Zur Online-Aktivistin wurde Jillian C. York, als sie in Marokko erstmals mit Internetzensur konfrontiert wurde. Heute ist sie Direktorin für freie Meinungsäußerung bei der Electronic Frontier Foundation und gefragte Expertin für den Mittleren Osten. Mit politik-digital.de sprach sie über ihren grenzenlosen Optimismus und die Grenzen ihres Kampfes.

Unter Yorks Arbeitskollegen bei der Electronic Frontier Foundation (EFF) in San Francisco kursiert ein Witz, der Yorks auffälligste Charaktereigenschaft auf den Punkt bringt: An dem Tag, an dem es keine Zensur mehr gebe, werde sie jedem einen mit Diamanten besetzten Kuchen schenken. Yorks Zuversicht kann lediglich die Tatsache trüben, dass sie sich die Edelsteine wohl nie wird leisten können. York lacht, als sie die Anekdote erzählt. Wer die US-Amerikanerin erlebt, würde nicht vermuten, dass sie die Welt in unmittelbarer Gefahr sieht. Eine Gefahr, die von zunehmender staatlicher Überwachung ausgeht – im Mittleren Osten gleichsam wie in westlichen Demokratien.

Auf der Berliner Internetkonferenz “re:publica” wirkt York entspannt und heiter. Warmes Nachmittagslicht fällt auf Yorks Gesicht, überflutet dank großzügiger Oberlichtflächen weite Teile der Halle 3 der STATION Berlin. Die beschwingte Atmosphäre im ehemaligen Postbahnhof ist förmlich zu greifen. Vielleicht erscheint York deshalb so sorgenlos. Vielleicht aber auch, weil die Dinge, die sie wütend machen, an diesem Tag so weit weg scheinen: die Cybersecurity-Gesetze in den USA, die Geißelung der Meinungsfreiheit im Mittleren Osten, die Bedrohung der Blogger in der arabischen Welt. Wenn York spricht, glänzen ihre Augen und träumen von einer Welt ohne Zensur – totale Meinungsfreiheit für alle. Das ist ihr Steckenpferd, dafür kämpft sie. Selbst wenn es sich York bisweilen einfach macht, wie sie selbst einräumt, indem sie keine Graustufen anerkennt. “Für mich gibt es beim Thema Meinungsfreiheit nur schwarz und weiß”, stellt sie klar. Die Online-Aktivistin macht den Eindruck einer Frau, die aus Prinzip handelt – sich aber gleichzeitig der Grenzen ihres Handeln bewusst ist.

Zensur in palästinensischer Autonomiebehörde aufgedeckt

Dass York mit ihrem Einsatz Dinge bewegen kann, macht sie stolz. Als jüngsten Erfolg wertet sie den Rücktritt des Kommunikationsministers der Palästinensischen Autonomiebehörde, nachdem Zensurpraktiken im Westjordanland ans Licht kamen. York selbst bezeichnet dies als “pretty cool”. Sie hatte den verantwortlichen Journalisten mit den Technikern zusammen gebracht, die die Enthüllung erst möglich gemacht hatten. Dennoch will York den Erfolg nicht für sich allein verbuchen. Es ist auch diese Bescheidenheit, die York sympathisch macht. Zumal ihre Verdienste um die universelle Meinungsfreiheit unbestritten sind. Als Projektkoordinatorin forschte sie 2008 bis 2011 am Berkman Center for Internet and Society in Harvard zum Thema Cyberspace, unter anderem an einem Projekt, dass Zensurtechnologie weltweit dokumentiert und offenlegt. Die Nachforschungen ergaben unter anderem, dass zwischen 2010 und 2011 neun Länder des Mittleren Osten und Nordafrikas westliche Überwachungstechnologie zur Internetzensur verwenden. Die Debatte, die sich daran entzündete, hat mittlerweile sowohl die Obama-Regierung als auch das EU-Parlament zum Handeln gezwungen. Für Jillian C. York, Mitbegründerin des preisgekrönten Blogs Talk Marocco und Aufsichtsratmitglied der internationalen Blogger-Community Global Voices Online, ist das nur ein erster Schritt. Für 2012 wünscht sie sich vor allem, dass die Politik mehr Druck auf Unternehmen ausübt, damit diese keine Überwachungstechnologie mehr in den Mittleren Osten verkaufen.

York weiß aus eigener Erfahrung, wie sich Online-Zensur anfühlt. Schon damals, 2007 in Marokko, habe sie die Unfreiheit wütend gemacht, erinnert sich York. Vermutlich wurde in jenem Moment aus der Bloggerin jillian die Online-Aktivistin, die heute als Expertin für den Mittleren Osten gefragt ist. Sie freundete sich mit marokkanischen Bloggern und Dissidenten an. Bis heute verbindet die in San Francisco heimische Bloggerin tiefe Freundschaften mit der arabischen Welt. Wie schwer es York bisweilen fallen muss, ihre privaten Ängste um bedrohte Freunde auszublenden, zeigt sich zwei Stunden später während ihres Vortrags über die Bedrohung der Pressefreiheit im Mittleren Osten und Nordafrika. Als York von der syrischen Freundin und Bloggerin Razan Ghazzawi erzählt, bricht plötzlich ihre Stimme, Tränen steigen ihr in die Augen. Seitdem Ghazzawi im Dezember verhaftet wurde, hat York michts Verlässliches mehr über ihre Freundin gehört. Für einen kurzen Moment fällt die Maske der furchtlosen Kämpferin, die sich niemals von Drohungen einschüchtern lassen würde. Und die erhielt York selbst bereits mehrfach – und zwar von Juden, Christen und Muslimen. Liegt hier der Schlüssel zu ihrer strahlenden Zuversicht? Optimismus als Schutzmechanismus? York glaubt, dass man Menschenrechts-Arbeit nur mit einer positiven Lebenseinstellung verrichten kann. Ansonsten drohe man zu verzweifeln. Ihre Generation dürfe keinesfalls so enden wie die ihrer Eltern: nämlich verzagt und klagend, verlangt die Aktivistin, die in dieser Woche ihren 30. Geburtstag feiert.

Unter Obama wieder mehr Journalisten verhaftet 

York bedauert das Verstummen ihrer Landsleute, wenn es um Zensur im eigenen Land geht. Auch deshalb nimmt sie ihre Arbeit in den USA als “ihre eigene Sache” wahr – mehr als ihren weltweiten Kampf um Bewusstmachung bestehender Missstände. Auch wenn in den USA Online-Aktivisten nicht verfolgt oder bedroht würden wie etwa in Saudi-Arabien oder Kuwait – das neue Cybersecurity-Gesetz Cispa stuft sie als “gefährlich” für die Meinungsfreiheit ein. Wenn es um ihre Heimat geht, kann York der Frustration nicht so leicht entfliehen wie den Gefahren für Blogger in entfernten Erdteilen: Dass unter Obama mehr Journalisten verhaftet worden sein sollen als während dessen Vorgängerregierungen, findet sie alarmierend. In anderen Weltgegenden ist der Kampf nicht unbedingt leichter, gerade wenn es an der Unterstützung lokaler Aktivisten fehlt. So erzählt York zwar stolz von der Dankbarkeit, die ihr von der saudi-arabischen Bloggerszene in zahlreichen E-Mails und Posts zuteil wird – öffentlich die Zensur anzuprangern trauten sich jedoch vielleicht vier oder fünf Aktivisten in dem Land, schätzt York.

Die Nähe zur arabischen Welt und das Reisen begleiten York seit langem. Erst im Januar traf sie Freunde in Ägypten, als sie am “Yahoo! Change Your World Summit” teilnahm. Nach Berlin kam York direkt vom Stockholmer Internet Forum. Und im Anschluss an die “re:publica” hält sie einen Vortrag auf dem Osloer Freedom Forum. Öffentlichkeitsarbeit nimmt einen Großteil ihrer Zeit in Anspruch. York sieht darin eine produktive Arbeit, durch die sie Bewusstsein für globale Themen aber auch für ihre Arbeit schaffen kann. In dieser Vermarktung liegt auch die Notwendigkeit, Zuhörer und Spender für ihre Organisation EFF zu werben, die sich seit 1990 für Meinungsfreiheit einsetzt. Auf 16 Konferenzen hielt York in diesem Jahr bereits Vorträge, und auch als Kolumnistin ist sie sehr begehrt. Al Jazeera, The Atlantic, The Guardian, Foreign Policy oder Bloomberg veröffentlichen regelmäßig ihre Beiträge. Unter der E-Mail-Flut, die York zwischen den Reisen zu bewältigen hat, sind zahlreiche Anfragen von Journalisten auch renommierter Medien, die auf die Frau aufmerksam geworden sind. Priorität räumt York allerdings den Hilfegesuchen von Aktivisten aus aller Welt ein. Wird sie über die Verhaftung eines Bloggers informiert, kümmert sich EFF um den Fall. Wer benachrichtigt die Familie? Wollen lokale Aktivisten eine Kampagne starten? Das sind die Fragen, die dann geklärt werden müssen.

Endlich Lehren aus der Geschichte ziehen

Für die verbleibende Zeit des Jahres hegt York die Hoffnung, dass das Blutvergießen in Syrien endlich ein Ende nehmen möge. Unbegreiflich bleibt ihr, dass keine Lehren aus der Geschichte gezogen würden: aus dem Kalten Krieg, aus dem Fall der Sowjetunion. Solange Regierungen rund um den Globus die Meinungsfreiheit im Internet weiter beschneiden, wird  auch York nicht ruhen, den Stimmen der Unterdrückten Gehör zu verschaffen. Ebenso wenig wird ihre Wut schwinden, die sie in ihrem aussichtlosen Kampf antreibt. Diesen Herbst will sie wieder in den Mittleren Osten reisen. Diamanten besetzte Kuchen wird sie wohl so schnell nicht verschenken müssen.