Panoramabild IslandNoch nicht einmal rechtskräftig, wird die neue Verfassung Islands bereits als Meilenstein der Bürgerbeteiligung gefeiert. Aber ob sie nun im nächsten Jahr von der neuen Regierung bestätigt wird oder nicht: Der Entstehungsprozess der Verfassung gewährt in jedem Fall einen Ausblick auf die Zukunft der Demokratie.

Thüringen, 1994: Am 16. Oktober spricht sich die Mehrheit der Bürger in einem Referendum für eine neue Landesverfassung aus, die damit die alte Verfassung aus DDR-Zeiten ersetzt. Dem Referendum vorausgegangen war die Veröffentlichung des Verfassungsentwurfes als Zeitungsbeilage in einer Auflage von 800.000 Stück, woraufhin die Bürger dem Landtag ihre Meinung schicken konnten. 21 Jahre später läuft der Prozess einer Verfassungsgebung zwar noch ganz ähnlich ab, die dazu eingesetzten Medien haben sich aber grundsätzlich verändert. Statt Zeitung und Post ist es längst das Internet, das zur Beteiligung der Bürger an politischen Abläufen genutzt wird.

In Island war es gerade mal wieder soweit: Nach jahrzehntelangem Ringen um eine Reform der 1944 eingesetzten Verfassung machte sich die 2009 frisch gewählte Regierung an die Arbeit. Fest stand: Die Bürger sollten über ihre neue Verfassung von Anfang an selbst entscheiden. So wurden zunächst Ideen gesammelt und am 6. November 2010 von 950 per Zufallsprinzip ausgewählten Isländern diskutiert. Der daraus entstandene 700 Seiten umfassende Report wurde jedoch nicht an gestandene Parlamentarier weitergeleitet, sondern in die Hände des neu geschaffenen Verfassungsrates (stjórnlagaráð) gelegt. Dieser setzte sich aus 25 Bürgern zusammen, die sich in einer landesweiten Wahl gegen 497 Kandidaten durchgesetzt hatten. Als nächstes kam das Internet ins Spiel: „Wir wollten Transparenz und Rechenschaftspflicht mit unseren Vorschlägen fördern und wollten diese Ideale in unseren Arbeitsprozess integrieren“, erklärt Silja Bára Ómarsdóttir, Mitglied des isländischen Verfassungsrates, gegenüber politik-digital.de. „Deshalb haben wir versucht, den Menschen unsere Arbeit über verschiedene Medien zugänglich zu machen.“

Kollaborative Verfassung: Mitmachen erwünscht!

Das dazu am stärksten genutzte Medium war das Internet. Auf der Seite des Verfassungsrates war es möglich, die öffentlichen Sitzungen des Rates zu jeder beliebigen Tageszeit zu verfolgen, was pro Sitzung 150 bis 450 Personen in Anspruch nahmen. Immerhin mehr Zuschauer, als sich zu den Sitzungen selbst einfanden: Dort wurden nie mehr als 20 Besucher gezählt. Darüber hinaus waren alle Isländer eingeladen, sich auf der Internetseite regelmäßig über den aktuellen Stand des Verfassungsentwurfs zu informieren, der dort wöchentlich hochgeladen wurde. Und das können in Island auch fast alle Bürger: Was die Verbreitung von Internetzugängen angeht, liegt Island mit 88 Prozent “Onlinern” im internationalen Vergleich weit vorn. Wer in solch einem Land Informationen verbreiten will, kann sich getrost auf das Internet verlassen.

Aber das Netz bietet längst nicht mehr nur Informationen, sondern auch jede Menge Beteiligungsmöglichkeiten. Mittels eines Facebook-Profils konnte jeder Isländer den Verfassungsentwurf direkt im Entstehungsprozess kritisieren, ja die Verfassung quasi mitschreiben. Illugi Jökulsson, Mitglied des Verfassungsrates, bestätigt diesen Eindruck auf Nachfrage von politik-digital.de: “Genau genommen haben wir jedes Mal, wenn wir einen neuen [Verfassungs-]Artikel oder Gedanken über das Internet veröffentlichten, gespannt auf die Antwort der Öffentlichkeit gewartet.“ Und das nicht umsonst: Über 3.600 Kommentare wurden während der viermonatigen Planungszeit abgegeben, während per E-Mail nur 323 Vorschläge und Kommentare eingingen, und der Postweg überhaupt nicht genutzt wurde.

Die Weisheit der Crowd

Was das mit der Zukunft der Demokratie zu tun hat? Auch hierzulande herrscht große Unzufriedenheit mit dem parlamentarischen Regierungssystem, das kaum eine Feinjustierung der öffentlichen Mitbestimmung in laufenden Gesetzgebungsprozessen zu bieten scheint. Die Einflussmöglichkeiten in Form von Petitionen und Anschreiben an die eigenen Abgeordneten werden gemeinhin als gering eingeschätzt – sofern sie überhaupt bekannt sind.

Ist es also nur mehr eine Frage der Zeit, bis das Internet-Forum den Wahlkampfstand und das Online-Ranking die analoge Abstimmung ersetzt haben wird? In Island könnte das schon bald Wirklichkeit sein: „Auf die Weisheit der Crowd zu setzten“, resümiert die 35-jährige Anwältin Katrín Oddsdóttir, Mitglied des Verfassungsrates, „ist in meinen Augen das Beste am Verfassungsrat gewesen“.

Den Netzaktiven gehört die Politik von morgen. Ein älteres Mitglied des Verfassungsrates, der 70-jährige Þorkell Helgason, lobt die Facebook-Beteiligung zwar grundsätzlich und beschreibt sie als eine “moralische Stütze“, aber es sei „auch teilweise Unsinn“ darunter gewesen, „oder sagen wir höflicher: Nutzloses“, so der Mathematikprofessor gegenüber politik-digital.de.

Und noch etwas gibt zu denken: Als die Isländer am 20. Oktober 2012 über die Eckpunkte der Verfassung abstimmen konnten, machten nur 48,9 Prozent der Wahlberechtigten von ihrem Stimmrecht Gebrauch. Verglichen mit anderen Volksentscheiden, beispielsweise in der Schweiz, ist das ein durchschnittliches Ergebnis. Dennoch sollte man sich vor Augen halten, dass die letzte isländische Verfassung 1944 mit einer 98-prozentigen Wahlbeteiligung zustande kam; auch in Thüringen nahmen 1994 immerhin 70 Prozent der Stimmberechtigten am Volksentscheid über ihre neue Landesverfassung teil. Für gelungene Bürgerbeteiligung stellt das Internet eben weder die Erfindung des Rades noch der Weisheit letzten Schluss dar. Weil aber immer mehr Bereiche des gesellschaftlichen Lebens online gestaltet werden, wird die Politik nachziehen müssen. Den Netzaktiven gehört die Politik von morgen.