Kann die gemeinsame, positive Vision einer vernetzten Gesellschaft gelingen? Für Gesche Joost ist die gesellschaftspolitische Debatte an einem Scheidepunkt angekommen. Es geht, so zieht die Netzpolitik-Expertin ein Zwischenfazit, nun darum, Grundlagen und Rahmenbedingungen zu definieren, um die positive Entwicklung der deutschen Netzpolitik fortzuführen.

Vor einigen Jahren war die Netzpolitik noch der Problembär des Politischen. Sie zeichnete sich durch ihr Kontra aus – durch ein Entgegenstemmen, um das Schlimmste zu verhindern, gegen Netzsperren, gegen ACTA, gegen die Vorratsdatenspeicherung. Sie wurde hochgehalten von den technisch Versierten, denen die Konsequenzen der politischen Entwicklungen für das Netz bewusst waren – und die damit in der Minderheit waren. Netzpolitiker wurden vor einigen Jahren noch in der Ecke der Nerds und Hacker geparkt, sie galten als all jene also, denen kaum gesellschaftspolitische Bedeutung zugemessen wurde.

Gesche Joost
Gesche Jost ist Designforscherin und seit 2013 Vorstandsmitglied der TSB Technologiestiftung Berlin. Im Mai 2013 berief sie der damalige SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück in sein Kompetenzteam als netzpolitische Expertin.

Das ist anders geworden – und damit ist die Netzpolitik heute in die erste Reihe getreten. Der Begriff „Vernetzte Gesellschaft“, der im Wahlkampf verwendet wurde, beschrieb die Idee, dass es sich nicht nur um politische Entscheidungen handelt, die das Netz als technologische Infrastruktur betrifft, sondern vielmehr fragt, ob eine gemeinsame, positive Vision einer vernetzten Gesellschaft gelingen kann. Natürlich spielen dabei Fragestellungen der Partizipation eine Rolle, die Frage, wie man die digitale Spaltung überwinden kann, Fragen der Wertvorstellung, die wir als Gesellschaft mit dem offenen dezentralen, neutralen und freien Netz verbinden. Politisch notwendig und gesellschaftlich relevant ist daher ein Gesamtkonzept, eine große Erzählung, wie wir uns eine solche Gesellschaft vorstellen, wie wir ihren Schattenseiten begegnen, und war wir uns von der Vernetzung versprechen. Vor einem Jahr noch war die Digitalisierung verbunden mit der Vorstellung von Fortschritt und Wirtschaftswachstum, mit global vernetzter Kommunikation in Echtzeit und mit dem Möglichkeitsraum, den „open everything“ uns schafft. Heute, seit der NSA Skandal in seiner vollen Schlagkraft in unserem Bewusstsein angekommen ist, wird diese Vorstellung überschattet von der Angst vor Überwachung, vor ungehemmter Nutzung unserer privaten Daten durch globale Konzerne, von der Konzeption des „Users“ als Konsument, als Datenproduzent, als Objekt.
Evgeny Morozov kritisiert den Diskurs, in dem der Zugang zu Technologien und Tools eine Ermächtigung des Individuums entworfen wird, als „Idiotie“, geprägt vom kapitalistischen Modell des Silicon Valley. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz warnt indes vor „technologischem Totalitarismus“ und skizziert die Bedrohung der Demokratie vor dem Hintergrund einer entfesselten Datensammlung, die massiv Bürgerrechte verletzt.
Ist die Vision einer gelingenden vernetzten Gesellschaft damit passé, geht es jetzt nur noch um Schadensbegrenzung? Und wird sich als Konsequenz das offene, dezentral organisierte, freie Netz in Ländernetze fragmentieren, die die Grundidee des Internets zerstören?
Wir sind an einem Scheidepunkt in der gesellschaftspolitischen Debatte, in der es darum geht, die Wertvorstellung der vernetzten Gesellschaft, ihre Grundlagen und Rahmenbedingungen zu definieren und darauf praktische Handlungen für die Politik abzuleiten. Das ist – so hoffe ich zumindest – mit dem Begriff der „Digitalen Agenda“ gemeint, die die Bundesregierung beschreiben will. Dafür ist es immanent wichtig, diese Agenda nicht nur auf nationaler Ebene zu denken – sondern gleich im europäischen Kontext, in dem man eine klare Bekenntnis zur Offenheit des Netzes und seinen Potentialen für die Gesellschaft formulieren muss. Im zweiten Schritt muss diese Agenda international gedacht werden, um auf UN-Ebene für einen Code of Conduct einzutreten, der die Bürgerrechte sichert. Das umzusetzen, wird sicherlich die nächsten Jahre in Anspruch nehmen – die Notwendigkeit ist jedoch heute schon klar erkennbar. Auf die “Digitale Agenda” gehört die Verwirklichung vernetzter Bildung und die Förderung von OER, die Möglichkeit politischer Teilhabe über digitale Plattformen, die Sicherung der Bürgerrechte und eine Definition der geschützten Privatsphäre, es gehört darauf ein Entwurf einer nachhaltigen Datenpolitik, die big data nicht verteufelt, aber klare Rahmenbedingungen für die Datennutzung schafft, und eine klare Benennung der Konsequenzen, die aus der NSA-Affäre gezogen werden. Es gehört noch vieles mehr auf diese Agenda, an deren Erarbeitung möglichst viele unterschiedliche Akteure beteiligt werden sollten, die außerhalb der traditionellen Lobby-Gruppen stehen. Ich bin gespannt auf die ersten Entwürfe der “Digitalen Agenda” und wünsche dem neuen Ausschuss im Parlament bei seiner Arbeit viel Erfolg.
Dies ist ein Crosspost von dem Blog der Autorin. Der Artikel ist zuerst dort erschienen.
Bilder: oben: marsmet548 (CC BY-NC-SA 2.0), Portrait: SPD
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