Mit seiner Bemerkung, das Politikbild der Piratenpartei sei durch eine „Tyrannei der Masse“ geprägt, entfachte der Generalsekretär der FDP, Patrick Döring, nicht nur eine kontroverse Diskussion im Netz, sondern sorgte ebenso für ein lautes Echo in den klassischen Medien. Eine Welle der Verärgerung schwappte durch die sozialen Netzwerke, zahlreiche Kommentatoren unterstellten Döring ein zweifelhaftes Demokratieverständnis. „Herr Döring nennt es Tyrannei der Masse, wir nennen es Demokratie“, so das Credo vieler User auf Twitter und Co. Auch die Reaktion der Piraten ließ nicht lange auf sich warten. Empört reagierte deren Bundesvorsitzender Sebastian Nerz in einem Spiegel Online-Interview und attestierte dem liberalen Generalsekretär  „ein bemerkenswertes Unverständnis für die moderne Gesellschaft”.

politik-digital.de hat nachgehakt. In ihren Gastbeiträgen äußern sich beide Politiker hier zu der Frage, ob Partizipation und Bürgerbeteiligung durch eine lautstarke Mehrheit im Netz gefährdet ist. Patrick Döring verweist dabei auf die, seiner Meinung nach, bestehende Ambivalenz von Internetkommunikation: „So wie die Macht des Wortes und der Bilder im Internet im Dienst der Freiheit stehen kann, so kann die Gewalt des Wortes und der Bilder auch dazu beitragen, Meinungen verstummen zu lassen“, kritisiert Döring eine oftmals intolerante Debattenkultur. In dieser entscheide nicht das Argument, sondern immer häufiger zählten Radikalität und Lautstärke.
Sebastian Nerz hingegen kann keine Gefahr einer „Tyrannei der Massen“ erkennen und plädiert für eine breitere Beteiligung durch neue Kommunikationsmittel. Der politische Diskurs werde zwar durch eine offenere Diskussion zeitintensiver, gleichzeitig würden aber die Ergebnisse verbessert.


Pro-Standpunkt Patrick Döring

Mehr Beteiligung, mehr Transparenz, mehr Demokratie ist möglich. Aber der Königsweg zu mehr Demokratie sind Beteiligungsrechte und -instrumente allein nicht. Denn die Abstimmung ist nur das Ende eines demokratischen Prozesses. An seinem Anfang aber steht der gesellschaftliche Diskurs, das Gespräch der Demokraten. Und hier muss man immer wieder feststellen, fehlt es in der virtuellen Welt noch oftmals an einer Debattenkultur.

Der Umgang mit unliebsamen Personen und abweichenden Meinungen ist in der Internet-Gesellschaft allzu oft intolerant. Wer oder was missfällt – sei es nur ein Mädchen mit geringem Gesangstalent, tatsächliche oder vermeintliche Unternehmensskandale oder Politiker mit einer kritischen Haltung – läuft Gefahr, mit einer Welle von Häme und Abscheu überschwemmt zu werden.

Keine Frage: Menschen reden auch in der realen Welt schlecht übereinander. Und auch die klassischen Medien leben von Zuspitzungen, dem Dreh, der eine Geschichte macht, von Skandalen. Das Missverständnis wird gerne kultiviert, das Argument gerne durch das Schlagwort ersetzt. Das ist Teil der politischen und medialen Wirklichkeit.

Aber im Zeitalter des Internets bekommt diese Tendenz eine neue Qualität. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die Diskussionskultur im Internet für diese Schwächen der viel geschmähten Holzmedien selbst im besonderen Maße anfällig ist: Die Anonymität im Netz verleitet immer wieder zu einer Offenheit und Aggressivität, die wir im normalen Leben nicht kennen. Zugleich sorgen die globale Vernetzung und die Archivierung der Informationen dafür, dass diese Angriffe jederzeit und überall abrufbar sind. Nur wenige haben, wie Joachim Gauck, das Glück, einem solchen Ansturm Dank ihres Rufes und ihrer Prominenz widerstehen zu können. In den meisten meisten Fällen obsiegt der Mainstream über die Meinung der Wenigen.

So wie die Macht des Wortes und der Bilder im Internet im Dienst der Freiheit stehen kann, so kann die Gewalt des Wortes und der Bilder auch dazu beitragen, Meinungen verstummen zu lassen. Wenn in Zukunft nicht mehr das Argument, sondern Radikalität und Lautstärke entscheidend, dann wäre dies das Ende der freien Debatte. Und ohne diese wäre auch die Beteiligung über das Internet eine Farce.

Das Internet bietet alle Chancen für eine freiere und demokratischere Gesellschaft. Aber zur Freiheit gehört, auch im virtuellen Raum, Verantwortung. So wie die Macht im und durch das Internet dezentral organisiert ist, so muss auch die Verantwortung dezentral entwickelt werden. Eine demokratische Gesellschaft gibt es nur mit Toleranz für die Meinung anderer.

Und zugleich müssen wir die großen Chancen des Internets für mehr Transparenz und Teilhabe nutzen. In der Politik müssen wir den Auftrag annehmen, den basisdemokratischen Kräften Zugang zur repräsentativen Demokratie zu verschaffen. Die Einbindung von Bürgern über das Internet, zum Beispiel bei den Beratungen der Enquetekommission „Internet und digitale Gesellschaft“, ist dabei ein Vorbild. Mehr Transparenz von Politik und Verwaltung, ein besserer Zugang zu Informationen und eine frühzeitige Einbindung zum Beispiel bei der Planung von Infrastrukturvorhaben – das ist auch ein Auftrag für uns Liberale.

Contra-Standpunkt Sebastian Nerz

Es gibt keine perfekten politischen Systeme. Immer gibt es Verbesserungsmöglichkeiten, mit denen die Menschen mündiger und das System demokratischer werden können. Eine dieser Möglichkeiten etabliert sich gerade: Durch neue Kommunikationsmittel entsteht die Chance einer beständigen Diskussion. Gerade für die Politik bieten sich hier ganz neue Wege, um Menschen am politischen Diskurs teilhaben zu lassen und politische Prozesse transparenter und offener zu gestalten.

Damit können wir als Gesellschaft und als deutsche Demokratie viel gewinnen. Zum Einen kann niemand an alles denken. Egal wie gewissenhaft und engagiert gearbeitet wird, bei der Ausarbeitung eines Vorschlages werden nicht alle Betrachtungsweisen eingenommen, und Verbesserungspotentiale werden übersehen. Die wenigsten Vorschläge sind tatsächlich perfekt. Im Nachhinein entdeckt man Fehler und ärgert sich, sie nicht früher gefunden zu haben. Politische Prozesse für die Diskussion zu öffnen, wird neue Betrachtungsweisen in die Politik bringen. Nicht mehr nur einzelne Politiker und ausgewählte Experten oder Lobbygruppen bewerten einen Vorschlag, sondern jeder kann Kritik äußern oder Ideen zur Verbesserung einbringen. Natürlich hat das auch einen Nachteil. Der politische Diskurs wird damit etwas zeitintensiver – aber die Ergebnisse werden spürbar besser, wie u.a. die Online-Enzyklopädie Wikipedia belegt.

Eine „Tyrannei der Massen“ entsteht dadurch aber nicht. In einer Demokratie, also einer Herrschaft des Volkes und eben nicht der Politiker, ist das sowieso eine seltsame Betrachtungsweise. Im Gegenteil: Unser politisches System ist auf Mehrheiten ausgerichtet. Nicht selten sind das knappe Mehrheiten von einzelnen Prozenten. Eine Öffnung des Diskurses für eine breitere Beteiligung kann aber nun gerade Minderheiten das benötigte Gehör verschaffen.

Und nicht zuletzt wird diese Öffnung auch wieder Vertrauen in die Politik herstellen. Denn wo eine Entscheidungsfindung nachvollziehbar ist, dort ist viel weniger Spielraum für Bestechlichkeit oder Bestechlichkeitsvorwürfe. Und gerade in unserer Zeit, in der wir allerorts mit sinkenden Wahlbeteiligungen zu kämpfen haben und in der Politikern so wenig vertraut wird wie nie zuvor, sollten wir uns diese Chance nicht entgehen lassen.

Das Netz ermöglicht eine breitere Beteiligung von Menschen an der Politik. Es ermöglicht eine neue Offenheit und neues Vertrauen. Es gibt Minderheiten eine Stimme und ist eine Chance für eine bessere Demokratie. Wir sollten diese Chance nutzen!