Nach dem Wahlkampf ist vor dem Wahlkampf: Während der US-Wahlkampf hinter uns liegt und von den Parteistrategen ausgewertet wird, rüsten sich die deutschen Parteien für die Bundestagswahl 2013. Bei der Wahlkampfplanung sollten die Parteien nicht nur auf die kurzfristige Mobilisierung ihrer Wähler setzen, sondern auch ihre Vorstellungen von der Zukunft unserer Gesellschaft in den Mittelpunkt ihrer Kampagnen stellen, meint unser Autor Johannes Hillje.
Anfang November war selbst hierzulande schon so mancher vom lang geführten US-Wahlkampf genervt und sehnte das Ende der global ausgestrahlten Medienschlacht zwischen Obama und Romney herbei. Doch die Verschnaufpause für die deutsche Wählerschaft fällt nur kurz aus, spätestens nach Weihnachten werden die Parteien langsam aber sicher in den “Kampagnenmodus” für die Bundestagswahl umschalten. Warum die Parteien alle vier Jahre so viel Zeit, Personal und Geld in den Wahlkampf investieren – ganz zu schweigen von Romneys and Obamas Budgets – ist mit dem zu erwartenden Einfluss der Kampagnen auf die Wählerentscheidung nicht zu erklären. In der Politik- und Kommunikationswissenschaft jedenfalls dominiert seit langem das ‘minimal effects model’, das von einer geringen Beeinflussung der Wählerentscheidung durch Wahlkampagnen ausgeht.
Zwei Umstände der kommenden Wahl könnten die Parteistrategen jedoch als analytische Ansatzpunkte nehmen, um die Chancen zu erhöhen, dass ihre Kampagnen nicht nur zur Mobilisierung der eigenen Basis und zur Mitteilung aller anderen, dass bald eine Bundestagswahl stattfinde, dienen:
Erstens, die “Vergrünung” der traditionell konservativ dominierten Politik in Baden-Württemberg und der Erfolg der Piraten zeigen, dass das Wählerverhalten noch volatiler geworden ist und Parteibindungen, die einst durch gesellschaftliche Konfliktlinien gefestigt waren, weiter abnehmen. Dass Gewerkschaftsmitglieder weitestgehend SPD wählen und Katholiken die CDU, Annahmen der sogenannten „Cleavage-Theorie”, ist damit als Erklärung für die minimalen Effekte von Kampagnen immer mehr entkräftet.
Zweitens, die noch laufende Legislaturperiode wurde bisher innen- und außenpolitisch von einer Reihe polarisierender Ereignisse begleitet: Stuttgart21, Bankenkrise und Occupy-Proteste, Fukushima und Energiewende, Europas Zukunft und vieles mehr. Wie bei Stuttgart21 und den Occupy-Protesten am deutlichsten zu beobachten war, wurden anhand eines Einzelfalls oder dem System an sich teils ideologisch aufgeladene Debatten über Aspekte der Gesellschaftsordnung geführt, die zwar vorübergehend gelöst aber keinesfalls gesamtgesellschaftlich zu Ende diskutiert wurden. Hier können die Parteien ansetzen.
Wie sieht das Merkel’sche oder Steinbrück’sche Gesellschaftsbild aus?
Diesen „großen Themen“ der letzten vier Jahre können Fragestellungen übergeordnet werden, die für die Zukunft unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens von hoher Bedeutung sind: Welche Rolle soll das Finanz- und Bankensystem in unserer Gesellschaft spielen? Was sind wir bereit zu tun, um unser Handeln umwelt- und klimaverträglicher zu machen? Wie können Bürger besser in Entscheidungsprozesse eingebunden werden? Natürlich arbeiten die Parteien in ihren Wahlprogrammen brav jedes Politikfeld mit inhaltlichen Vorschlägen ab. Was jedoch oftmals fehlt ist die Vermittlung einer größeren Vision davon, wie wir heute und in Zukunft in unserem Land und als Teil einer transnationalisierten Welt leben wollen. Es geht darum, dass die Parteien eine „grand narrative“ ihrer schwarzen, gelben, roten, grünen oder violetten Gesellschaft entwickeln und im Wahlkampf an die Bürger kommunizieren. Wie sieht es aus, das Merkel’sche, Steinbrück’sche oder Trittin-Göring-Eckardt’sche Gesellschaftsbild? Eine solche Gesellschaftsnarrative, die sich auf eine prägnante Wahlkampfbotschaft herunter brechen lässt, bildet dann den größeren Zusammenhang für die Programmatik der einzelnen Politikfelder.
Obama und Romney haben ihre Visionen („Amerikanische Sozialdemokratie“ vs „Amerikanischer Traum“) vor der Wahl deutlicher kommuniziert als ihre Politik in Wahrheit auseinander liegt. Dass der Bedarf nach einer Gesellschaftsnarrative ebenso unter den Deutschen vorhanden ist, hat auch Merkels Bürgerdialog gezeigt. Dort äußerten die Teilnehmer das Bedürfnis nach einer „Wir-Gesellschaft“, sprich einem Zusammenleben in Deutschland, das von Gemeinsinn und Solidarität geprägt ist. Auch die SPD hat schon bei ihrem Bürger-Dialog die Menschen zu gesellschaftlichen Kernthemen befragt. Für den Wahlkampf wird es darauf angekommen aus den Ergebnissen dieser Beteiligungsexperimente die richtigen Schlüsse zu ziehen, sprich die richtigen politischen Botschaften zu formulieren.
Bürger als Ressource in der Kampagnenplanung
Für eine Gesellschaftsvision die richtigen Begriffe zu finden ist strategisch insbesondere im Wahlkampf eine delikate Angelegenheit. Aber ob die Deutschen sich in erster Linie als „Wir-Gesellschaft“, „Chancen-Gesellschaft“ oder „Nachhaltigkeits-Gesellschaft“ definieren wollen, ließe sich durch Online-Tools schnell mit ihnen abklären. Das wäre eine konsequente Fortsetzung der Input-orientierten Bürgerdialoge. Denn solche Online-Beteiligungsformate haben nur dann einen demokratischen Wert, wenn sich der Bürger-Input auch im Partei-Output wiederfindet.
In den USA und Großbritannien waren vor einigen Jahren noch Fokusgruppen-Interviews das Lieblingsinstrument der Kampagnenplaner, um Bürger als Ressource in die Entwicklung von Wahlkampagnen einzubinden. 2008 und 2012 setzte Obama verstärkt auf Experimente unter nicht-künstlichen Bedingungen. Er präsentierte etwa verschiedenen Besuchern seiner Webseite unterschiedliche Versionen der Seite und wertete anschließend mit Google Website Optimizer aus, bei welcher Kombination von Slogans, Bildern und Buttons der Besuch aus seiner Sicht am erfolgreichsten war – gemessen an Indikatoren wie Aufenthaltsdauer, Newsletterbestellung, Spenden etc. Ob die Bedingungen künstlich oder nicht-künstlich sein sollen, die Instrumente stehen im Netz zur Verfügung, um die Bürger als wertvolle Informationsquelle für den Wahlkampf zu nutzen.
Über Weihnachten können sich die Wähler vom US-Wahlkampf und Spitzenkandidatengezerre in Deutschland erholen. Die Parteien sollten die Zeit nutzen, um die beste Narrative entwickeln, die der Gesellschaft als Ganzes eine Perspektive gibt. Ihre wichtigsten Ideengeber, die Bürger selbst, können sie im digitalen Zeitalter auch über die Feiertage erreichen.