Für die Berliner CDU wird die Kampagne gegen
die doppelte Staatsbürgerschaft zum Drahtseilakt:
Absturz droht Von WOCHE-Autor Christoph Seils.


Wenn die derzeitige Zerrissenheit der CDU einen
Namen hätte, dann hieße sie Eberhard Diepgen. Der
Regierende Bürgermeister von Berlin trägt den Konflikt,
den die Unterschriftenaktion gegen die doppelte
Staatsbürgerschaft ausgelöst hat, gleichsam in sich
selbst aus. Hin- und hergerissen zwischen den
Erfordernissen, die die Regierungstätigkeit in einer
Stadt mit 440 000 Ausländern mit sich bringt, und der
Loyalität zu CDU-Chef Wolfgang Schäuble, bot
Diepgen in den letzten Tagen ein Paradebeispiel
politischer Schizophrenie. Erst wehrte er sich hinter
den Kulissen matt gegen die Kampagne, dann stimmte
er matt zu. Begleitet allerdings von der Ermahnung des
Fraktionsvorsitzenden Klaus-Rüdiger Landowsky: ,Wir
müssen die Anwesenheit von Ausländern in der Stadt
als Chance, nicht als Bedrohung begreifen."

So dürfte es eher an einen Drahtseilakt denn an eine
Kampagne gemahnen, wenn die Berliner CDU mit
Tapeziertischen losziehen wird, um Volkes Unterschrift
zu ergattern. Denn immer mehr Mitglieder zweifeln am
Sinn der Aktion. Volker Hassemer, ehemals Senator
und jetzt als Chef der Marketing-Gesellschaft ,Partner
für Berlin" um das Image der Stadt besorgt, meint,
dass es für die Hauptstadt ,wichtigere Themen gibt".
Weniger diplomatisch drückt sich Finanzstaatssekretär
Peter Kurth aus: ,Das ist ein politischer Fehler."
Insgeheim befürchtet man in der Parteispitze, dass
ganze Parteigliederungen der Aktion fernbleiben
könnten. Der Vorsitzende des Kreisverbandes
Wedding, Peter Gierich, etwa kritisiert, die Kampagne
fördere nur die ,Verunsicherung" bei den ausländischen
Mitbürgern. Der Kreisvorsitzende von Schöneberg,
Gerhard Lawrentz, ist zwar ein vehementer Gegner der
doppelten Staatsbürgerschaft. Aber selbst er will erst
einmal den Text der Unterschriftenaktion lesen und
wissen, ,was da eigentlich gefordert wird".

So lange wollten Jutta Finger und Marie
Bergmann-Bendin, beide Mitglieder in der
Bezirksverordnetenversammlung Neukölln, nicht
warten. Sie gaben ihre Parteibücher zurück. Jutta
Finger, weil sie die ,Ausländerfeindlichkeit und das
Macho-Gehabe" in dem Kreisverband nicht mehr
ertragen konnte. Bergmann-Bendin, weil sie zweifelte,
dass die CDU in der Lage ist, eine konstruktive
Auseinandersetzung zur Lösung der Probleme" zu
führen. Noch spricht der Berliner CDU-Generalsekretär
Volker Liepelt von ,Einzelfällen". Die Befürworter der
doppelten Staatsbürgerschaft seien eine
,verschwindende Minderheit". Aber die Unzufriedenheit
in Teilen der mehrheitlich stockkonservativen Berliner
Partei ist nicht zu überhören. So spricht etwa der
Zukunftskreis der Berliner CDU, ein Zusammenschluss
von etwa 50 liberalen Mitgliedern, von einer ,Neid- und
Hetzkampagne" und fordert wie Rot-Grün die
,regelmäßige Hinnahme von
Doppelstaatsangehörigkeiten". ,Heuchlerisch" sei es,
so der Sprecher des Kreises, Andrew Campbell, wenn
die CDU in diesem Zusammenhang das Wort
Integration im Mund führe. Und Berlins
Ausländerbeauftragte Barbara John warnt ihre Partei vor
einer ,Stimmungsmache", die nicht dem
Zusammenleben diene.

Nicht nur sie fürchtet, dass die deutsche Hauptstadt, in
Kürze auch Regierungssitz, durch die
CDU-Unterschriftenaktion in den Geruch der
Fremdenfeindlichkeit kommen könnte ­ eine
verheerende Entwicklung angesichts von 13,9 Prozent
ausländischen Einwohnern. Zwar gibt es westdeutsche
Städte mit einem höheren Ausländeranteil ­ in Hamburg
etwa beträgt er 18,2 Prozent , in Frankfurt am Main
sogar 28,5 Prozent. Aber in keiner anderen Stadt leben
mehr Ausländer. Von den 440 000 stellen die Türken
mit etwa 136 000 die größte Gruppe. Insgesamt prägen
Bürger aus 184 Staaten das Bild von der
multiethnischen und multikulturellen Metropole. Mit
allen Widrigkeiten. Vor allem in den Innenstadtbezirken
wie Kreuzberg, Tiergarten oder Wedding mit einem
Ausländeranteil von über 25 Prozent konzentrieren sich
die Integrationsprobleme: militante türkische
Jugendgangs, Sprachprobleme an den Schulen, hohe
Arbeitslosigkeit. Weil das so ist, versucht die Große
Koalition in Berlin schon lange die doppelte
Staatsbürgerschaft als Integrationshilfe zu nutzen.
Auch und gerade unter dem CDU-Bürgermeister
Eberhard Diepgen, der nun gleichsam eine
Unterschriftenaktion gegen seine eigene Politik
durchführt. Denn in Berlin erhielten mittlerweile etwa 6
Prozent aller anspruchsberechtigten Ausländer den
deutschen Pass ­ im Bundesdurchschnitt sind es nur
etwa 1 Prozent. In den letzten zehn Jahren wurden
rund 90 000 Ausländer eingebürgert, bei fast jedem
vierten Einbürgerungswilligen wurde von den Berliner
Behörden die ,Mehrstaatlichkeit" offiziell hingenommen.

,Irrsinnig und hirnlos" nennt die deutsch-türkische
Ausländerbeauftragte des Bezirks Schöneberg, Emine
Demirbüken, denn auch die Vereinfachung des
komplexen Themas auf die Alternative ,ja" oder ,nein".
Peter Kurth fordert stattdessen ein ,ehrliches
Integrations- und Einbürgerungsangebot". Demirbüken
und Kurth bemühen sich seit Jahren darum,
türkischstämmige Deutsche für die Union zu gewinnen.
Auf Initiative Kurths gründete sich im März 1996 in
Berlin die Deutsch-Türkische Union (DTU). Die
Anerkennung als offizielle Parteigliederung jedoch
scheiterte an der rechten Mehrheit in der Partei, was
bedeutet, dass die mittlerweile mehreren Hundert
türkischen CDU-Mitglieder in die Willensbildung der
Partei nicht einbezogen werden.

Ein Fehler, wie Demirbüken und Kurth meinen. Denn
über 10 000 türkische Selbstständige und Unternehmer
mit einem Jahresumsatz von mehr als 5 Milliarden
Mark (2,55 Mrd. Euro) suchen seit langem nach einem
Sprachrohr in der Politik. Wenn Schätzungen stimmen,
dass zwei Drittel aller in Deutschland lebenden Türken
die doppelte Staatsbürgerschaft anstreben, wächst in
Berlin in den kommenden Jahren ein neues wichtiges
Wählerpotenzial heran. "Wir haben als
liberal-konservative Partei die Chance viele türkische
Wähler zu gewinnen", glaubt Peter Kurth. Besonders
im türkischen Mittelstand und der Oberschicht ­ ideale
Multiplikatoren innerhalb der türkischstämmigen
Minderheit.

Dass sich die Union selbst dieser Chance beraubt,
zeigt nach Ansicht von Mustafa Cakmakoglu, der auch
der CDU angehört, wie sehr diese Partei noch ,im
nationalen Denken verhaftet" sei. Vor allem der
RAF-Vergleich Edmund Stoibers und die pauschale
Kriminalisierung von Doppelstaatlern, so Cakmakoglu,
der Ausländerbeauftragter des Bezirks Tiergarten ist,
habe aufgeschreckt. Und der DTU-Vorsitzende Ertugrul
Uzun befürchtet gar, dass alle Wahlkämpfe dieses
Jahres ,auf dem Rücken von Minderheiten"
ausgetragen werden. Doch die Wirkung beim
deutschen Wähler, meint Peter Kurth, wird sich in
Grenzen halten: "Mit diesem Thema kann die CDU
keine Wahlen gewinnen."

Das wissen auch die Wahlkampfstrategen der
Hauptstadt-CDU, die mit den Vorbereitungen auf die
Wahl zum Abgeordnetenhaus im Oktober beschäftigt
sind. Mit markigen Sprüchen lässt sich zwar die Partei
zusammenhalten. Aber schon 1989 hatte die CDU bei
den Wahlen zum Abgeordnetenhaus mit einer
Kampagne gegen Asylbewerber zwar die
rechtsextremen Republikaner stark gemacht, selbst
aber die Wahlen klar verloren. Auch die Versuche des
Ex-Innensenators Jörg Schönbohm sich mit der
Forderung nach Auflösung von ,Ausländergettos" oder
der Massenabschiebung von bosnischen
Bürgerkriegsflüchtlingen als Hardliner in der
Ausländerpolitik zu profilieren, wurden von den Berliner
Wählern bei den Bundestagswahlen nicht goutiert. Die
CDU in der Hauptstadt stürzte mit
überdurchschnittlichen Verlusten auf einen historischen
Tiefststand von 23,7 Prozent.

Offiziell verbreitet der Berliner CDU-Generalsekretär
Volker Liepelt allerdings noch Durchhalteparolen: ,Es
gibt keinen Kreisverband, der die Unterschriftenaktion
ablehnt." Heinz Schlicks sieht das anders: ,Wir werden
uns nicht auf die Straße stellen." Heinz Schlicks ist
CDU-Kreisvorsitzender in Kreuzberg.