Gewerkschaftliche Anpassungsstrategien in der Neuen Ökonomie


Noch ist das Kind nicht geboren, aber es schreit schon: Die fünf Begründer der geplanten Vereinten
Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) zeigten sich auf ihrer Konferenz zur
Mitbestimmung in Hamburg entschlossen, Mitglieder und Einfluß zurück zu gewinnen. Das ist auch nötig, denn
besonders in der IT-Branche laufen sie der Entwicklung bisher hinterher.

Eine gute Analyse ist bekanntlich Grundbedingung einer erfolgreichen Strategie. Und die Analyse, die die
zukünftigen ver.di-Mitglieder in Hamburg vorgetragen haben, legt zumindest reichlich Handlungsbedarf nahe:
Veränderungen in Betrieben und Verwaltungen schwächten das System der Mitbestimmung zunehmend.
(Groß-)Betriebsstrukturen lösten sich auf. In mittleren und kleinen Betrieben würden Mitbestimmungsrechte der
Betriebsräte und Jugend- und Auszubildendenvertretungen eingeschränkt oder entfielen ganz. Als Folge genügten
die geltenden gesetzlichen Regelungen zur Mitbestimmung nicht mehr den veränderten betrieblichen
Anforderungen, etwa zur Beschäftigungssicherung oder bei der Anwendung moderner Technologien.

"Heute werden nur knapp 40 Prozent der Beschäftigten durch Betriebsräte vertreten." schreiben die Gewerkschafter
in ihrer Hamburger Erklärung und liefern die Lösung gleich
mit: "Die ver.di-Gewerkschaften DAG,
DPG, HBV, die
IG Medien und die ÖTV sehen in der
Sicherung und im Ausbau der Mitbestimmung eine herausragende Aufgabe für die zukünftige Arbeit der neuen
Dienstleistungsgewerkschaft."

Nun stellt die Hamburger Erklärung natürlich nur einen Schritt auf dem Weg zu einer gemeinsamen
(Erfolgs-)Strategie dar. Aber ein wenig Eigenwerbung in Sachen Daseinsberechtigung kann ver.di momentan gut
gebrauchen. Zum einen ist die Fusion noch nicht beschlossene Sache, und die Basis, die den Zusammenschluß
absegnen muß, zögert. Im März 2001 werden die Mitglieder der ÖTV über ver.di abstimmen, 80 Prozent
Zustimmung sind erforderlich. Bisher haben sich aber lediglich zwei Drittel für den Zusammenschluß
ausgesprochen. Das Plädoyer für mehr Mitbestimung in den Betrieben soll sicherlich auch die Akzeptanz der
neuen Mega-Gewerkschaft fördern.

Zum anderen haben die Gewerkschaften seit Jahren mit Mitgliederschwund und sinkendem politischen Einfluß zu
kämpfen. Durch Frühverrentung und Entlassungen sind viele alteingesessene Mitglieder verloren gegangen, das
Interesse der Jüngeren ist gering. Am extremsten ist die Situation in den Betrieben der "neuen Ökonomie", also
der IT-Branche. Die gewerkschaftliche Organisierung ist hier besonders in den "Start-Up-Unternehmen" nur
schwach ausgeprägt – und diese Formulierung ist eigentlich schon der pure Euphemismus.

Die Organisationsweise der Gewerkschaften wirkt hier oft anachronistisch, denn die Branchengrenzen in den
Bereichen Neue Kommunikationstechnologien, Informationstechnologie, Telekommunikation und Datenverarbeitung
verschwimmen und verändern sich genauso sehr wie die Formen der Arbeit. Damit stehen die in der Branche
auftretenden Strukturveränderungen in wachsendem Widerspruch zu den Prinzipien der herkömmlichen Tarifpolitik.
Diese geht von einer branchenorientierten, betriebsgebundenen Arbeitsweise aus, die weitgehend mittel- bis
langfristig in (flächendeckenden) tariflichen Rahmenbestimmungen festgelegt wird. Zuständig ist immer genau eine
Gewerkschaft. Es gibt keine grenzüberschreitenden Geltungsbereiche.

Reinhard Bispinck vom Wirtschafts- und
Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung (WSI) beschreibt die
Probleme, die für die Gewerkschaften erwachsen: "Auf dem Weg zur Informationsgesellschaft entstehen immer
mehr "weiße Flecken" auf der tarifpolitischen Landkarte. D.h.: Zahl und Umfang der Bereiche ohne tarifliche
Regelung von Arbeits- und Einkommensbedingungen nehmen zu. Nimmt man die Erosion der bestehenden
(Flächen-)Tarifverträge hinzu, droht die Gefahr einer tarifpolitischen Segmentierung und Spaltung mit
problematischen Langfristwirkungen." Die Tarifpolitik bedürfe daher einer systematischen
zwischengewerkschaftlichen Koordinierung. Die vielfach zu beobachtende Tarifkonkurrenz müsse
einer zielgerichteten Tarifkooperation weichen.

Diese Pläne wecken aber bei vielen Mitgliedern auch Zweifel. Die Basis befürchtet besonders, durch die
Zentralisierung an Einfluß zu verlieren. Der Vorstand der ÖTV
forderte daher Ende März, "dass die Vertreterinnen und Vertreter der Arbeiterinnen und Arbeiter und Beamtinnen
und Beamten in den Ebenenvorständen ein Stimmrecht erhalten und wie eine Personengruppe behandelt werden."
Hauptstreitpunkt ist in diesem Zusammenhang die Aufteilung der Bezirke. Weigern sich die anderen vier
Gewerkschaften, die von der ÖTV geforderten Strukturen zu akzeptieren, droht ein Scheitern des gesamten
Unterfangens.

Wohl auch deshalb setzen die fünf, die gemeinsam gut 3,3 Millionen Mitglieder aufbringen, auch auf eine größere
Differenzierung. Eine mögliche Lösung sei unter anderem eine stärkere Prozeßorientierung der Bestimmungen,
argumentiert etwa Reinhard Bispinck. Projekttarifverträge, Erprobungsklauseln, und Vereinbarungen unterhalb der
Ebene harter tariflicher Regelungen seien ebenfalls zu erwägen. So oder so würden neben den Flächentarifvertrag
in stärkerem Umfang Firmentarifverträge treten. Da ist es konsequent, die betriebliche Mitbestimmung zu stärken.
Denn nur so kann aus der Analyse auch eine erfolgreiche Strategie erwachsen.