Die Diskussion um die Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung hat derzeit wieder Hochkonjunktur. Mobilfunkanbieter speichern Daten länger als erlaubt, Politiker fordern neue Regelungen zum "Wohle der Sicherheit". Ein Forschunsprojekt sucht nach einem Kompromiss zwischen den verhärteten Positionen.

In Sachen Vorratsdatenspeicherung steht Deutschland weiterhin auf dem Prüfstand: Aufgrund der Nichtumsetzung der Richtlinie über die Vorratsdatenspeicherung sieht sich die Bundesrepublik aktuell einem EU-Verfahren über Vertragsverletzungen ausgesetzt. Doch auch die EU-Richtlinie wird derzeit noch überarbeitet.

Hierzulande beziehen sich alle Diskutanten auf das vom Bundesverfassungsgericht im März 2010 ausgesprochene Urteil zur Vorratsdatenspeicherung. Das Gericht hatte die bis dahin bestehende Umsetzung der europäischen Richtlinie für nichtig erklärt, gleichzeitig aber auch festgestellt, dass eine Vorratsdatenspeicherung nicht grundsätzlich verfassungswidrig sei. Im Januar dieses Jahres stellte Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger daraufhin mit dem Quick-Freeze-Verfahren einen Kompromissvorschlag vor – doch eine Einigung aller Parteien und Interessenvertreter scheint derzeit außer Reichweite. Während die Gegner der Speicherung die freiheitlichen Grundrechte bedroht sehen und das Schreckgespenst eines Orwellschen Überwachungsstaates beschwören, argumentieren die Befürworter mit einem Mehr an Sicherheit. Das Forschungsprojekt "Interessenausgleich im Rahmen der Vorratsdatenspeicherung" arbeitet seit nunmehr 18 Monaten daran, einen Ausgleich zwischen Freiheits- und Sicherheitsinteressen herzustellen. Am vergangenen Mittwoch wurden die Ergebnisse in Berlin vorgestellt.

Auch wenn die geltende Richtlinie derzeit überarbeitet wird, gingen die Forscher zunächst von der Prämisse aus, dass die europäischen Vorgaben Deutschland zur Einführung einer Vorratsdatenspeicherung zwingen. Alexander Roßnagel, Universitätsprofessor in Kassel und Leiter des Projekts, erörterte in seiner kurzen Vorstellung des Projektes die zentralen Forschungsfragen: Zu welchen Zwecken sollten Daten erhoben werden? Wie sollten  Abrufverfahren und die Ausgestaltung  richterlicher Vorbehalte geregelt werden? Wie lässt sich eine Zweckbindung von Abfragen garantieren? Hierfür wurden die Umsetzungsregelungen in den 26 anderen Mitgliedsstaaten der EU auf der Suche nach der jeweils besten Lösung verglichen und die von einer Vorratsdatenspeicherung betroffenen Rechtspositionen analysiert.

Die Forscher kamen zu folgenden Ergebnissen:
Zunächst sollte das Instrument der Vorratsdatenspeicherung ausschließlich für die Verfolgung von schweren Straftaten eingesetzt werden. Gesellschaftliche Akzeptanz für die Vorratsdatenspeicherung könne nur hergestellt werden, wenn sich die Abfrage auf schwerste Straftaten beschränkt. Diese Zweckbeschränkung sei jedoch "nicht vereinbar mit einer Ermittlung der Inhaber dynamischer IP-Adressen zur Verfolgung von Urheberrechtsverletzungen." Daher solle ein Katalog besonders schwerer Straftaten mit einer noch festzulegenden Mindesthöhe für die zu erwartende Strafe eingeführt werden. Der Datenzugriff wäre nur in diesen Fällen gestattet.

In Anlehnung an das österreichische "Datenvermeidungsmodell", das die Speicherpflicht entweder den jeweiligen Dienstanbietern oder den Telekommunikationsunternehmen auferlegt, sollten zudem Doppelspeicherungen vermieden werden. Dies würde die Missbrauchsgefahr angesichts der geringeren Datenverfügbarkeit reduzieren und zudem die speichernden Unternehmen finanziell entlasten. In diesem Zusammenhang votieren die Forscher auch für eine umfassende Kostenerstattung. Denn den Unternehmen entständen durch die Datenanfragen der Behörden sowie durch die hierfür notwendige Bereitstellung einer Infrastruktur direkte Kosten. Des Weiteren müssten die von einer Abfrage betroffenen Personen rechtzeitig informiert werden, womit die Transparenz des Verfahrens erhöht würde. Außerdem sollten nicht nur Daten von Berufsgeheimnisträgern von einer potenziellen Vorratsdatenspeicherung ausgenommen werden, sondern auch sensible Daten, wie Anfragen von Alkoholikern an Therapiegruppen, vor einem Zugriff bewahrt werden können. Denn ohne die Gewährleistung von Anonymität bestehe die Gefahr, dass solche Dienste weniger in Anspruch genommen würden.

Als Kernfrage für einen potenziellen Interessenausgleich wurde die Frage der Dauer der Speicherfrist ausgemacht. Die europäische Richtlinie und das Urteil des Bundesverfassungsgerichts geben hierbei gegensätzliche Positionen vor. Während die EU-Richtlinie eine Speicherfrist von sechs bis 24 Monaten vorsieht, plädiert das Bundesverfassungsgericht für eine maximale Speicherung von sechs Monaten. Klar scheint: Je länger die Speicherfrist, desto eher lässt sich ein Nutzerprofil des Users erstellen. Doch selbst bei einer sehr kurzen Speicherfrist bliebe es wegen der Anlasslosigkeit und der Erfassung aller Nutzer bei einem besonders schweren Grundrechtseingriff. Das vom Bundesjustizministerium vorgeschlagene Quick-Freeze-Verfahren sei hingegen eine grundrechtsschonende Variante und sollte als ernstzunehmende Alternative zur Vorratsdatenspeicherung diskutiert werden.

In der anschließenden Diskussion wurden die vorläufigen Erkenntnisse des Forschungsprojektes kontrovers gedeutet. Wolfgang Bär schilderte aus seiner praktischen Erfahrung als Richter am Oberlandesgericht Bamberg die Probleme der momentanten Rechtslage. Eine effektive Strafverfolgung sei seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht mehr gewährleistet, weshalb die Vorschläge des Projektes im wesentlichen begrüßenswert seien. Zumal die Strafprozessordnung bereits einige der Anforderungen wie den qualifizierten Richtervorbehalt oder die Benachrichtigung der von einer Datenabfrage betroffenen Personen vorsehe. Das Quick-Freeze- Verfahren sei jedoch keine gangbare Alternative, da die sieben Tage, in denen die Daten vom Betreiber vorgehalten werden sollen, in der Praxis der Strafverfolgung nicht ausreichend seien. Manche Taten würden erst nach einigen Tagen bekannt – und dann könnten die Daten bereits gelöscht sein.

Patrick Breyer vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung argumentierte hingegen, dass die Vorratsdatenspeicherung keinen positiven Effekt auf die Möglichkeiten der Strafverfolgung zeitige und Straftäter deren Effektivität beispielsweise durch den Einsatz von Verschlüsselungsinstrumenten unterliefen. Durch die Implementierung einer Vorratsdatenspeicherung schaffe man ein permanentes Missbrauchsrisiko und lege das Fundament für einen Dammbruch, dem sämtliche Grundrechte zum Opfer fallen könnten. Ein Ausgleich zwischen Sicherheits- und Freiheitsinteressen sei daher unmöglich.

Der Berliner Datenschutzbeauftragte Alexander Dix prangerte die europäische Richtlinie aufgrund ihrer mangelnden Verhältnismäßigkeit an und sieht diese im Konflikt mit der europäischen Grundrechtecharta. Darüber hinaus verwies er auf eine Lücke im deutschen Strafgesetzbuch, wonach zwar die zweckentfremdete Weitergabe von Daten verboten, die Nutzung aber rechtlich erlaubt sei.

Thomas Mosch, Geschäftsführer des Bundesverbandes Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien (BITKOM), erinnerte in seinen Ausführungen an die finanziellen Belastungen einer Vorratsdatenspeicherung. Die speichernden  Unternehmen würden duch die organisatorischen Unterstützungsleistungen "über die Maßen belastet". Bislang wurden lediglich die direkt bei Erteilung einer Auskunft entstehenden Kosten durch staatliche Stellen erstattet, nicht aber die dabei anfallenden Infrastrukturkosten. Der BITKOM strebe daher eine Regelung an, welche eine vollständige Kostenerstattung garantiert und die Datenanfragen duch die Ermittlungsbehörden standardisiert. "Damit Anfragen nach bestimmten IP- Adressen nicht mehr Freitagnachmittags per Fax gestellt werden."

In Jürgen Stock, Vizepräsident des Bundeskriminalamtes, fand die Idee einer Vorratsdatenspeicherung hingegen einen großen Befürworter: "Egal was in Brüssel passiert, wir brauchen die Vorratsdatenspeicherung." Das Internet sei seit dem Karlsruher Urteil zu einem rechtsfreien Raum geworden, was er gleichwohl nicht als Kritik am Bundesverfassungsgericht verstanden wissen wollte. "Wir könnten gut mit dem Urteil des Bundesverfassungsgericht leben, wenn die Vorgaben endlich umgesetzt würden." Stock brachte in seinen Ausführungen einige Skepsis an manchen Forderungen des Forschungsprojektes zum Ausdruck. Das Quick-Freeze-Verfahren sei aufgrund seiner Beschränkung auf die anlassbezogene Speicherung kriminalistisch untauglich. "Wenn nicht ohne konkreten strafrechtlichen Anlass gespeichert wird, kann im Bedarfsfall auch nicht auf die Daten zurückgegriffen werden". Zudem konterkariere die Benachrichtigungpflicht die gängige Ermittlungspraxis, bei der ein verdecktes Vorgehen mitunter essentiell sei. Andernfalls könne der Beschuldigte schließlich in aller Ruhe Beweise vernichten. Desweiteren müsse die Speicherfrist mindestens sechs Monate betragen. In Anbetracht langwieriger Ermittlungsverfahren müssten die Daten länger vorgehalten werden, zumal in 60 Prozent der Fälle eine Frist von sechs Monaten benötigt werde.  

Wenn es nach dem Bürger geht, sollte sich ein Interessenausgleich zwischen Freiheits- und Sicherheitsinteressen realisieren lassen. In einer von BITKOM durchgeführten Erhebung fordern drei Viertel der User "ein stärkeres Eingreifen des Staates bei der Strafverfolgung im Internet, gleichzeitig sind über 60 Prozent gegen mehr Online-Überwachung und Vorratsdatenspeicherung." Es scheint also höchste Zeit für einen Kompromissvorschlag.

UPDATE vom 6. Oktober:

Die Unterlagen zu den auf der Tagung gehaltenen Vorträgen und Präsentationen sind nun auch online abrufbar. Sie sind im Abschnitt "Dokumentation" der Projektseite zu finden. 

 

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