Ossis gegen Wessis, Linke contra Rechte – der Krieg der Meinungen
um den "Fall Joseph" tobte im virtuellen Gästebuch der Stadt
Sebnitz, bis das Forum geschlossen wurde. Die politik-digital-Autoren
Eike Hebecker und Christoph Bieber verstehen und kommentieren die
Netzereignisse als Echo auf mediale und reale Verwerfungen im Lande.

Das
virtuelle Gästebuch der sächsischen Kleinstadt Sebnitz, die durch den
"Fall Joseph" in die Schlagzeilen geraten ist, wurde am 4. Dezember bis
auf weiteres aus dem Netz genommen, nachdem es vierzehn Tage lang mit
rechts- wie linksextremistischen Parolen befeuert worden war. Im
Strudel der virtuellen Wirrköpfe und digitalen Demagogen sind die
wenigen nachdenklichen und räsonierenden Beiträge besorgter Bürger
weitgehend untergegangen.

Auf
den Web-Seiten der Kommune schaukelten sich einerseits xenophobische
Hetztiraden – vor allem, aber nicht ausschließlich gegen die Familie
Abdullah – und linksradikale Gewaltaufrufe ("Tötet das Nazipack") zu
einer für viele Beobachter schockierenden Welle aus Hassgefühlen,
Ignoranz und Dummheit hoch. Andererseits trafen Vorurteile und
Selbstmitleid unter „Ossis“ und „Wessis“ in noch nie da gewesener Härte
aufeinander. Die beiderseitige Bekundung, die Mauer wieder hoch ziehen
zu wollen, gehörte dabei noch zu den harmloseren Drohungen. Hier
scheinen sich über zehn Jahre angestaute und nicht bewältigte Probleme
der Wiedervereinigung eruptionsartig Bahn gebrochen zu haben.

Vor
dem Hintergrund einer derartigen Auseinandersetzung im öffentlichen
Raum des Internet verweist die immer wieder problematisierte Frage des
Verhältnisses der Deutschen zu ihren ausländischen Mitbürgern und die
bisweilen peinlich anmutende Diskussion um eine kulturelle Identität
vor allem darauf, dass sich Deutsche in Ost und West weitgehend fremd
geblieben sind und nach wie vor mit Misstrauen begegnen. Ausländerhass
und Naziparolen sind dabei ebenso Mittel und Medium wie demonstrativer
Antifaschismus und symbolisches „Gutmenschentum“.

Ebenso
wie die mediale Berichterstattung im "Fall Joseph" dem Generalverdacht
von rechtsradikalen Tätern im Osten verfallen ist und mit Sebnitz eine
ganze Region in Sippenhaft genommen hat, verfahren auch die hetzenden
Schreihälse und selbsternannten Saubermänner im Gästebuch. Sie springen
auf den Themenzug auf, nutzen die öffentliche Aufmerksamkeit und
liefern quasi die „O-Töne“ zu den Szenarien, die in den Medien
entworfen werden.

Das
"Ereignis sebnitz.de" scheint in mehrfacher Hinsicht Premierencharakter
zu haben. Erstmals wurde ein öffentliches Gästebuch im Internet zum
Austragungsort einer bundesweit beachteten digitalen Debatte. Aber
warum? Aus welchem Grund wird eine randständige Homepage eines
ostdeutschen Provinzstädtchens zum Schauplatz einer relativen Neuheit,
der Nutzung eines "öffentlichen Ortes" als kommunikativem Kampfplatz
für ideologische Extrempositionen und einem Resonanzboden für die
Befindlichkeit einer in sich gespaltenen Republik?

Drei nur scheinbar einfache Erklärungsversuche bieten sich an.

Erstens.
Das Netz wirkt als Ventil – wer nicht auf die Straße gehen will oder
gehen kann, echauffiert sich heute eben digital und heizt die
fremdenfeindliche Stimmung als „Adi“, “Anonymus“ oder „Helmut Kohl“ an.
Anders gesagt: Wer e-mails schreibt, wirft keine Steine mehr. Neben der
augenscheinlichen Naivität dieser Aussage ist hier auf die
Besonderheiten der digitalen Anonymisierung hinzuweisen. Denn die von
vielen Schreiberlingen selbstgewählte Vermummung führt zu einer
gewissen „Entwertung“ solcher Beiträge, mögen sie auch noch so ekelhaft
und rassistisch sein. Das Fehlen einer – wenn man so will –
„demokratischen Identität“ macht das laute Schrei(b)en im Gästebuch zu
einem nicht-öffentlichen Protest. Hier, in diesem besonderen Fall, wäre
dem Hamburger Medienforscher Knut Hickethier beizupflichten, der
digitale Proteste stets mit dem Drücken der Lösch-Taste kontrollieren
möchte und öffentliches Aufbegehren nur „auf der Straße“ für zulässig
hält. Dabei muss immerhin der „reale Körper“ dem Protest Ausdruck und
Authentizität verleihen. Die bedächtigeren und demokratisch gesinnten
Diskutanten prangerten daher auch die Anonymität an und versahen ihre
Beiträge demonstrativ mit der „wahren“ Identität, um ihnen
Authentizität und Gewicht zu verleihen.

Zweitens.
Das digitale Gästebuch stellt ein Zwitterwesen aus den Mechanismen der
Berichterstattung in den alten Medien und den Optionen des Mediums
Internet dar. Dabei treten vor allem die negativen Folgen einer
ungefilterten und unmoderierten Öffentlichkeit hervor. An dieser Stelle
liegt vielleicht eine Deutungsmöglichkeit, die zumindest den
zweifelhaften „Boom“ der Website erklären könnte. Nüchtern – sofern
möglich – wäre zunächst einmal festzuhalten, dass die "Sebnitz-Site"
unter aufmerksamkeitsökonomischen Gesichtspunkten äußerst erfolgreich
war. Sie stand im Fokus des öffentlichen Interesses, auf die Meldungen
in den einschlägigen Online-Medien folgte die überregionale Presse und
auch das Fernsehen hat sich der Story angenommen. Das Internet wirkt
als Themen-Reservoir für die alte Medienwelt, nicht nur „Moorhuhn“ und
„Big Brother“ lassen grüßen. Online wird vieles nachvollzogen, was die
Inszenierung der Boulevardmedien vorgibt. Nur hier sind die
Artikulationen nicht mehr zu kontrollieren, sie werden nicht mehr durch
den – wenn auch bescheidenen – massenmedialen Filter gejagt. Der Preis
einer absoluten Redefreiheit ist die absolute Niveaulosigkeit vieler
Einträge, die es zu ertragen gilt.

Drittens.
Das Netz ist zum Ort eines echten politischen Diskurses geworden, der
eine argumentative, rationale Auseinandersetzung mit der Thematik
ermöglicht. Das wäre zu schön, um wahr zu sein. Allein schon der
verschwindend geringe Anteil „normaler“, „ergebnisorientierter“
Einträge im Sebnitzer Gästebuch macht diese Hoffnung zunichte. Zudem
sind dort auch nicht die richtigen Akteure (Betroffene/Beteiligte,
Sachverständige, Politiker) vertreten, um eine sachliche, vernünftige
Diskussion zu führen. Stattdessen sind es in der Mehrzahl mediale
Trittbrettfahrer, die durch tendenziöses Halb- oder Nichtwissen das
digitale Gästebuch der Stadt besudeln. Andererseits scheint hier
erstmals ungebremst und ungefiltert zusammen zu kommen, was in einer
„bürgerlichen“ und massenmedialen Öffentlichkeit nicht zusammengehört.
Sender und Empfänger, Berichterstatter und ihre Phänomene, O-Ton und
Kommentar sowie Wessis und Ossis, Linksextreme und Rechtsradikale (West
wie Ost), Normalos, Voyeure sowie wirklich betroffene und couragierte
Mitbürger. Und das ist in dieser Unmittelbarkeit in keinem andern
Medium denkbar. Das hohe „Empörungspotenzial“ ist dabei vor allem in
der digitalen Verkoppelung realen und medialer Nischen zu sehen.

Der
"Erfolg" in Hits und Visits ist selbstverständlich nur vordergründig,
er verkehrt sich durch die dubiose Basis eines nicht aufgeklärten
Todesfalles selbstverständlich ins Gegenteil: das ohnehin schon
ruinierte Image des Städtchens wird durch das digitale Wüten der
Netzidioten und -chaoten nicht besser. Doch aus welchem Grund?
Scheinbar herrscht der Glaube, auch die Netzdiskussion habe "in
Sebnitz" stattgefunden. Doch dem ist nicht so, "sebnitz.de" ist zum im
Wortsinn "virtuellen Treffpunkt" für eine – nicht nur deutsche – Szene
geworden, die ihrer fremdenfeindlichen Einstellung durch die digitalen
Kommentare tumben Ausdruck verleiht.

Was
also tun? Die "klassische" Form des Aufstands der Anständigen, die
Lichterkette, wurde ob der unsicheren Verhältnisse in und um Sebnitz
abgesagt. Ist eine Verlagerung der gutmenschlichen Gegenaktion ins Netz
a la "www.sebnitz-ist-sauber.de" der richtige Weg? Vermutlich nicht,
auch wenn das Gewaltpotenzial geringer sein mag. Aber vielleicht gibt
es doch Möglichkeiten, wie die extremistische Diskussionstätigkeit
eingedämmt werden kann. Die eifrigen Gästebuch-Schreiber wollen nur zum
Teil ihrer "Gesinnung" Ausdruck verleihen, sie wollen auch am "Event"
sebnitz.de teilnehmen. Sicher ist die Schließung des Gästebuches ein
Mittel. Ohnehin ist es der Stadt hoch anzurechnen, dass sie das
Tagebuch nach seiner ersten kurzfristigen Schließung wieder geöffnet
hat und trotz des drohenden Imageverlustes bis zum Montag online
beließ. Die Motive hierfür lagen vor allem darin, andere
Online-Adressen im Landkreis Oberelbe zu schützen, auf die die
Diskussion überzugreifen drohte, erklärte ein Vertreter der
Stadtverwaltung auf Anfrage. Darüber hinaus hatte der Staatsschutz aus
Ermittlungsgründen darum gebeten, die Seite offen zu halten, um die
extremistischen Schreihälse an einem zentralen Ort überwachen zu
können.

Da
den Schreibern aber bewusst gewesen sein dürfte, dass die Website unter
einer verschärften Beobachtung von Polizei und Verfassungsschutz stand,
dürften hier keine überragenden Erkenntnisse zu erwarten sein. Das
Szenario erinnert vielmehr an die realen Kundgebungen von
rechtsextremen Organisationen. Sie werden letztendlich unter Auflagen
genehmigt, von der Polizei geschützt, von Gegendemonstranten attackiert
und beschimpft. Das ganze Szenario wird dann vom Staatsschutz bzw.
allen beteiligten Parteien fein säuberlich auf Video gebannt und
ausgewertet.

Was
bleibt, ist außer der Gewissheit, dass sich solche Ereignisse bei
gegebenem Anlass auf jeder politischen, kommunalen oder
institutionellen Homepage wiederholen können, vor allem die Erkenntnis,
dass der „Fall sebnitz.de“ den Mechanismen von realem Protest auf der
Straße in frappierender Weise ähneln. Nötig wären vor allem der Schutz
und die Hervorhebung diskursorientierter Beiträge und damit der
Versuch, eine politische Artikulation und Partizipation von Bürgern im
Netz zu institutionalisieren und dahin zu lenken, wohin sie gehört: an
einen erst noch zu schaffenden öffentlich-rechtlichen
Kommunikationsraum im Netz.

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