Neue Internetangebote bringen Farbe
in den grauen britischen Wahlkampf



Am 7. Juni 2001 wird in Großbritannien
gewählt. Die Wahlen zum House
of Commons
(Unterhaus) versprechen wenig Aufregendes. "Dr Feelgood" Blair
führt in allen Meinungsumfragen mit großem Abstand – Überraschungen
werden nicht erwartet. Auch der Wahlkampf ist öde, seit Blair in einem klugen
strategischen Schachzug jene die Briten spaltende europäische Frage durch
ein erst nach den Wahlen geplantes Referendum von der Agenda des hemdsärmligen
konservativen Herausforderers William Hague genommen hat.

Die politische Online-Landschaft in England hat da schon einiges mehr zu bieten.
Angeregt durch die sites zum amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 2000
wie http://www.nadertrader.org
oder http://www.votetrader.org
lässt sich in Großbritannien derzeit auf vier websites der Stimmentausch
verabreden. Im britischen First-Past-The-Post-Wahlsystem
(relative Mehrheitswahl im Einerwahlkreis) wird jener Kandidat aus den 659 Wahlkreisen
in das Parlament entsandt, der die meisten Stimmen im Wahlkreis auf sich vereinigt
– auch wenn dies weniger als 50 Prozent der in diesem Wahlkreis abgegebenen
Stimmen sind. Alle anderen Stimmen sind "verloren". Anhänger der wenig
aussichtsreichen Liberaldemokraten im Wahlkreis Wimbledon schießen also
ihre Stimme "in den Wind", ebenso wie Unterstützer von Labour im Bezirk
Kingston & Surbiton: Hier haben Liberale die Tories bei den Unterhauswahlen
1997 knapp geschlagen, benötigen also jede Stimme, und Labour spielt praktisch
keine Rolle. Auf http://www.tacticalvoter.com
können sich wahlberechtigte Bürger zum Stimmentausch registrieren
lassen und werden über email miteinander in Kontakt gebracht. Auf diese
Weise lassen sich die zwei normalerweise verlorenen Stimmen retten – Vertragstreue
natürlich vorausgesetzt. In welchem Wahlkreis voteswapping Sinn macht,
läßt sich auf der site online in Echtzeit feststellen. Unterstützt
wird die mittlerweile von über 50.000 usern besuchte
Seite
durch die ehrwürdige Electoral
Reform Society
, die seit 116 Jahren Wahlen in Großbritannien betreut
und kommentiert. Vertreter der Gesellschaft haben wiederholt eine Reform des
britischen Wahlsystems eingefordert und sehen in der online-Verabredung zum
Stimmentausch eine ihrer zentralen Forderungen erfüllt: dass jede der abgegeben
Stimmen zählt.

Der Rockmusiker Billy Bragg ist Englands bekanntester bekennender Voteswapper:
mittels der von ihm eingerichteten site http://www.votedorset.org/
versucht er, durch den Stimmentausch mit den Nachbargemeinden Mid Dorset und
Poole North die knappe Mehrheit der Tories von lediglich 77 Stimmen bei den
Wahlen von 1997 zu verhindern. Rund 700 Anträge sollen bereits vorliegen.
Die obskure Seite http://www.stophague.com
fordert Wählerinnen und Wähler in Kingston & Surbiton und Wimbledon
auf, mit vereinten Kräften den Torie-Sieg in ihrem Wahlkreis zu verhindern.
Auch im politisch unruhigen Nordirland
soll durch Stimmentausch mit Wählern aus Winchester verhindert werden,
dass der als strammer Rechter geltende Kandidat Andrew Hunter nochmals ins Unterhaus
einzieht, der lediglich eine einfache Mehrheit von 43 Prozent hält . Der
Tactical
Voting Wizard
zeigt, in welchem Wahlkreis taktisches Wählen überhaupt
Sinn macht : Er nennt letzte Hochrechnungen für jeden Wahlkreis, auf deren
Basis Entscheidungen gefällt werden können.

Diese Sites kommen allesamt aus dem linken und liberalen Spektrum mit einem
gemeinsamen Ziel: Keep
the Tories out
. Torywatch
stellt sicher, dass kein politisch inkorrektes Zitat eines Torie-Kandidaten
der breiten Öffentlichkeit verborgen bleibt. Dahingehen haben die Konservativen
das Internet als Medium für politische Kampagnen noch nicht für sich
entdeckt. Insgesamt sind die britischen MP’s im Vergleich zu ihren deutschen
Kollegen eher zurückhaltend in der Nutzung des aussichtsreichen Kommunikationskanals.
Kaum ein Viertel der 659 britischen Parlamentarier hat eine eigene Homepage,
darunter 88 Labour, 34 Tories, 24 Liberals und ein Vertreter der Scottish Nationals.
In der Bundesrepublik hingegen haben alle Bundestagsabgeordneten einen eigenen
Internetauftritt.

Unterschiedlichen Schätzungen zufolge brachte taktisches Wählen
Blair bei den Wahlen
von 1997
bis zu 40 zusätzliche Sitze ein – ohne, dass im Vorfeld Absprachen
zwischen einzelnen Individuen getroffen worden wären. Wählerinnen
und Wähler wollten vor allem eins: den Wechsel nach 18 Jahren konservativer
Regierung.