Mit den Parlamentswahlen am 27. April hat sich der Wind in Island gedreht. Mit dem Regierungswechsel endet auch eines der größten Demokratie-Experimente Europas: Alle Isländer waren aufgefordert, sich mithilfe des Internets an der Gestaltung einer neuen Verfassung zu beteiligen. Wie konnte dieses Projekt trotz zweijähriger Laufzeit und der aktiven Beteiligung von Hunderten Isländern dennoch derartig scheitern?
Nicht nur der geplante Beitritt zur EU und die strenge Sparpolitik der bislang regierenden Sozialdemokraten und Linksgrünen werden an dem neuen Regierungsbündnis von konservativer Unabhängigkeitspartei und liberaler Fortschrittspartei scheitern. Die lange geforderte Überarbeitung der alten Verfassung aus dem Jahr 1944 war 2009 von der Regierung unter Leitung von Jóhanna Sigurdardóttir angepackt worden. Sie einigte sich auf ein Verfahren, das die Bürger Islands in die Planung mit einbeziehen sollte. So wurden zunächst Ideen gesammelt und am 6. November 2010 von 950 per Zufallsprinzip ausgewählten Isländern diskutiert. Der daraus entstandene 700 Seiten umfassende Report wurde nicht an gestandene Parlamentarier weitergeleitet, sondern in die Hände des neu geschaffenen Verfassungsrates (stjórnlagaráð) gelegt. Dieser setzte sich aus 25 Bürgern zusammen, die sich in einer landesweiten Wahl gegen 497 Kandidaten durchgesetzt hatten. Die einzelnen Etappen des Arbeitsprozesses waren allen Isländern online zugänglich, die sich mittels Facebook auch daran beteiligen und Kommentare abgeben konnten. Im Oktober 2012 wurden sechs Eckpunkte der Verfassung den Isländern in einem Referendum zur Abstimmung vorgelegt und mit zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen bestätigt (politik-digital berichtete).
Das Referendum ist jedoch nicht entscheidend. Um in Kraft treten zu können, müssten zunächst einmal zwei Drittel der Parlamentsabgeordneten für den Verfassungsentwurf stimmen. Die Konservativen hatten jedoch schon während des Planungsprozesses Kritik an dem Entwurf geäußert. Unwahrscheinlich, dass sie und ihr Bündnispartner nun, nachdem sie an die Macht gekommen sind, überraschend für die Verfassungsreform stimmen werden. Schließlich ist der Verfassungsentwurf eher links geprägt, beispielsweise in dem Punkt über die Verstaatlichung von Islands natürlichen Ressourcen. Dennoch: Der Regierungswechsel ist nicht allein für das Scheitern der Verfassungsreform verantwortlich. Er markiert eher den Schlusspunkt einer Entwicklung, die sich bereits am 28. März abgezeichnet hatte.
An jenem Gründonnerstag wurde in einer späten Parlamentssitzung um zwei Uhr nachts über die neue Verfassung entschieden. Das Ergebnis scheint ein wenig befremdlich: Der Verfassungsentwurf wurde weder angenommen noch abgelehnt. Stattdessen wurde mit einer minimalen Mehrheit von 25 zu 23 Stimmen beschlossen, das gesamte Verfahren der Verfassungsänderung zu reformieren. Gemäß dem bis dato gültigen Verfahren benötigte eine Änderung mindestens 51 Prozent der Stimmen im Parlament, und das sowohl vor als auch nach einer Neuwahl. Das neue Verfahren hingegen verlangt nun eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament sowie die Durchführung eines Referendums, bei dem mindestens 51 Prozent der abgegeben Stimmen und mindestens 40 Prozent der Wahlberechtigten für die Verfassungsänderung stimmen müssen.
Diese Auflage stellt eine hohe Hürde dar, hatten an dem im Oktober abgehaltene Referendum doch nur 48,9 Prozent der Wahlberechtigten teilgenommen. Warum sich die sozialdemokratische Regierung auf diese Verfahrensänderung eingelassen hat, ist nicht nachvollziehbar. Ein Mitglied des Verfassungsrates äußerte große Enttäuschung über „diese faule Verfassungsänderung“. Möglicherweise wurde das Parlament durch die Kritik von Seiten der EU entmutigt. Die sogenannte Venedig-Kommission der EU hatte am 11. März dieses Jahres, also zwei Wochen vor der rätselhaften Abstimmung im Parlament, einen Bericht über den Verfassungsentwurf vorgelegt. In ihrer Zusammenfassung warnte die Kommission vor politischer Blockade und sogar Instabilität, sollte der Entwurf tatsächlich realisiert werden. Zu kompliziert seien die Regeln für die Abhaltung von Volksentscheiden und zu unklar die Aufteilung der Kompetenzen zwischen Parlament, Präsident und Regierung. Zudem seien die Bestimmungen über den Schutz der natürlichen Ressourcen zu vage und weitgefasst.
Ob diese Kritik wirklich ausschlaggebend für die Entscheidung des Parlaments war, ist bisher nur eine Vermutung. Ob sich mit dem Scheitern der Reform EU-Kommissare und politische Eliten gegen „das Volk“ durchgesetzt haben, oder ob die Mehrheit der Isländer ihr demokratisches Recht gegen eine Minderheit von Netzaktiven in Anspruch genommen hat, ist schwer zu sagen. Fakt aber ist, dass die kontinuierliche Arbeit von Hunderten Bürgern mit diesem Projekt versandet ist. Ihre Ideen und ihr Engagement werden nun doch nicht in die Politik ihres Landes einfließen. Und das ist mindestens bedauerlich.
Bild: poptech (CC BY-NC 2.0)