Der Medienfrühling in China hat begonnen. Während des Irak-Kriegs offenbarte das chinesische Netz sein Potential. Ein kritischer Erfolgsbericht von Dr. Weigui Fang.



Am 20.03.2003 gegen 5.30 Uhr Ortszeit (3.30 Uhr MEZ) schlugen mehrere Marschflugkörper vom Typ “Tomahawk” am Rande Bagdads ein. Der erste “Enthauptungsschlag” des Irak-Kriegs sprengt auch die Grenzen der bisherigen Parteipropaganda in China. An diesem frühen Donnerstagmorgen scheint auch ein neues Zeitalter der chinesischen Medien eingeläutet zu sein. Ausländische Journalisten und Geschäftsleute, welche aufmerksam das politische Klima in China verfolgen, sehen den Medienfrühling als ein “Signal”, das in der ganzen Welt eine Nachricht wert ist.

Die News-Quellen sind natürlich nicht nur Reuters, CNN, el-Dschasira, sondern man findet Berichte aus allen Ecken der Welt. Diese mediale Offensive ist ja auch der Hintergrund von Bemerkungen mancher westlichen Beobachter, die sinngemäß lauten: Der Krieg wird lange genug dauern, um die ganze Branche auf den Geschmack zu bringen. Die Medien-Welt ohne CNN-Bilder ist für die Chinesen ein für allemal untergegangen.

Ob das stimmt, bleibt noch abzuwarten. Es stimmt aber mit Sicherheit nicht, wenn diese Voraussage etwa suggerieren soll, dass die chinesische audience von den CNN-Bildern besonders begeistert oder fasziniert ist. Mindestens in den Internet-Chaträumen hören wir oft Bemerkungen wie: “CNN hat mir endlich ein Verständnis von Pressefreiheit gebracht” – dies selbstverständlich im ironischen Sinne. Die Zeit ist prädestiniert für Aussagen folgender Art bei vielen Chat-Teilnehmern: “BBC braucht Breitband.” Oder: “BBC ist wirklich schamlos: Der Videofilm von der Plünderung in der UN-Zentrale in Bagdad wurde schon zigmal gesendet; es heißt aber immer noch ‘live’ .”

In einer Stunde mehr als 100 Millionen Pageviews

In China ist das Internet gerade dabei, die Art der Nachrichtenberichterstattung neu zu definieren. Wie der Rundfunk im Zweiten Weltkrieg und das Fernsehen während des letzten Golfkriegs im Jahr 1991, wird das Medium INTERNET® wegen seiner “grandiosen” Berichterstattung über den Irak-Krieg in die Mediengeschichte eingehen.

Der Newsticker von
sohu.com.cn veröffentlichte diesmal nur eine Minute nach Kriegsbeginn schon die erste Nachricht vom Ausbruch der Feindseligkeiten. Wiederum eine Minute später erhielten schon hunderttausende Nutzer von “Sohu” per SMS dieselbe Nachricht. Innerhalb einer Stunde wurden mehr als 500 Nachrichten gesendet, 1,3 Millionen Nutzer angezogen; es gab mehr als 100 Millionen Pageviews. Fast zur gleichen Zeit hatte
sina.com.cn die erste Kriegsnachricht gesendet und auch per SMS hunderttausende Nutzer erreicht. In den ersten 2 Stunden sind als ‘feed back’ bereits zigtausende BBS (Botschaften auf den bulletin boards) von den Sina-User veröffentlicht worden. Neben “Sina” gibt es noch einen anderen Provider, der behauptet, die erste Kriegsnachricht gesendet zu haben, um somit als Nummer Eins bei den Online-News gelten zu können:
xinhua.org. Am ersten Tag des Irak-Kriegs ist die Zahl der Pageviews, die Besucherzahl und -häufigkeit bei “Xinhua” jeweils um 309 %, 402 % und 454 % gestiegen. In dem internationalen general ranking ist
xinhua.org mit einem Schlag vom Platz 500 auf Platz 101 gesprungen.

Begehrt sind die Provider nicht nur bei den chinesischen Netizen, sondern auch bei den Nasdaq Anlegern. Die vier großen chinesischen Provider haben in den Tagen nach Kriegsbeginn durchschnittlich mehr als 10 % zugelegt, wobei “Sohu” sogar 26% zulegte. Fast alle nähern sich damit wieder ihrem historischen Höhepunkt – und dies in einer Zeit, wo die New Economy sich immer noch im Keller befindet. In der Tat haben die kommerziellen Provider, die u.a. Kriegsnachrichten rund um die Uhr im Sonderabo per SMS bieten, prächtig von dem Irak-Krieg profitiert. “Sohu” hat z.B. in den ersten 2 Stunden nach Kriegsbeginn 20.000 neue Kunden gewonnen, die über die Service-Angebote “Brennpunkt” und “Golfkriegsberichte” SMS-News bestellen möchten. Umgerechnet heißt das mehr als eine halbe Million Yuan (ca. 65.000 Euro) zusätzliche Einnahme in kürzester Zeit. Im Dunkel liegen noch die Einnahmen aus dem Kampf großer nationaler und internationaler Unternehmen um einen Platz für ihre Werbung in den dem Krieg gewidmeten Websites.

Ein Kunstwerk aus Amerika

Im Jahre 1996 gab es vermutlich 40.000 Internetnutzer in China; ein Jahr später war deren Zahl bereits auf 250.000 angewachsen. Als man damals die Prognose stellte, dass die Zahl der chinesischen Netizen im Jahr 2000 die Millionenmarke erreichen und überschreiten werde, basierte diese Voraussage zweifellos auf dem festen Glauben an einen sich vervielfachenden Zuwachs. Die Prognose allerdings, dass es bis Ende 2001 drei Millionen chinesische

Netizen geben werde, erschien wohl selbst denen, die sie lancierten, allemal atemberaubend. Die Ende 2001 dann tatsächlich erreichte Zahl betrug allerdings 33,7 Millionen. Nach der neuesten Statistik hat Ende 2002 die Zahl der Internet-Nutzer in China bereits erneut um rund 25,4 Millionen zugelegt: man spricht jetzt von 59,1 Millionen Menschen, die in China das Internet nutzen. Es sind dies zwar nur 4,6% der Gesamtbevölkerung Chinas. Und ohne Zweifel bleibt bislang das Fernsehen die wichtigste Informationsquelle für die meisten Chinesen. Denkt man aber an die weiterhin unglaublich schnelle Zunahme der Zahl der Internet-Nutzer, so ist unbestreitbar, dass unter allen Medien das Internet in China am deutlichsten an Bedeutung gewinnt, wobei allein wegen der Struktur des Internet und der Fülle der Informationen eine Zensur bzw. eine totale Kontrolle des Informationsflusses fast aussichtslos ist.

Das Internet bildet in einem offiziell noch kommunistischen Land wie China die wichtigste Quelle der “alternativen Informationen” und verändert, von der Form bis zum Inhalt, mehr oder weniger auch die traditionellen Medien – einschließlich dem Parteiorgan People’s Daily. Wesentliche Momente eines realwerdenden Emanzipationsprozesses des lange Zeit als passiv geltenden Publikums lassen sich feststellen. “Kann jemand mir sagen, wo es in Amerika so ein Forum wie unseres gibt. Ich möchte es gern inspizieren”, so fragte neulich ein Teilnehmer in einem Kriegsforum. Antwort: “Das hier ist das chinesische Vorzeichen.” Das Neue zeigt sich natürlich nicht nur in jener zum Teil ganz sarkastischen Artikulation, wie sie folgende Passage aus einem Chatroom-“Gespräch” bei
people.com.cn dokumentiert (20.03.2003, 17:16-17:19):

Schöne Bilder von al-Dschasira: So eine Feuersbrunst! Die Aufnahmen können sich mit den Bildern des 11. September messen. Ein Kunstwerk aus Amerika!

Hatschi—Hatschi— Nee…

Geh zur Seite, steck uns nicht an mit deiner Sars!

Sars… Wie wahrscheinlich ist es eigentlich, dass es sich hier um einen Test einer amerikanischen Biowaffe handelt?

Man findet inzwischen auch die Artikulation von Meinungen, welche die eigene Regierung bis hinauf zum Parteichef attackieren. Zweifellos: neue Einflüsse lösen nicht zuletzt dank dem Internet die alten, als rigide und autoritär dekuvrierten ab. Obwohl die “Meinungsfreiheit” in China schon längst de facto weit größer ist als es das Gesetz vorsieht, muss man zugeben, dass – abstrakt betrachtet – der in China erreichbare Grad der ‘Information Accessibility’ und vielleicht sogar der ‘Source Credibility’ durch das Internet eine neue Qualität angenommen haben. Hinsichtlich der Themen, Schwerpunkte, des Stils usw. zeigen sich Unterschiede zwischen offiziellen und inoffiziellen Stellen, selbst wenn die offiziellen in mancher Hinsicht zusehends den inoffiziellen nacheifern – im heftigen Kampf um die Aufmerksamkeit der User.

“Die Sachen bei CCTV heißen auch “News”?”

In China gibt es hauptsächlich zwei Sorten von Online-News-Anbietern: Die Websites der traditionellen Printmedien, mit
peopledaily.com.cn als einem ihrer herausragenden Exponenten, und die kommerziellen Provider mit
sina.com.cn als führendem Markenzeichen. Was Online-News angeht, so zeigte schon eine Untersuchung aus dem Jahr 2000: Die Nummer Eins aus der Printmedien-Liga hat mit ihrer Online-Version “Peopledaily” durchschnittlich (in einem bestimmten Vergleichszeitraum) 1.890 Pageviews, während die privaten Provider deutlich höhere Werte erreichen: im Falle von “Sina” waren es 63.918, bei “Netease” 57.163, und bei “Sohu” 56.147 Pageviews. Mit anderen Worten: Die News-Besucherzahl von “Sina” betrug das 30fache des gleichzeitig bei “Peopledaily” verzeichneten Werts. Neue Untersuchungen haben ebenfalls gezeigt, dass die chinesischen Netizen vor allem die “alternativen Informationsquellen” bevorzugen. Nicht untypisch ist die folgende Diskussion in dem “Sina” Kriegs-Chatroom am 09.04.2003 (18:49 – 18:56):

Ach, wieder BBC. Wem kann man eigentlich noch glauben?!

·BBC ist nicht schlecht… aber nicht so gut wie Phönix [Hong Konger TV-Sender]. Natürlich viel schlechter als CCTV [China Central Television].

·Die Sachen bei CCTV heißen auch “News”?

·Die unterstützen doch nur die Diktatoren.

·Ja richtig! China und Rußland sind die Hauptdrahtzieher der Achse des Bösen.

·CCTV bietet nichts Wahres an. Wenn es doch mal was Authentisches ist, dann ist es auch schon lange überfällig.

·Nee nee, CCTV zeigt nicht wenig Authentisches, aber auch genau so viel Nonsens.

·Viel Nonsens! Viel Unwahrheit!!

·Gibt’s was Neues? Kucken wir mal den Sina-Newsticker…