eurodig_teilnehmer_jan
Welche Rolle spielen die Menschenrechte in der Internet Governance? Wie kann ihre Einhaltung im Internet sichergestellt werden? Und welche Aufgabe hat der Europarat dabei? Auf dem diesjährigen EuroDIG beantwortete Jan Malinowski, beim Europarat zuständig für die Informationsgesellschaft, diese und weitere Fragen rund um das Thema Menschenrechte im Internet.

politik-digital.de: Im April hat der Europarat die Charta der Menschenrechte und Prinzipien für das Internet veröffentlicht, einen Leitfaden der Menschenrechte für Internetnutzer. Was ist das Ziel dieses Leitfadens?

Jan Malinowksi: Das Ziel war es, Internetnutzern in sehr einfacher Form zu veranschaulichen, welche Rechte sie im Internet aus Sicht der Menschenrechte haben. Zum Beispiel, wenn sie Allgemeinen Geschäfts- und Nutzungsbedingungen zustimmen, die meist knapp gefasst und schwierig zu verstehen sind.

politik-digital.de: Welche sind die zentralen Punkte des Leitfadens?

Jan Malinowksi: Zunächst ist es wichtig zu wissen: Die Empfehlungen sind zwar nicht bindend für die 47 Mitgliedsstaaten des Europarats, aber sie basieren auf den Menschenrechten, die online wie offline gelten. Einer der wichtigsten Aspekte ist das Recht auf Meinungsfreiheit, der zweite ist das Recht auf Privatsphäre. Aber es gibt noch eine weitere wichtige Feststellung: Es müssen wirksame Rechtsmittel vorhanden sein und diese müssen für alle Europäer, deren Menschenrechte verletzt werden, zugänglich sein.

Die Idee dahinter ist, dass der Rechtsweg in einem vernünftigen Verhältnis zum Anliegen stehen muss. Es kann keine Regel werden, dass man für kleinere Rechtsfälle mit US-Konzernen den weiten Weg an kalifornische Gerichte gehen muss. Auch die Zahl der Rechtsfälle am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, die das Internet betreffen, nimmt stetig zu. Dabei könnten viele Angelegenheiten auf lokaler oder nationaler Ebene im Dialog mit dem Netzbetreiber verhandelt und gelöst werden. Man kann mit seinem Anliegen natürlich auch zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gehen, aber das ist nicht der Zweck des Gerichts, nicht alles sollte dort landen.

“Das Subsidaritätsprinzip sollte gelten und es sollte ein Wiki für Informationen genutzt werden”

View Point, Europe's first human rights talkshow : Freedom of expression, decade under attack.
Jan Malinowski ist Leiter des Ressorts Informationsgesellschaft im Generaldirektorat des Europarats. Der polnische Jurist arbeitet seit mehreren Jahren für den Europarat in Straßburg und ist in seiner Funktion u.a. mitverantwortlich für kürzlich verabschiedete Konventionen zu Datenschutz und Internetkriminalität.

politik-digital.de: Wie kann das in der Praxis aussehen? Wenn nicht alle User mit ihren Anliegen an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gehen sollen, wohin dann?

Jan Malinowski: Zuerst sollten Sie das Gespräch mit der Gegenseite auf lokaler Ebene suchen, wer immer das in der jeweiligen Situation ist, sei es der Internetanbieter oder eine Behörde. Im Europarat können wir uns aber auch vorstellen, dass europaweit und kollaborativ nützliche Informationen in einem Wiki zusammengetragen werden. Menschen könnten dort über ihre Erfahrungen schreiben, vor allem über die Instrumente und Rechtsmittel, auf die sie zurückgegriffen haben. Außerdem sollte man auf einer solchen Plattform Informationen über die jeweils zuständigen Verbtraucherberatungen und Bürgerbeauftragten finden, die einem praktische Unterstützung in der Angelegenheit geben können. Das sollte aber eine Bottom-up-Initiative sein, so etwas kann nicht von höchster Ebene geleistet werden. Wir können nicht alle Informationen und Adressen im Detail für ganz Europa auflisten. Im Idealfall kommt das von den Bürgern selbst, die sagen: „Ich weiß das, und so läuft es ab.“

“Der Europarat spricht sich eindeutig für Netzneutralität aus”

politik-digital.de: Ein Punkt in dem Leitfaden empfiehlt, dass jeder Europäer Zugang zum Internet haben sollte und auf alle dort veröffentlichten Informationen. Vor diesem Hintergrund kann man nur sehr schwer gegen Netzneutralität argumentieren. Spricht sich der Europarat für Netzneutralität aus?

Jan Malinowski: Wir arbeiten zurzeit an einem Text zur Netzneutralität, wir befinden uns in der finalen Phase der Verhandlungen. Ich hoffe, dass der Text im September oder Oktober verabschiedet werden kann.

politik-digital.de: Können Sie bereits sagen, welche Position der Europarat in dem Text einnehmen wird?

Jan Malinowski: Er spricht sich eindeutig für Netzneutralität aus. Das Ministerkomitee hat in der Vergangenheit bereits vielfach klar Position für Netzneutralität bezogen. Er hat auch eine Erklärung zur Netzwerkneutralität verabschiedet, auf die sich alle 47 Mitgliedsstaaten verständigt haben. In dieser Deklaration wird grob dargestellt, welche Vorkehrungen zu treffen sind, um die Einhaltung der Menschenrechte im Internet zu gewährleisten. So soll ein möglichst ungehinderter Internetzugang für alle sichergestellt werden. Das Datenverkehrsmanagement ist nur zur Sicherstellung der Netzwerksicherheit erlaubt und muss strikten Richtlinien folgen.

politik-digital.de: Wie beurteilen Sie das so genannte Google-Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), das dem Einzelnen ein Recht auf Vergessen im Internet zuspricht?

Man sollte keine voreiligen Schlüsse ziehen. Das Google-Urteil ist eine Auslegung des Rechts durch den EuGH und wird an den obersten Gerichtshof Spaniens zurückgespielt. Dieser muss den Fall unter Berücksichtigung des EuGH-Urteils neu auslegen. Wir wissen noch nicht, wie es genau angewendet werden wird. Es gibt noch einige offene Fragen: Was bedeutet das Urteil künftig für das spanische Gesetz? Welche Folgen wird es auf die Balance zwischen Privatsphäre und Meinungsfreiheit haben?

politik-digital.de: Was bedeutet das Urteil denn für die EU-Mitgliedsstaaten? Müssen sie es berücksichtigen?

Jan Malinwoski: Ja. Sofern die Richtlinie und die Charta der Grundrechte der Europäischen Union in diesem spezifischen Rahmen interpretiert wurden, muss diese Interpretation von den Mitgliedsländern angewendet und befolgt werden. Dabei müssen aber auch die Auswirkungen auf die Gesetzgebung des jeweiligen Landes bedacht werden.

Der EuGH hat ganz klar festgestellt, dass in Fällen wie in dem gegen Google Fragen der Menschenrechte und Meinungsfreiheit sowie Fragen des öffentlichen Interesses tangiert sind. Das Urteil gibt nicht jedem Europäer das Recht, Suchergebnisse entfernen zu lassen. Es gibt Informationen, die in die Öffentlichkeit gehören.

Als Beispiel kann der Fall des Prinzen von Monaco gegen Paris-Match genannt werden, in dem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte am Ende das Urteil des obersten Gerichtshofs von Monaco aufhob. Der Straßburger Gerichtshof hat am Ende die Verletzung des Rechts auf Meinungsfreiheit des Magazins Paris Match über das Recht auf Privatsphäre des Prinzen gestellt. In jedem Fall, der vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gelangt, müssen also verschiedene Aspekte, wie Meinungsfreiheit, Privatsphäre und öffentliches Interesse gegeneinander abgewogen werden.

“Artikel 8 der Europäischen Menchenrechtskonvention räumt den europäischen Bürgern das Recht auf Privatsphäre im Nachrichtenverkehr ein.”

politik-digital.de: In den einzelnen EU-Staaten finden wir unterschiedliche Werte und Einstellungen gegenüber dem Datenschutz. Dieser hat zum Beispiel in Deutschland einen viel größeren Stellenwert als etwa in Großbritannien. Wie gehen Sie in Ihrer Arbeit für den Europarat mit den zum Teil weit auseinanderliegenden Positionen zwischen den Ländern um?

Jan Malinowski: Das muss man auf mehreren Ebenen beantworten. Auf der ersten Ebene haben wir Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention, der das Privatleben schützt und den europäischen Bürgern das Recht auf Privatsphäre im Nachrichtenverkehr einräumt. Mögliche Ausnahmen davon müssen im Gesetz bereits berücksichtigt und mit bestimmten Beschränkungen versehen werden. In einer demokratischen Gesellschaft muss eine Einschränkung dieses Schutzes und Rechts immer begründet werden und verhältnismäßig sein.

Für ein gemeinsames Verständnis im Europarat haben wir das Übereinkommen zum Schutz der Menschen bei der automatischen Verarbeitung personenbezogener Daten. Mit diesem haben sich die Mitgliedsstaaten auf gewisse Rahmenbedingungen und eine Mindestanforderung geeinigt, die auch außerhalb Europas angewendet werden kann. Wir befinden uns gerade in dem Prozess, diese in Kooperation mit der Europäischen Union zu aktualisieren und den heutigen Gegebenheiten anzupassen. Im Fall des Verdachts, dass die aktuelle Situation in einem Land unter den Mindeststandard gefallen ist oder dass Bürger in diesem Land exzessiver staatlicher Überwachung ausgesetzt sind, kann dieser Fall vor den EuGH gebracht werden. Zurzeit gibt es zum Beispiel den Fall „Big Brother Watch“ gegen Großbritannien am EuGH: Darin geht es um die Frage, ob die britischen Videoüberwachungsmaßnahmen die Menschenrechte respektieren. Der Fall wird als richtungsweisend angesehen und soll deshalb schnell abgeschlossen werden. Mit seinem Urteil wird der EuGH eine klare Orientierung vorlegen, wie solche Überwachungsmaßnahmen aus menschenrechtlicher Perspektive zu bewerten sind.

Europarat

Der Europarat ist eine 47 Staaten umfassende Institution, die sich mit gesamteuropäischen Fragen insbesondere zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung Europas beschäftigt. Er wird oft mit dem Europäischen Rat und dem Rat der Europäischen Union verwechselt, obwohl keine strukturellen Verbindungen existieren.

politik-digital.de: Wie funktioniert die Wechselwirkung zwischen dem EuGH und den 47 Mitgliedsstaaten des Europarats?

Jan Malinowski: Der Europäische Gerichtshof ist unabhängig von den Mitgliedsstaaten. Bevor die Mitgliedsstaaten sich im Europarat auf einen Standard festlegen, einigen sie sich grundsätzlich darüber, was sie in der jeweiligen Angelegenheit machen können und sollten. Die Einschätzung des Europarats zu einzelnen Artikeln der Europäischen Menschenrechtskonvention ist für den EuGH aber nicht verbindlich, während umgekehrt Urteile des EuGH für die Mitgliedsstaaten bindend sind.

politik-digital.de: Wie kann das Recht auf Privatsphäre im Internet praktisch umgesetzt werden? Nehmen wir an, dass ein Suchergebnis in Großbritannien zu Recht entfernt wurde, aber bei Google Deutschland weiter zu finden ist. Bisher steht mir als Nutzer frei, welche Ländersuchmaschine von Google ich benutze. Welche Mechanismen brauchen wir, um Urteile wie das gegen Google wirksam anzuwenden?

Jan Malinowski: Das dürfte sehr schwierig sein, und das Beispiel zeigt zugleich, dass es nicht in der alleinigen Verantwortung von Google liegt, Inhalte zu entfernen oder unauffindbar zu machen. Wenn Informationen im Internet zu finden sind, die dort von Anfang an nicht stehen sollten, ist dafür nicht Google verantwortlich. Google sollte aber alle seine ihm zur Verfügung stehenden Mittel nutzen, solche Ergebnisse mit Hilfe seiner Algorithmen in der Liste der Suchergebnisse weit unten zu platzieren. Gleichzeitig können Herausgeber Inhalte mit dem Hinweis „nicht-indexieren“ versehen, damit diese nicht von Suchmaschinen gefunden werden. Die Inhalte, die in die Öffentlichkeit gelangt sind, können im Nachhinein bei Bedarf zurückgezogen oder mit einem Verfallsdatum versehen werden, falls sie nicht als historischer Beleg für ein Ereignis dienen.

“Ich halte die Kontrolle über die Wahrung der Menschenrechte im Internet für unvermeidlich.”

politik-digital.de: Wie würden sie die derzeitige Situation der Menschenrechte im Internet beurteilen? Wo stehen wir in Europa?

Jan Malinowski: Der Generalsekretär des Europarates Thorbjørn Jagland hat im April einen Bericht zum Zustand der Demokratie, der Menschenrechte und des Rechtsstaats  vorgelegt. In diesem drückt er seine Befürchtungen aus, dass Gesetze hier und dort entstehen, die dem Recht auf Meinungsfreiheit im Internet zuwider laufen. Allerdings nennt er keine Länder beim Namen.

Ich würde über das, was Jagland schreibt, hinausgehen: Wir haben bislang keinen Kontrollmechanismus, mit dem sich zuverlässig sagen lässt, welches Land auf einem gutem Weg ist und welches nicht. Was wir haben, sind die Standard setzenden Aktivitäten des Europarats. Die entsprechenden Dokumente haben immer eine Präambel, die das jeweilige Problem identifiziert. Nach den Snowden-Enthüllungen hat das Ministerkomitee des Europarats zum Beispiel eine Erklärung zu digitaler Verfolgung und anderen Überwachungstechnologien abgegeben – zu der Frage, wie die Menschenrechte davon betroffen sind. Diese Dokumente des Europarats zeigen Probleme auf, die angesprochen werden müssen, und haben damit Signalwirkung.

politik-digital.de: Sowohl die Türkei als auch Russland sind Mitglieder im Europarat. In beiden Ländern, insbesondere in der Türkei, gab es in den vergangenen Monaten immer wieder heftige Diskussionen über Zensur und die Einschränkung der Meinungsfreiheit. Ist das im Europarat Thema?

Jan Malinowski: Im Fall der Türkei wurde das Problem auf nationaler Ebene gelöst. Das türkische Verfassungsgericht entschied, dass das Blockieren von Twitter und YouTube verfassungswidrig war. Hätte das Gericht anders entschieden, wäre der Fall vielleicht vor den EuGH gekommen. Es wäre dann die Aufgabe des EuGH gewesen zu entscheiden, ob die Sperren die Menschenrechte verletzen. Wir haben also mit dem EuGH eine sehr starke Kontrollinstanz, die jedoch erst im Nachhinein auf Ereignisse reagieren kann. Außerdem müssen zuerst alle nationalen Rechtsmittel ausgeschöpft sein, bevor der EuGH angerufen werden kann. Eine Reaktion geschieht daher immer zeitlich verzögert.

Doch der Europarat diskutiert zurzeit Möglichkeiten, die es uns erlauben, schneller auf Besorgnis erregende Situationen zu reagieren. Die Mitgliedsstaaten haben sich grundsätzlich auf die Einrichtung einer Plattform geeinigt, auf der Informationen aus vertrauenswürdigen Quellen und von glaubwürdigen gesellschaftlichen Organisationen gesammelt werden sollen, wenn es Handlungsbedarf bei Verstößen gegen die Meinungsfreiheit in den Mitgliedsländern gibt. Zurzeit befinden wir uns noch in der Planungsphase, am Ende wird dem Ministerkomitee ein Entwurf zur Zustimmung vorgelegt.

politik-digital.de: Bis dato existiert kein Kontrollsystem, das die Situation der Menschenrechte im Internet kontrolliert. Für die Sicherheit in Europa haben wir die OSZE. Wäre es nicht gut, eine vergleichbare Kontrollinstanz für die Achtung der Menschenrechte im Internet zu haben?

Jan Malinowski: Ich halte die Kontrolle über die Wahrung der Menschenrechte im Internet für unvermeidlich. Es ist nur die Frage, wer wann und wie kontrollieren wird. Ich persönlich glaube, dass eine starke Kontrollinstanz lieber früher als später eingeführt werden sollte. Sie kann jedoch kein Gericht ersetzen. Aber wir brauchen eine vorgelagerte Kontrollinstanz, die fähig sein muss, schnell auf Probleme zu reagieren, damit Verletzungen der Menschenrechte im Internet nicht andauern und damit eine neue Situation nicht zu Verletzungen derselben führt. Ich denke, dass der Europarat diese Aufgabe übernehmen sollte, weil er die Institution für Menschenrechte in Europa ist.

politik-digital.de: Hat der Europarat bis heute irgendwelche Anstrengungen unternommen, eine solche Kontrollinstanz unter seiner Regie einzuführen?

Jan Malinwoski: Generalsekretär Jagland hat die Schaffung einer Kontrollinstanz als notwendig bezeichnet. Die Diskussion um die Wahrung von Menschenrechten im Internet wird immer intensiver geführt. Wir müssen uns um die Folgen von Menschenrechtsverletzungen kümmern. Über kurz oder lang wird es dazu Vorschläge geben. Das Ministerkomitee des Europarats hat Mitte Mai den Bericht des Generalsekretärs geprüft und hatte keinerlei Einwände. Nun muss der Europarat Vorschläge machen, wie die Empfehlungen des Generalsekretärs konkret umgesetzt werden können.

Das Interview führten Felix Idelberger und Simone Jost-Westendorf.

Fotos: Eco hat die Rechte am Teaserbild und das Profilfoto wurde uns vom Europarat gestellt.

CC-Lizenz-630x1101