “Hessen-Obama” galt. Nach dem Debakel um seine Vorgängerin Ypsilanti (Wortbruch, Die Vier,…) war die Ressource “Hessen-SPD” in einem kurzen Winter-Wahlkampf nur bedingt mobilisierbar und der Kandidat weitgehend unbekannt. Er adressierte dieses Defizit unter anderen durch Online-Campaigning und etablierte die Polit-Marke “TSG”: Eine Komponente seiner Kampagne, mit der es ihm gelang, ein unabwendbar scheinendes elektorales Desaster in einen Achtungserfolg zu verwandeln.
In diesem Jahr reden nun alle von der Bundestagswahl, der (wahlweise großen oder geringen) Bedeutung sozialer Medien sowie dem Haustürenwahlkampf als wichtigstem US-Import in Sachen Kampagnenführung. Und was macht die Hessen-SPD, die am 22. September eine Landtagswahl gewinnen und mit Schäfer-Gümbel den Ministerpräsidenten stellen will? Natürlich ist sie online präsent und partizipiert an der Tür-zu-Tür-Kampagne der Bundespartei (die mit #tzt übrigens einen der wenigen bislang funktionierenden Hashtags hervorgebracht hat). Und sie hat eine Wahlkampf-WG.
Mit der Wahlkampf-WG knüpft die Hessen-SPD an ein Format der politischen Konkurrenz aus dem letzten Landtagswahlkampf an. Das Webcamp09 war als Internet-Wahlkampfzentrale der hessischen CDU angetreten, um mit jüngeren Freiwilligen die Kampagne von Ronad Koch zu unterstüzen. Gegenspieler des Webcamp war Oliver Zeisberger, der mit seiner Agentur für die Online-Kommunikation diverser sozialdemokratische Kampagnen verantwortlich zeichnet (Zur Vorstellung sowohl des Webcamp als auch des Online-Campaigning der Hessen-SPD siehe die Video-Dokumentation der betreffenden Session beim PolitCamp 2009). Nun ist Zeisberger Initiator sowie Mentor der Wahlkampf-WG. Diese besteht aus um die zehn Frauen und Männern im Alter zwischen 20 und 30 Jahren, die sich mit einem Casting für den Einzug in die WG respektive ein Praktikum qualifiziert haben. Dabei kommen nicht alle aus Hessen, und nicht alle haben ein Parteibuch. Was sie eint ist das Interesse an einem Regierungswechsel sowie die Begeisterung für die Person des Kandidaten. Ihn unterstützen sie mit ihrer Tätigkeit: Sie begleiten TSG bei Wahlkampfterminen und dokumentieren diese digital. Ihre Inhalte gehen in diverse Kanäle ein, insbesondere in die Profile, die von Partei und Kandidat in sozialen Netzwerken unterhalten werden. Dazu nutzen sie die Infrastruktur der Landesgeschäftsstelle der SPD, in der die WG einen veritablen War Room unterhält. Candidate Journalism als Kampagnen-Komponente ist eine weitere Lektion, die von Obama gelernt wurde.
Ihr eigene Rolle haben die WG-Bewohner zu Beginn ihres Engagments noch zurückhaltend definiert: Erste Anzeichen für eine Existenz der Wahlkampf-WG lieferte sie mit eigenen Profilen bei Facebook und Twitter – ohne dass für externe Beobachter die Angelegenheit dadurch klarer geworden wäre. Im Gegenteil wurde durch das Profilbild die Anonymität des Projekts zunächst weiter kultiviert. Inzwischen haben sich die WG-Mitglieder in einem Clip vorgestellt. Doch die Bedeutung des Projekts liegt nicht  nur im Bereich der Kampagnenkommunikation. Oliver Schopp-Steinborn, der für die Online-Kommunikation der hessischen SPD verantwortlich ist, erkennt darin einen Beitrag zur Modernisierung der Mitgliederparteien, der einem Wandel der “Engagment-Strukturen” Rechnung trage. Insofern ist dem Projekt unabhängig von Wahlausgang ein Erfolg zu wünschen, der die Öffnung der Parteien für vielfältige Formen der Mitarbeit befördert.
Zur Bundestagswahl verstärkt Dr. Erik Meyer das Team von politik-digital.de und hat Beiträge für das bpb-Wahlblog verfasst.
Bilder: Wahlkampf-WG, Oliver Zeisberger
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