Gleichgültig, ob man sie für eine weltverbesserische Illusion oder als neues Instrument der Internationalen Strafverfolgung betrachtet – die Internetkampagne der Organisation Invisible Children, die den Anführer der Lord’s Resistance Army (LRA), Joseph Kony, noch im Jahr 2012 auf die Anklagebank in Den Haag bringen will, hat eine bis dato unbekannte Dynamik im Netz entfaltet. Dabei geht es längst nicht mehr nur um die kontrovers diskutierte Machart der Kampagne, sondern um deren Folgen für das Verhältnis von Netz und Politik. Wird “Kony 2012” zum Muster für Interessen geleitete Netzgemeinden, die Agenda des Politbetriebes zu diktieren?

Die Anleitung zur Verbesserung der Welt klingt nach einer Wenigkeit: Dem Verbrechen – hier: Zwangsrekrutierung von Kindersoldaten in Uganda – wird ein Gesicht gegeben, das mittels Hashtags, Likes und Followers über Nacht bekannt, dank zwanzig prominenter Multiplikatoren sogar “berühmt” werden soll. Jeder Einzelne kann etwas beitragen, indem er Plakate und Armbändchen ersteht – das “Action Kit” für den Netzaktivisten. Die Überlegung dahinter: Die mediale Aufmerksamkeit schafft eine politisch bewusste Öffentlichkeit. Den nötigen Druck auf die Mächtigen, nach deren Forderungen zu handeln, üben zwölf im Politbetrieb einflussreiche Persönlichkeiten aus – sie sind die Katalysatoren für die Umsetzung von Verbrechen zu Gerechtigkeit, die am Internationalen Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag ablaufen soll.

So weit das Konzept der Kampagne, wie sie in der Dokumentation über den vom ICC gesuchten ugandischen War Lord Joseph Kony ausgebreitet wird. Und dieses scheint aufzugehen: Allein auf Youtube wurde der 30-minütige Film bereits über 80 Millionen Mal angeklickt. Prominente Unterstützer wie Angelina Jolie oder George Clooney verschaffen dem Thema mediale Aufmerksamkeit. Auch ICC-Chefankläger Luis Moreno-Ocampo, der ebenfalls in der Dokumentation zu Wort kommt, unterstützt die Internet-Kampagne. Und die ist rasant: Nach der Online-Plattform “Visible Measures” ist sie die am schnellsten wachsende überhaupt. In den ersten fünf Tagen generierte sie 70 Millionen Klicks, über 200 “video responses” wurden allein vom 05. bis zum 09. März hochgeladen. Nach neun Tagen stand fest: mit über 112 Milionen Klicks ist Kony 2012 das “viralste” Video des Jahres. Der Vorjahresgewinner brauchte ein ganzes Jahr lang für eine annähernd hohe Popularität. Zeitweise war der Begriff Kony in drei Prozent aller Tweets enthalten, wie man auf der Seite Trendistic nachlesen kann, die Twitter-Trends in Graphen nachzeichnet. Die Action Kits sind längst vergriffen. Eine halbe Million solcher Pakete haben Invisble Children 15 Millionen US-Dollar an Einnahmen – und reichlich Kritik – beschert.

Kony 2012 überholt und undifferenziert

Alles nur eine riesige Marketing-Kampagne für T-Shirts, Armbänder und CDs “Made in Afrika”? Verdient da eine NGO an der “Banalität des Sentimentalen”, wie etwa Teju Cole, amerikanischer Schriftsteller mit nigerianischen Wurzeln, als Antwort auf Kony am 08. März twittert? Der Vorwurf, es gehe hier um eine emotionale Bedürfnisbefriedigung – einen “industriellen weißen Erlöserkomplex” – wird vor allem in Uganda selbst geteilt. Das Klischee des hilflosen schwarzen Mannes, der seiner Probleme nicht Herr wird, sei in Kony 2012 allgegenwärtig. Der ugandische Journalist Angelo Izama bezeichnet die Kampagne auf seinem Blog als irreführende Darstellung einer längst vergangenen Ära. Kony befinde sich schließlich seit 2006 nicht mehr im Lande – die heutigen Probleme reichten von Korruption über soziale Konflikte bis hin zur unheilbaren “Nodding Desease”, von der rund 4000 Kinder betroffen sind. Kony ist schlicht ein Problem, dass heute von der ugandischen Bevölkerung nicht mehr wahrgenommen werde, fasst Leo Stollwitzer, der in Kampala das Straßenprojekt HOPE-F-U-L leitet, in einem ZEIT-Leserartikel die weit verbreitete Meinung über die Kampagne zusammen.

Dass die einseitige Darstellung des ugandischen Bürgerkrieges, die dramatischen Erlebnisberichte ugandischer Kinder und die Gleichsetzung Konys mit Hitler und Gadhafi der Inszenierungs-Strategie des Regisseurs und Invisble Children-Mitbegründers Jason Russell geschuldet ist, mag einleuchten. Der Erfolg gibt ihr Recht – am 24. Mai 2010 unterzeichnete Barack Obama im Beisein von Russell den LRA Disarmament and Northern Uganda Recovery Act, in dem sich die USA zur Ergreifung von Kony verpflichtet. Im Oktober 2011 wurden 100 neue US-Militärberater in die Region entsandt. Zwar waren schon unter George Bush US-Streitkräfte in Uganda erfolglos hinter Kony her, aber die Adelung der Lobbykampagne durch den US-Präsidenten suggeriert werbewirksam, erst dank #stopkony seien US-Politiker auf die LRA und ihre Gräueltaten aufmerksam geworden. Man muss mit der entsachlichten Machart des Videos nicht einverstanden sein – Tatsache ist, dass sie unzählige junge Leute dazu gebracht hat, die Email-Accounts von Kongressabgeordneten und Senatoren mit der Forderung, Kony zu stoppen, zu überschwemmen. In den USA ist dieser “bottom-up”-Ansatz stark an die Idee der Accountability, der Rechenschaftspflicht der Politiker vor dem Wahlvolk, geknüpft. Wer nicht spurt, wird nicht wieder gewählt.

Illusion des Klick-Aktivismus?

Wie ernst mittlerweile auch in der alten Welt Politiker die Forderungen von Internetkampagnen nehmen, zeigt die aufgeschobene ACTA-Ratifizierung in den europäischen Parlamenten. Kampagnen-Webseiten wie www.avaz.org mobilisieren den Netzwiderstand – über 100.000 Aktivisten unterschrieben beispielsweise die Petition gegen Waffendeals mit Saudi-Arabien, 37.000 Bürger spendeten für medizinische Unterstützung für Syrien und dafür, dass auch künftig Informationen für Journalisten aus dem Land geschmuggelt werden. Die Bürger nehmen die Politik selbst in die Hand, wo die Politiker versagen. Davon sind sie zumindest überzeugt. Die Politiker wiederum nehmen Online-Kampagnen als “Indikator für die öffentliche Meinung”, wie Johannes Hillje in einer Studie im Rahmen seiner Magisterarbeit herausfand. Demnach nehme der “Klick-Aktivismus” durchaus Einfluss auf die Agenda der Politik. Abgeordnete könnten es sich in zunehmendem Maße nicht mehr erlauben, breite gesellschaftliche Forderungen zu übergehen.

Und dennoch: Zumindest in Deutschland ist eine Verwobenheit zwischen Netz und Politik noch weit vom amerikanischen Kony-Muster entfernt. Die deutsche Regierung unterhält anders als in den USA etwa keinen Stab für Social-Media-Kampagnen. Dementsprechend wäre einer ähnlichen Lobbykampagne hierzulande vermutlich der Einlass ins Kanzleramt verwehrt geblieben. Dennoch dürfte man auch dort die Wirkung des Kony-Films genau mitverfolgt haben. Immerhin hat die Kampagne eindrucksvoll gezeigt, wie schnell sich eine (Welt-)Öffentlichkeit gegen ein bis dato weithin unbekanntes Menschenrechtsverbrechen einsetzt. Doch genau darin liegt auch die große Gefahr, die von Internetkampagnen ausgeht: Kony 2012 soll nach Angaben ihrer Macher als “erster Einstiegspunkt” in die Problematik dienen. Auf der Homepage von Invisible Children wird eingeräumt, dass “viele Nuancen” des 26 Jahre währenden Konflikts in 30 Minuten nicht berücksichtigt werden konnten. Problematisch, wenn die vereinfachte Botschaft – Uganda muss vom Joch Konys befreit werden – ein Weltpublikum erreicht.

ICC hat nach zehn Jahren erstes Urteil gesprochen

Das Hauptproblem bei Kony 2012 für das Verhältnis von Netzaktivisten und Politik ist aber nicht die Simplifizierung der Thematik, sondern ihre Beliebigkeit. Deren Forderungen obliegen rein subjektiven Interessen. Auf Grundlage der persönlichen Begegnung weniger US-Bürger mit traumatisierten ugandischen Kindern können keine stringenten außenpolitischen Maximen für das ganze Land abgeleitet werden. Und wie kann man die Ergreifung eines längst geschlagenen afrikanischen War Lords zu einem Zeitpunkt fordern, an dem Despoten wie Assad ungestraft tausendfach das eigene Volk morden? Vielen kam der Wirbel um Kony deshalb unverhältnismäßig vor. Gerade dieser Willkür in der Beobachtung und Ahndung von Menschenrechtsverbrechen sollen Institutionen entgegenwirken. Denn wer kennt schon die Strafregister von Bahr Idriss Abu Garda (Darfur, Sudan), Jean-Pierre Bemba Gombo (Zentralafrikanische Republik) oder Germain Katanga und Mathieu Ngudjolo Chui (Demokratische Republik Kongo)? Um nur drei von den derzeit 15 Fällen aufzuzählen, in denen der ICC wegen Verbrechen an der Menschlichkeit ermittelt.

In Anbetracht des geringen Interesses für die Arbeit des ICC leuchtet die Unterstützung des Chefanklägers Ocampo für Invisible Children ein. Denn sie schafften “Aufmerksamkeit für ein Thema, für das sich vorher niemand interessiert hat”. Und die benötigt der Internationale Strafgerichthof, der durch das Rom-Statut vor zehn Jahren ins Leben gerufen wurde. Der Gerichtshof erregte gerade mit der Verkündung seines ersten Urteils am 14. März 2012 weltweite Aufmerksamkeit. Thomas Lubanga Dyilo wurde für schuldig befunden, Kinder als Soldaten für die kongolesische Armee rekrutiert zu haben. Bislang haben erst 120 Länder das Rom-Statut ratifiziert. Nur in diesen Ländern ist der ICC befugt, Völkerrechtsverbrechen erst überhaupt anzuklagen. Vielleicht kann die Netzjagd auf Kony helfen, sich der Straflosigkeit vieler Despoten und Rebellenführer in weiten Teilen der Welt bewusst zu werden. Dennoch: Es bedarf der Arbeit der mutigen Menschenrechtsaktivisten und -Beobachter vor Ort, zu dokumentieren und belastendes Material an die UN oder den ICC weiterzuleiten. Dank deren Einsatzes wurde im Fall Kony bereits 2005 Haftbefehl erlassen. Im selben Jahr übrigens, in dem Youtube gegründet wurde.



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