Erst in der vergangenen Woche sprach sich der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel in der Wochenzeitung „Das Parlament“ für „mehr Bürgerbeteiligung bei politischen Entscheidungen“ aus. Die CDU fordert jüngst gar dazu auf, im Netz am Regierungsprogramm mitzuschreiben. Eine unübersehbare Tendenz in Richtung mehr und zudem online organisierte Bürgerbeteiligung prägt die deutsche Politiklandschaft. Wie gehaltvoll ist dieser noch junge „Trend“ zur politischen E-Partizipation?
Seitdem politische Beteiligung auch im Internet stattfinden kann, ergeben sich neben der Teilnahme an direktdemokratischen Verfahren wie Volksbegehren oder Volksentscheiden diverse weitere Partizipationsmöglichkeiten. Umgesetzt werden diese häufig schon in Kommunen und Ländern in Form von Projekten wie der Bürgerkonsultationsplattform BEKO-Baden-Württemberg oder der Liquid-Democracy Plattform LiquidFriesland, die sogar die Möglichkeit der Abstimmung über Vorhaben eines ganzen Landkreises bietet. Auf Bundesebene setzen die etablierten Parteien vor allem auf die „Konsultation“ und „Befragung“ der Bürger,  im Rahmen von sogenannten Bürgerdialogen. So begann die SPD bereits 2012 den Bürgern in Deutschland die Frage zu stellen: „Was muss in Deutschland besser werden?“. Die CDU fordert mit der Aktion „Was mir am Herzen liegt“ derzeit dazu auf, einen „Beitrag zum Regierungsprogramm“ zu leisten und erntet mit dem intransparenten Verfahren den Vorwurf, nicht mehr als eine Imagekampagne zu sein und keine „echte Beteiligung“ zu bieten. Auch die Partei Die Linke startete bereits 2011 eine elektronische Programmdebatte auf der Basis der Beteiligungs-Software Adhocracy.
Wie sinnvoll sind solche Online-Beteiligungsplattformen? Handelt es sich um einen kurzfristigen Trend, der sich in Partizipationsplacebos und ausschließlich netzaffinen Nutzergruppen verliert? Oder steckt in solchen Foren eine Wunderwaffe gegen Politikverdrossenheit und andere Krankheiten unseres politischen Systems?
politik-digital.de hat bei Stephan Eisel, Autor des Buchs „Internet und Demokratie“ und dem Sozial- und Medienpädagogen Jürgen Ertelt, Koordinator im Jugendbeteiligungs-Projekt „youthpart“, nachgefragt und beide um eine Einschätzung gebeten. Für Jürgen Ertelt ist Online-Beteiligung Teil einer sich verändernden politischen Öffentlichkeit sowie Schlüssel für mehr engagierte Beteiligung in der Gesellschaft. Stephan Eisel hingegen warnt vor einer Überschätzung der partizipativen Möglichkeiten des Internets und einer „Technikfaszination ohne Demokratiekompetenz“.

Pro-Standpunkt von Jürgen Ertelt

E-Partizipation ist der Schlüssel für mehr engagierte Beteiligung in der Gesellschaft.So digital wie es manchmal scheint ist unsere Welt noch nicht. Vieles ist für viele Menschen ungewöhnlich neu und anders. Aber die Nutzung neuer Technologien wird einfacher und selbstverständlicher und greift tief in den Alltag ein.
Die veränderten Kommunikationswege lassen Schwarmbewegungen entstehen, und Informationen verbreiten sich manchmal wie ein Virus. Die neuen kommunikativen Optionen im Netz können Verstärker für politische Veränderungen werden. Die Frage ist: Können Online-Beteiligungsverfahren Menschen in ihrem erweiterten Lebensraum, dem Internet, besser ansprechen? Welche demokratischen Weiterentwicklungen könnten aus einer “liquid democracy” entstehen? Ist das Internet der geeignete Platz, um überparteilich Herausforderungen aufzulösen?
Noch fehlen uns aussagekräftige, qualitative Forschungsergebnisse, um eine eindeutige Begründung für eine spürbare Veränderung durch digitale Beteiligung valide ableiten zu können. Quantitative Erhebungen noch mangelnder Mitwirkung an Angeboten politischer Online-Beteiligung geben uns bisher nur Hinweise auf falsch angelegte Verfahren und liefern damit die Begründung für mehr Qualitätssicherung in der E-Partizipation.
Wir sind noch am Anfang eines weiten Experimentierfeldes mit dem Potenzial sozialer Medien und der Mehrweg-Kommunikation des Internets für die Demokratieentwicklung. Wir brauchen mehr Visionen, Ideen und Konzepte, die mehr Chancen politischer Teilhabe in einer durchlässigen On/Offline-Welt zulassen. Schon jetzt gibt es sichtbare Eckpfeiler veränderter politischer Öffentlichkeit: Transparenz der Verfahren, zugängliche Quelldaten von Informationen (Open Data) und Öffnung der Verwaltungen zur Mitwirkung (Open Government) sind unumkehrbare Entwicklungen.
Wir brauchen eine untrennbare Einbindung von digitalen Beteiligungswegen auf allen politischen Ebenen. Diese müssen nachvollziehbar gestuft und nach Kriterien der Wirksamkeit qualifiziert sein. Beteiligung ist Teil des Bildungsprozesses und nicht primär eine Frage der Software. Wir müssen vom Kindergarten an eine Beteiligungskultur entwickeln, die konstruktive Teilhabe an der Gestaltung unserer Lebenswelt als staatsbürgerliches Ziel erfüllt.
Anstrengend wird es in einer Gesellschaft der immanenten Partizipation werden, Benachteiligungen auszugleichen, Lautstärken abzufangen und bewusste Delegationen zu ermöglichen. Das sind allerdings auch heute schon analoge Probleme, mit denen wir uns beschäftigen müssen. Wichtig ist weiterhin die Rolle von “Erklärbären” und anderen Übersetzern, die Inhalte barrierefrei und für jedermann verständlich machen.
Für eine erfolgreiche Demokratie 2.0 brauchen wir einen verlässlichen rechtlichen Rahmen für Verfahren der Online-Bürgerbeteiligung sowie unabhängige Plattformen für die E-Partizipation.
Immer braucht es einen politischen Willen zur Partizipation, eine erfüllbare Wirkung und einen verhandelbaren Grund für die Meinungsfindungs- und Entscheidungsabläufe. Die Verteilung von Partizipationsplacebos bei unumgänglicher Faktenlage ist einer wachsenden Beteiligungskultur nicht förderlich. Negatives Beispiel sind hier u.a. Bürgerhaushalte, die nicht viel mehr als Streichlisten bereithalten. Problematisch sind auch Beteiligungsangebote, die im Kern nur Teil einer Kampagne sind und den gewachsenen Anspruch auf Einflussnahme zu einer plakativen Werbung für eine vermeintliche Öffnung degradieren. Hier gehen aktuell die Alt-Parteien in eine Offensive, die kritisch betrachtet werden sollte, um E-Partizipation nicht einer Inflation auszusetzen und demokratische Prozesse nicht zu entwerten.
Wunsch und Ziel bleiben den Widrigkeiten im Fortgang der Beteiligungsevolution zum Trotz: Partizipation sollte immer der “Normalfall” sein.

Contra-Standpunkt von Stephan Eisel

Der Hype um Online-Bürgerbeteiligung ist wie ein potemkinsches Dorf: Wussten Sie, dass am in den Medien vielfach als vorbildlich gefeierten Beteiligungsprojekt „LiquidFriesland“ weniger als 50 Bürger teilnehmen? Das Internet ist kein Erlösungsmedium, das per se demokratischen Ansprüchen genügt.Technikfaszination ohne Demokratiekompetenz führt in die Sackgasse. Wer die Chancen des Internets für Bürgerbeteiligung sinnvoll nutzen will, muss deshalb auch seine Grenzen kennen:
Erstens: Die begrenzte Reichweite des Internets verbietet eine Dominanz der digitalen Welt. Das Internet bietet keinen allgemeinen, unmittelbaren und gleichen Zugang zur politischen Arena: Insgesamt nutzen 17 Millionen Bürger über 14 Jahre in Deutschland das Internet überhaupt nicht. „Nur 38 Prozent der Bürgerinnen und Bürger sind bereits in der digitalen Alltagswelt angekommen.“ ((N)onliner-Atlas 2012)
Zweitens: Das Internet schafft strukturelle Ungleichheiten bei der politischen Teilhabe. Die eigentliche digitale Spaltung verläuft zwischen denen, für die beim Internetzugang Arbeits- und Freizeit keinen Unterschied macht, und denen, die im begrenzten Zeitbudget ihrer Freizeit die Wichtigkeit der Nutzung des Internet für sich abwägen müssen. Das Internet privilegiert die „Zeitreichen“.
Drittens: Das Internet weckt kein neues Politikinteresse. Dass sich politikaffine Menschen im Internet leichter begegnen und vernetzen können, sollte diese nicht zur Fehlannahme verleiten, es gebe durch das Internet ein höheres Politikinteresse. Diese „Mobilisierungsthese“ ist längst widerlegt.
Viertens: Das Internet zerfällt in fragmentierte Echogesellschaften. Ein gemeinsamer Ort reflektierter Meinungsbildung geht bei abgeschotteter Individualkommunikation ebenso verloren wie bei der völligen Entgrenzung des Kommunikationsraumes.
Fünftens: Der schnelle Klick als gültige Internetwährung ist kein Ausweis von Demokratiesteigerung. Dieser Geschwindigkeits- druck verweigert Entscheidungen ihre Reifezeit, weil sachliche Reflektion, integrierende Kommunikation und entscheidungs-bezogene Gelassenheit selten eine Chance haben.
Sechstens: Transparent und seriös ist etwas nicht schon allein deswegen, weil es im Netz steht. Eine verbreitete naive Netzgläubigkeit setzt schon die Verfügbarkeit von Daten im Internet mit deren Seriosität gleich und verdrängt die Frage nach dem tatsächlichen Informationsgehalt.
Siebtens: Das Internet scheitert als Abstimmungsforum an extrem niedrigen Beteiligungen. An Online-Bürgerhaushalten in Kommunen beteiligen sich weniger Bürger, als Parteien und Interessengruppen dort Mitglieder haben. Selbst bei den internetaffinen Piraten haben sich an der letzten Online-Abstimmung nur 16 Prozent der Mitglieder beteiligt.
Als Diskussionsforum bereichert das Internet mit seiner Ausweitung der Informations- und Meinungsfreiheit die Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung, als repräsentatives Entscheidungsforum eignet es sich nicht. Online-Bürgerbeteiligung ist ein Mosaikstein und keine Wunderwaffe.

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