Aus dem Anime "Welcome to the NHK"Über eine halbe Million Deutsche sind dem Internet verfallen. Zu diesem Ergebnis kam eine Studie im Auftrag der Bundesregierung. Im Kampf gegen die Onlinesucht hat Deutschland Nachholbedarf. An der Schwelle zwischen Gewohnheit und Krankheit sind die Möglichkeiten noch längst nicht ausgeschöpft.

Nahezu täglich benutzen die Deutschen ihren Computer. Ob beruflich oder privat, das Medium Internet ist dabei seit langem nicht mehr wegzudenken. Allerdings sind darunter etwa 560.000 Menschen, die ihren Internetkonsum nicht mehr eigenständig steuern können und deshalb als mediensüchtig gelten. Laut der von der Drogenbeauftragten der Bundesregierung in Auftrag gegebenen und vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) geförderten Studie aus dem Jahr 2011 „Prävalenz der Internetabhängigkeit“ (PINTA) sind das etwa ein Prozent der gesamtdeutschen Bevölkerung. Die Betroffenen sind im Alter von 14 bis 64 Jahren und überwiegend männlich. Besorgniserregend ist vor allem die hohe Zahl der Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 24 Jahren. Laut der PINTA-Studie beträgt deren Anteil immerhin 250.000.

„Die Betroffenen flüchten in eine virtuelle Welt. Dort bekommen sie Anerkennung und Belohnung”, so fasst die Drogenbeauftragte Mechthild Dyckmans (FDP) die Begleiterscheinungen der Onlinesucht zusammen. Die Zahlen zeigen akuten Handlungsbedarf. Aus diesem Grund wurde auf der Jahrestagung  der Drogenbeauftragten am 9. Oktober 2012 weniger das allgemeine Suchtverhalten diskutiert und stattdessen der Schwerpunkt beim Phänomen Online- oder Internetsucht gesetzt.

Was ist Onlinesucht?

Der  Begriff Sucht wird inflationär benutzt. Viel zu häufig wird dabei ein oftmals schwerwiegendes Problem pauschal mit dem Begriff „Sucht“ abgetan. Doch das ist nicht nur aus rein psychologischer Sicht fahrlässig. Menschen, die unter einem ernstzunehmenden Suchtverhalten leiden, ist damit nicht geholfen. Aus diesem Grund wurden mit der Zeit angepasste Fachbegriffe eingeführt. So gelten in Fachkreisen die differenzierten Termini “Impulskontrollstörung”, “Zwangsstörung” oder “Verhaltenssucht” als nicht-substanzgebundene Abhängigkeiten. Im Alltagsgebrauch sind diese Alternativbegriffe allerdings kaum üblich. Sobald jemand auffällig viel Zeit mit Online-Spielen, sozialen Netzwerken und Ähnlichem verbringt, sind die meisten Menschen dazu geneigt, ein Suchtverhalten erkennen zu wollen.

Dabei vergessen sie häufig, dass der Computer und insbesondere das Internet viele etablierte Medien ersetzen. In den Zimmern vieler Jugendlicher verstauben Fernseher und Radio, sofern es diese überhaupt noch gibt. Bei analogen Brett- oder Kartenspielen ist die Situation noch extremer. Spielen, kommunizieren, Informationen sammeln, Musik hören etc. ist dank des Internet nicht nur einfacher und schneller geworden. Die Digitalisierung  ist insbesondere für die jüngere Generation längst Alltag. Zudem ist es nicht mehr zwingend notwendig, für eine Konferenz alle Teilnehmer an einen „analogen“ Tisch zu bekommen. Im Netz wird gearbeitet, gepokert, virtuelle Avatare werden durch Fantasywelten bewegt und auf Videoportalen wie YouTube werden immer mehr auch tägliche Fernsehsendungen verfolgt.

Dabei ist das Problem nicht immer die Dauer der Nutzung. Erst wenn die Betroffenen das Verhältnis zur realen Welt verlieren, wird es problematisch. Am Beispiel der Onlinesucht zeigt sich, dass das Versagen eines sozialen Umfelds häufig mit einem neuen Umfeld im Internet kompensiert wird. In der neu geschaffenen Parallelwelt ist es beispielsweise möglich, unterdrückte oder unerwünschte Gefühle auszuleben und die Anerkennung zu bekommen, die sonst ausbleibt.

Extremfälle „Hikikomori“ und „NEET“

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Welches extreme Ausmaß Onlinesucht annehmen kann, zeigt ein Blick nach Japan. Dort ist seit einigen Jahren das Phänomen des Hikikomori bekannt: Darunter versteht man eine Person, die sich freiwillig in ihre Wohnung oder ihr Zimmer einschließt und den sozialen Kontakt auf ein absolutes Minimum reduziert. Der Begriff bezieht sich gleichermaßen auf das Phänomen als auch auf die Person. Schätzungen gehen davon aus, dass ca. ein Prozent (1,3 Mio. Einwohner) der japanischen Bevölkerung betroffen ist. Der in Japan vorherrschende Bildungsdruck, die damit verbundene Situation auf dem Arbeitsmarkt und oftmals schwierige Familienverhältnisse können dazu führen, dass sich insbesondere junge Erwachsene zurückziehen. Der Rückzug beginnt zunächst schleichend. Der Verlust von Freunden, sozialen Kontakten und Lebensfreude geht einher mit zunehmender Unsicherheit im Umgang mit Menschen. Als einer der häufigsten Gründe, aus dem das Dasein als Hikikomori nicht beendet wird, gilt neben dem gesicherten finanziellen Einkommen das Vorhandensein eines Internetzugangs. In einigen Fällen dient die suchtartige Nutzung eines Online-Spiels oder der Online-Kommunikation als einziger Kontakt zu einer anderen Welt.

Wenn keinerlei Maßnahmen mehr ergriffen werden, einem geregelten Leben nachzugehen, spricht man von  NEET (Not in Education, Employment or Training) als Extremfall der Onlinesucht. Mittlerweile hat sich dieser Begriff in verschiedenen Sprachen etabliert. Ernsthaft thematisiert und erforscht wird er aber hauptsächlich in Japan.

Internetsucht oder Depression?

Wohl aus Ermangelung eines einheitlichen Begriffs ist das Phänomen der „Internetsucht“ wissenschaftlich höchst umstritten. Während einige Psychologen die vermehrte Internetnutzung eher als den Nebeneffekt einer Depression ansehen, meinen andere, es handele sich dabei um eine eigenständige Krankheit. Problematisch ist auch die Einstellung der Weltgesundheitsorganisation (WHO), denn die sieht eine Internetabhängigkeit nicht als Verhaltensstörung an. Das Fehlen einer gemeingültigen Definition führt jedoch dazu, dass Ärzte und Krankenkassen in Deutschland auf Umwegen behandeln müssen. So wird bei den Betroffenen eine Depression oder Ähnliches diagnostiziert, um sie überhaupt therapieren zu können. In einigen wenigen speziellen Ambulanzen, so in denen der Universitätskliniken Mainz und Bochum, werden in Deutschland Computerspiel- sowie Internetsucht behandelt. Dabei bedürfte es in Anbetracht der immer häufiger auftretenden Fälle wesentlich mehr Einrichtungen dieser Art.

Auf ihrer Jahrestagung versicherte die Drogenbeauftragte Mechthild Dyckmans, dass sie sich des Themas verstärkt annehmen will: „Die Computerspiel- und Internetsucht wird im nächsten Jahr ein Schwerpunkt meiner Arbeit sein“, versprach sie. Dyckmans will sich dafür einsetzen, dass die Behandlung von Computerspiel- und Internetsüchtigen weiter verbessert wird, indem z. B. „standardisierte Diagnose- und Behandlungsleitlinien“ entwickelt werden. Dazu zählt auch die Frage, wie die Suchtgefährdung in die Altersbewertung von Computerspielen aufgenommen wird.