8734094243_4c13952e4c_zIm Bildungssystem der Zukunft muss das Erlernen von kritischem Denken, eigenständigem Handeln und der Vorbereitung auf lebenslanges Lernen konkret gefördert werden. Diese Fähigkeiten sieht Bildungsforscher Andreas Schleicher als elementar für die Zukunft unserer Gesellschaft. Der Koordinator der PISA-Studie fordert mehr Freiräume für die Schulen, um neue Bildungsformate zu ermöglichen. Im Interview berichtet er, wie das funktionieren kann und worin er die größte Herausforderung sieht.

Vor allem die Digitalisierung der Gesellschaft macht nach Ansicht des Leiters des Direktorats für Bildung der Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) eine Reformation des Schulsystems nötig. Wie schon auf der OEB 2016 betont Schleicher im Interview mit politik-digital, dass der rasante Fortschritt der Technologie die Arbeitswelt vollständig verändern wird, und erklärt, was genau in der Bildung getan werden muss, um die nächste Generation darauf vorzubereiten.

Herr Schleicher, Sie betonen oftmals die Wichtigkeit numerischer Kompetenzen von Schülern. Ist Deutschland im Anbetracht der guten Pisa Ergebnisse im Bereich Mathematik auf einem guten Weg, oder gibt es noch viel zu tun?

In den Jahren nach dem PISA Schock ist es Deutschland gelungen, die mathematischen Fähigkeiten der Schüler deutlich zu verbessern, allerdings hat sich in den letzten 10 Jahren nicht mehr viel bewegt, während die Anforderungen in der Gesellschaft in diesem Bereich ständig steigen. Letztlich muss ein Land wie Deutschland so viel besser sein wie es teurer ist.

Im Bereich Naturwissenschaften wurden dieses Jahr auch prozedurales und epistemisches Wissen, also komplexe Fragestellungen und Probleme getestet. Dort jedoch schnitten deutsche Schüler nicht so gut ab wie bei der reinen Wissenswiedergabe. Genau dieses Fehlen von Skills wie kritisches Denken und Hinterfragen kritisieren Sie am Bildungssystem. Wie kann das verändert werden?

Bei der Wiedergabe von naturwissenschaftlichem Fachwissen sind deutsche Schüler relativ gut. Wenn es aber darum geht, dieses Wissen kreativ auf neue Zusammenhänge zu übertragen und wie ein Naturwissenschaftler zu denken, scheitern viele Schüler in der Bundesrepublik. Dabei ist genau das eine der Schlüsselkompetenzen in der Zukunft – schließlich spuckt einem Google binnen Millisekunden das Fachwissen der gesamten Welt aus. Wir können heute fast jede Multiple-Choice-Klassenarbeit mit Hilfe eines Smartphones in Sekundenschnelle lösen. Wenn wir wollen, dass unsere Kinder nicht nur fast so gut wie ein Smartphone sind, dann müssen wir neue Fähigkeiten für das 21. Jahrhundert entwickeln. Die großen Durchbrüche und Paradigmenwechsel entstehen heute meist dann, wenn es gelingt, verschiedene Aspekte oder Wissensgebiete, zwischen denen Beziehungen zunächst nicht offensichtlich sind, kreativ und kooperativ zu verknüpfen. Der Erfolg von Schule muss sich heute außerdem an der Fähigkeit und Motivation der Menschen messen, lebensbegleitend zu lernen, sich in einer sich verändernden Welt immer wieder neu zu positionieren, eigenständig und verantwortungsbewusst zu handeln und eigene Pläne und Projekte in größere Zusammenhänge zu stellen. Letztlich geht es darum, Schülern einen Kompass mit an die Hand zu geben, mit dem sie sich in einer komplexen, volatilen und sich beständig ändernden Welt selber zurechtfinden können.

Da ist die Politik gefragt, mehr Freiräume für die Schulen zu schaffen. In einer modernen Gesellschaft kann auch der beste Bildungsminister nicht mehr die Herausforderungen für hunderttausende Lehrer und zehntausende Schulen bewältigen. Wenn es aber gelingt, den Ideenreichtum hunderttausender Lehrer und Schulen zu mobilisieren und in die Gestaltung von Bildungsprozessen einzubringen, dann kann es gelingen, das beste Bildungssystem zu schaffen und die Herausforderungen der modernen Gesellschaft zu bewältigen. Die Gesellschaft erwartet von modernen Schulen, dass sie Veränderungen in der Gesellschaft aktiv wahrnehmen und Schüler auf neue Herausforderungen vorbereiten, und dass sie innovative Lösungen finden wie, wo und mit wem Schüler lernen. Wenn wir die Schule heute neu erfinden würden, würde irgendjemand mit dem heutigen Schulsystem zufrieden sein, mit der Art und Weise wie wir die Menschen, die Lernorte, die Zeit und die Technologie dort heute einsetzen?

Sie sehen ein wesentliches Ziel der Bildung in den nächsten Jahren darin, den Menschen mehr digitale Kompetenzen beizubringen. Wie soll dies in den Schulen umgesetzt werden?

Schüler, die nicht in der Lage sind, in der komplexen digitalen Landschaft zu navigieren, nehmen nicht mehr vollständig am wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben um sie herum teil. Wir erwarten von Schulen, dass sie unsere Kinder zu kritischem Umgang mit dem Internet und der elektronischen Medien erziehen. Warum sollten Schüler sich auf ein Lehrbuch beschränken, das zwei Jahre zuvor gedruckt und vielleicht zehn Jahre zuvor erstellt wurde, wenn ihnen die weltweit besten und aktuellsten Lehrmaterialien offenstehen? Ebenso wichtig ist, dass Lehrern und Schülern durch die Technologie spezielles Lehrmaterial jenseits der Lehrbücher zugänglich ist, in zahlreichen Formaten und mit wenigen zeitlichen und räumlichen Beschränkungen. Die Technologie bietet außerdem eine Plattform, auf der Lehrer Unterrichtsmaterial gemeinsam erarbeiten, teilen und erweitern können. Am wichtigsten aber ist vielleicht, dass Technologie eine neue Pädagogik unterstützen kann, die sich auf Lernende als aktive Teilnehmer fokussiert, sei es durch experimentelles oder projekt-basiertes Lernen, praktische Aktivitäten und kooperatives Lernen oder höchst interaktiv durch nichtlineare Lernsoftware in modernem Design sowie durch bildendes Gaming. Deutschland ist aber noch weit davon entfernt, die Früchte der Technologie im Bereich der Bildung zu ernten. Das kann bedeuten, dass die Technologie des 21. Jahrhunderts verbunden mit der Lehrpraxis des 20. Jahrhunderts die Wirksamkeit auf das Lernen verwässert. Mit anderen Worten: Schulen sind pädagogisch einfach noch nicht so gut, um das Beste aus der Technologie zu machen. Wenn Schüler Smartphones benutzen, um Antworten per Copy und Paste unter vorgefertigte Google-Fragen zu setzen, dann werden sie wohl kaum schlauer. Wahrscheinlich überschätzen wir die digitalen Fähigkeiten von beiden – Lehrern und Schülern, und wir sehen wenig durchdachte Regeln und Strategien zur Implementierung. Nicht zuletzt, wenige Kinder würden wahrscheinlich freiwillig mit der dürftigen Lehr-Software spielen, die Technologie-Unternehmen noch immer an Schulen verkaufen können. Im Ergebnis sind die Verbindungen zwischen Schülern, Computern und Lernen weder simpel noch programmiert; und die wahren ICT-Beiträge fürs Lehren und Lernen sind noch nicht voll erkannt und genutzt.

Wie schätzen Sie die digitalen Kompetenzen der deutschen Bevölkerung im weltweiten Vergleich ein?

Deutschland liegt hier im guten Mittelfeld, allerdings steht die ältere Bevölkerungsgruppe relativ gesehen besser da als die 16-24-Jährigen.

Sie kritisieren auch, dass der soziale Stand der Menschen oftmals den Bildungsweg schon vorgibt, z.B. dass Kinder in Familien mit Akademikereltern auch zu Akademikern werden und Arbeiterkinder eher seltener studieren. Denken Sie diese Prozesse werden durch die Digitalisierung eher verstärkt oder vermindert?

Darin liegt das Potenzial der Digitalisierung. Allerdings sehen wir auch hier immer noch fast ebenso große soziale Unterschiede in den digitalen Kompetenzen wie in den Fachleistungen.

Titelbild: re:publica 2013: Tag 3 – Andreas Schleicher by Tony Soja via flickrCC BY-SA 2.0

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