Dr. Peter Chroust ist Politikwissenschaftler, Pädagoge am Hessischen Landesinstitut für Pädagogik und Lehrbeauftragter an der Universität Kassel. Er stellt sieben Thesen für eine notwendige Neuorientierung der Politischen Bildung auf.

Dramatisch sinkende Wahlbeteiligung unter Jugendlichen in der Bundesrepublik, aber Rekordzahlen bei der Love-Parade, Rückzug auf Familie und Karriere, rechter Main-stream schon unter ostdeutschen Kindern, Marginalisierung der Sozialkunde in den Schulen – schlechte Zeiten für Politische Bildung? Ganz im Gegenteil: die Notwendigkeit und die Chancen Politischer Bildung könnten kaum höher sein.

Gerade die Massenproteste in Seattle, Prag und Genua, aber auch die Blockaden gegen die Castor-Transporte zeigen: Junge Menschen in der Bundesrepublik wie in anderen Ländern ziehen sich keineswegs gänzlich auf Genuss und Geld zurück. Wenn auch z.B. die Proteste gegen “die” Globalisierung oder den Flughafenausbau vor der eigenen Haustür zuweilen mehr emotional als rational geprägt sind, wird dennoch deutlich: Sie legen den Finger auf schwelende gesellschaftliche Konfliktlinien, benennen und besetzen Themen, suchen nach alternativen Lösungs- und Partizipationsmodellen. Wenn dies alles ohne erkennbaren Anteil Politischer Bildung geschieht, wirft dies ein Licht auf das Fach in Schule und Jugendarbeit. Offenbar laufen Konzepte und Praxis der Politischen Bildung und die Politisierungsprozesse junger Menschen immer mehr aneinander vorbei.

Einige Thesen sollen skizzieren, in welche Richtung sich die Politische Bildung der Bundesrepublik in den nächsten Jahren innerhalb und außerhalb der Schule orientieren muss, will sie nicht vollends in Abseits geraten.

Auch wenn kaum alle Schritte auf einmal begonnen werden können – entscheidend ist der erste.

1. Politische Bildung muss sich in die “Niederungen” der alltäglichen politischen Sozialisation begeben

Sehr viel effektiver als wohlmeinende pädagogische Bemühungen oder rein kognitive Lernangebote der Politischen Bildung scheinen politische Sozialisationsinstanzen zu sein, die gewöhnlich kaum mit politischem Lernen in Verbindung gebracht werden: Fernsehserien, Musikvideos, Werbung und die Neuen Medien bieten neben der Unterhaltung stets auch Lebensorientierung und zugleich als permanente “contrebande” politische Weltbilder. “Big Brother”, “Marienhof” oder Video- und Computerspiele prägen nicht nur das geschlechtsspezifische Rollenverständnis und Rollenverhalten, sondern auch die Sicht auf die Gesellschaft vermutlich nachhaltiger als Rollenspiele und Morgenkreis (was nichts gegen diese Formen pädagogischer Arbeit sagt).

Wenn Menschen aus der Gemeinschaft von Container-Shows per “Volksabstimmung” mit Handy oder Fax ausgeschlossen werden (“Wer nervt, fliegt raus!”, so der Originaltitel einer aktuellen Fernsehserie), wenn ein Lied wie “Du musst ein Schwein sein” über Wochen die Charts anführt, wenn eine bundesdeutsche Großbank eine Werbekampagne mit dem Slogan “Oben ist nur Platz für wenige” präsentiert, wenn auf Netzwerkparties hunderter zumeist männlicher Jugendlicher das alleinige Ziel ist, “Gegner” (nicht Mitspieler) auf dem Monitor zu “eliminieren”, sind die politischen Dimensionen kaum mehr zu übersehen. Für die Politische Bildung heißt dies zunächst, diese außerschulischen Sozialisations- und Politisierungsinstanzen überhaupt als solche zu erkennen und ernst zu nehmen. Erst aus dieser Anerkennung der Realitäten heraus können adäquate Konzepte und Modelle entwickelt werden.

2. Politische Bildung muss die “real existierenden” Jugendlichen erreichen

Die Politische Bildung erreicht kaum mehr ihre Adressaten. Aus der Schulforschung ist bekannt, dass der durchschnittliche Unterricht, unabhängig vom jeweiligen Fach, bestenfalls ein Viertel der Schüler/-innen erreicht. Bei einer Politikdidaktik, die unausgesprochen vom Leitbild eines deutschsprachigen, aus der Mittelschicht stammenden, zumeist männlichen, am Lesen und Diskutieren auch längerer, komplexer Texte interessierten Jugendlichen ausgeht, dürfte der Anteil noch erheblich geringer sein. In den Klassenzimmern prallen zunehmend unterschiedliche politische Lern- und Leitkulturen aufeinander. Jugendliche, die vielfach mehr Stunden in virtuellen Medienwelten verbringen als im realen Schulunterricht, in deren Familien kostenlos verteilte Anzeigenblätter das einzige Printmedium darstellen, treffen auf Lernarrangements, die das Arbeiten mit Texten und den rationalen Diskurs in den Mittelpunkt stellen.

Noch immer zu wenig beachtetet ist auch die Notwendigkeit der Politischen Bildung, geschlechtsspezifische Konzepte und Angebote zu entwickeln. Aus der Political-Action-Forschung ist längst bekannt, dass Frauen keineswegs generell weniger interessiert am politischen Prozess sind als Männer, sondern vielmehr unkonventionelle Artikulations- und Partizipationsformen bevorzugen. Hier bieten gerade die Neuen Medien hierzulande noch völlig ungenutzte Chancen (als Stichworte: Community Networks, Cyber-politics, “Cyber-Weiber”). Die Konsequenzen für die Politische Bildung stehen noch aus.

3. Politische Bildung muss sich internationalisieren

Die Politische Bildung muss sich in ihrer Konzeption wie in der alltäglichen Arbeit von der unausgesprochenen Germano- bzw. Eurozentrierung lösen. Hierzu gehört z.B. die Entwicklung multiperspektivisch-multikultureller Unterrichtskonzepte und -materialien im Sinne der “Einen Welt” in dauerhafter Kooperation mit ausländischen Lehrer/-innen und Schüler/-innen (einschließlich der Fortbildung). Zugespitzt ist zu fragen: Wie sollen z.B. afghanische Flüchtlingskinder den deutschen Holocaust intellektuell und emotional “bewältigen”? Es drängt sich die Analogie zur französischen Kolonialmacht auf, deren Lehrbücher schwarzafrikanischen Schülern verkündeten: “Unsere Vorfahren sind die Gallier”.

Und schließlich: Die anstehende Osterweiterung der Europäischen Union darf nicht zu einer definitiven mentalen Schließung gegenüber dem Nicht-EU-Ausland führen! Die Folgen wären für die bundesdeutsche Gesellschaft wie für die Menschen jenseits der EU-Außengrenzen fatal.

4. Politische Bildung muss die Neuen Medien integrieren

Neue Medien, vor allem das Internet, beeinflussen schon heute den Alltag der meisten Jugendlichen. Umso mehr gilt dies für die künftige Arbeitswelt. Deshalb muss die Politische Bildung die Neuen Medien integrieren – als Medium wie als Gegenstand. Dabei geht es nicht nur darum, den technischen Umgang möglichst frühzeitig zu lernen, dies geschieht ohnehin außerhalb der Schule, in selbstorganisiert-chaotischen Lernprozessen. Wesentlicher ist, den kritischen und souveränen Umgang mit den Neuen Medien zu vermitteln. Die Neuen Medien bieten die Chance einer stärkeren Individualisierung von Lernprozessen (Stichwort: Konstruktivismus, hier in seiner ‘gemäßigten’ Variante). Dass daraus keine isolierten Lernprozesse werden, ist wiederum Aufgabe der Schule, hier der Politischen Bildung. Die individuellen Lernwege müssen durch Pädagog/-innen wieder in die Lerngruppe rückgebunden werden. So verstanden, erhöht der Einsatz Neuer Medien den Stellenwert sozialen Lernens, anstatt ihn zu vermindern.

5. Politische Bildung muss sich in kurzen Zyklen organisieren

Politische Bildung – und die Praxis an den Schulen – tendiert dazu, bestimmte Themen in Konjunkturen zu bearbeiten. Wenn Themen wie der Holocaust über mehre Jahre intensiv thematisiert wurden, folgt ein Rückzug, weil dieser Gegenstand “abgearbeitet” sei. Dabei projizieren die in der Bildungsarbeit Tätigen offenbar allzu leicht ihre eigene Lernbiografie auf das Curriculum. Doch spätestens nach fünf Jahren kommt wiederum eine neue Generation von Schüler/-innen in die Klassenzimmer, die weder über den Holocaust noch über andere zentrale Themen im wahrsten Sinne “unterrichtet” ist, für die selbst schon der Prozess der deutschen Einheit ferne Geschichte wie das Mittelalter ist. Dieser eigentümlich unhistorischen Wahrnehmung gerade unter Pädagog/-innen der Politischen Bildung könnte durch eine Konzeption der kurzen Zyklen begegnet werden, d.h. die zentralen – und oft auch neu hinzu kommenden – Themen müssen in einem relativ kurzen zeitlichen Turnus mit gleich bleibender Intensität immer wieder von neuem er- und bearbeitet werden. Dass Lehrpläne und Schulcurricula genau dies vorsehen, sagt noch nichts über die gängige Praxis aus.

6. Politische Bildung muss positive Identifikationsangebote vermitteln

Das Erfolgsgeheimnis von Soap-operas, Musikvideos und Werbung unter Jugendlichen scheint in der permanenten Präsentation positiv definierter und akzeptierter Identifikationsangebote (Personen, Gruppen, Szenarien) zu liegen, die für Jugendliche existentielle Fragen thematisieren: Selbstorientierung, Gruppenbindung, Partnerschaft, Sexualität, allgemein Lebensstile und Lebensentwürfe.

Eine Politische Bildung, die z.B. eine Identifikation mit den verfolgten Juden im deutschen Faschismus oder mit den ausgebeuteten Kindern in Indien verlangt, gerät deshalb rasch an ihre Grenzen. Dass die lange Zeit gegenüber Schüler/-innen geübte emotionale Überwältigung wegen ihrer Suggestivpädagogik für sich abzulehnen ist, sei hier nur erwähnt. Das angerissene Dilemma könnte der Grund dafür sein, warum Schülerinnen z.B. auf das Thema Judenverfolgung im deutschen Faschismus stärker emotional reagieren als ihre männlichen Mitschüler, die sich hierbei oft hinter einer “coolen” Fassade verbergen. Schülerinnen liegt offenbar auf Grund ihrer gesellschaftlichen Erfahrung die Rolle der Opfer und Verlierer näher, während sich männliche Schüler eher mit erfolgreichen Menschen identifizieren. Bekanntlich befanden sich aber die “erfolgreichen” Menschen im Nationalsozialismus in der überwältigenden Mehrheit. “Erfolgreiche” Menschen waren in dieser Konstellation vor allem die Täter und Mitläufer. Für die Politische Bildung kann daraus selbstverständlich nicht abgeleitet werden, männlichen Jugendlichen eine Identifikation mit den NS-Tätern gleichsam unter “klinisch kontrollierten” Bedingungen zu ermöglichen, wohl aber eine kritische Auseinandersetzung mit eigenen Anteilen, die sich auch in der Persönlichkeitsstruktur von NS-Tätern wiederfinden; im übrigen würde der heimliche Lehrplan des Themas “Judenverfolgung” gerade unter diesen Aspekten eigene Untersuchungen verdienen.

Die Konsequenz für Politische Bildung wäre vielmehr z.B. beim Thema des “Dritten Reiches”, einerseits reale Beispiele gelungenen widerständigen Verhaltens kennen zu lernen und andererseits unterschiedliche Verhaltensweisen in konkreten Entscheidungssituationen “durchzuspielen”, um die Brüchigkeit und Widersprüchlichkeit der Menschen als Mitläufer, Täter oder Opfer selbst erfahren zu können. Die direkte Begegnung mit Zeitzeugen z.B. des Widerstandes ist aus naheliegenden Gründen nur noch wenige Jahre möglich.

Eine Politische Bildung, die positive Identifikationsangebote vermittelt und generell Empathieerfahrungen ermöglicht, wird auch einen Beitrag zur Gewaltprävention leisten.

7. Politische Bildung muss ein Lernen autonomer Subjekte fördern

Politische Bildung darf keine Veranstaltung (mehr) mit dem Anspruch der “moralischen Veredelung” durch Belehrung sein. Sie muss sich von der Selbstwahrnehmung verabschieden, stellvertretend für die jungen Menschen bereits das “Richtige” ermittelt zu haben und ermitteln zu können. Sie muss sich auch von der Selbstbeauftragung verabschieden, dieses jeweils “Richtige” in inszenierten und präzise kalkulierbaren Lernprozessen weiterzugeben. In der so gekennzeichneten Spannung finden sich auch die hier vorgetragenen Überlegungen.

Eine Politische Bildung, die z.B. aktuelle und mit Sicherheit immer wieder auftretende Korruptionsskandale als einen “moralischen Bankrott” der politischen Klasse insgesamt deklariert, präformiert damit nicht nur die Themen der rechtspopulistischen und Neonazi-Propaganda, sondern leistet zugleich der politischen Apathie Vorschub. Das Ziel Politischer Bildung bleibt aber nach wie vor die aktive und reflektierte Partizipation von Citoyens und Citoyennes am politischen Prozess.