EU Netzneutralität

Es war ein langer Weg zu einheitlichen Netzneutralitäts-Regeln in Europa. Seit April 2016 ist die Verordnung zur Netzneutralität zwar in Kraft, aber bis gestern arbeitete das Gremium Europäischer Regulierungsstellen für elektronische Kommunikation (GEREK) an den Umsetzungs-Richtlinien für die Verordnung. Wie steht es nun um Netzneutralität in Europa?

 Was bisher geschah: nach mühsamen Trilog-Verhandlungen zwischen Europarat, Kommission und Parlament einigten sich die Institutionen im Oktober 2015 auf die erste Europäische Verordnung zur Netzneutralität. Die Bestimmungen waren jedoch so schwammig und unpräzise, dass sie sowohl für als auch gegen Netzneutralität interpretiert werden konnten. Die GEREK (engl. BEREC) sollte deswegen die praktische Umsetzung der Verordnung für nationale Regulierungsbehörden erarbeiten, die im Juni 2016 vorgestellt wurde. Im Anschluss startete die letzte Phase der Konsultation, in der sich die EU-Bürger im Internet zu dem Entwurf der GEREK äußern durften. Nach Auswertung und Einbeziehung der Kommentare wurde gestern die endgültige Fassung der Umsetzungs-Richtlinien präsentiert.

GEREK-Richtlinien zur Umsetzung von Netzneutralität in Europa

Kritik an der Verordnung zur Netzneutralität stammte sowohl aus dem Lager der Zivilgesellschaft und Netzneutralitäts-Befürworter als auch von Seiten der Telekommunikationsindustrie. Für das erste Lager waren die neuen Regeln zu lasch, um ein neutrales Netz zu sichern, für das zweite zu restriktiv. Zwar verbot die Verordnung grundlegende Verletzungen von Netzneutralität, wie das willkürliche Blockieren von Internetseiten oder die Forderung von Zusatzgebühren für schnellere Verbindungen durch Internet-Service-Provider (ISP), aber der Spielraum für die Telekom-Industrie in der Umgehung von Regeln blieb bestehen.

Seit gestern stehen die Ergebnisse der Richtlinien fest: Die Netzneutralität in Europa scheint nun weitestgehend gesichert. Umso zufriedener zeigt sich Grünen Politiker und EU-Abgeordneter Jan Philipp Albrecht über die Ergebnisse der GEREK Richtlinien: „Im Vergleich zum Gesetzestext ist nun klarer, dass es Spezialdienste mit Sonderbehandlung nur in wirklich seltenen und objektiv notwendigen Ausnahmenfällen geben kann, und dass eine Diskriminierung des Datenstroms nach Anwendungen und Anbietern praktisch ausgeschlossen sein wird.“ Sonder-Deals zwischen Telekommunikationsunternehmen und einzelnen Onlinedienst-Anbietern werden so eingedämmt. Spezialdienste bleiben in bestimmten Fällen erlaubt, zum Beispiel bei Diensten wie der Telemedizin, für die eine garantierte Übertragungsqualität notwendig ist. Unklar bleibt der genaue Umgang mit Zero-Rating Angeboten, die es für einzelne Dienste und Anwendungen weiterhin geben soll. Der Verbraucherzentrale Bundesverband warnt: „Dies bevorzugt die Telekommunikationsunternehmen sowie finanzstarke Inhalte- und Dienstanbieter und kann den Wettbewerb verzerren. Nun müssen die nationalen Regulierungsbehörden die Rechtmäßigkeit von Zero-Rating-Angebote im Rahmen von Einzelfallentscheidungen beurteilen.“

Rolle der Zivilgesellschaft und Telekommunikationsindustrie

Die Bürgerbeteiligung an den öffentlichen Konsultationen über „Save The Internet“ war mit mehr als 500.000 Kommentaren erstaunlich hoch. Sechs Wochen lang konnten EU-Bürger den Leitlinien-Entwurf kommentieren und kritisieren, um so die Regulierungsbehörden von einem offenen Internet zu überzeugen. Jan Philipp Albrecht schreibt der Zivilgesellschaft eine maßgebende Rolle für den Erfolg der Konsultationen zu: „Der sehr massive Einsatz der Zivilgesellschaft war hier entscheidend, denn er hat die Netzregulierer stetig daran erinnert, dass es um die Interessen der Endkunden geht und darum, dass auch in Zukunft ein offenes Internet Innovation und neue Entwicklungen möglich macht.“

 Aber auch die Telekommunikationsbranche versuchte den Ausgang der Konsultationen zu beeinflussen. Mit den „5G Manifest“ forderten die 17 größten Telko-Konzerne Europas, unterstützt von Digitalkommissar Günther Oettinger, eine Abschwächung der Netzneutralitäts-Bestimmungen von GEREK und drohten damit, den Ausbau der 5G-Infrastruktur einzuschränken. Die Deutsche Telekom begrüßt so zwar, dass eine europäische Harmonisierung zu Netzneutralitäts-Regeln erzielt werden konnte, kritisiert aber die restriktive Auslegung der GEREK: „Dadurch werden innovative Geschäftsmodelle – insbesondere für den industriellen Anwendungsbereich – gefährdet. Erst die konkreten Einzelfallprüfungen der nationalen Regulierungsbehörden werden zeigen, inwieweit innovative Geschäftsmodelle möglich bleiben und ob die angestrebte EU-weite Harmonisierung der Anwendung gelingt.“

Netzneutralität in Deutschland

Im internationalen Vergleich steht Deutschland nicht als Vorreiter eines freien und gleichberechtigten Netzes da. Als erstes Land verschrieb sich Chile 2010 den Prinzipien der Netzneutralität, gefolgt von den Niederlanden, Slowenien, Brasilien, den USA und Indien. Laut Verbraucherzentrale Bundesverband gab es in Deutschland in der Vergangenheit viele Beispiele von Sonder-Deals: „In den vergangenen Jahren behandelten viele Internetanbieter in Deutschland eigene Dienste bevorzugt, schlossen die Nutzung konkurrierender Dienste (wie Voice-Over-IP oder Instant Messaging) in ihren Allgemeinen Geschäftsbedingungen vertraglich aus oder drosselten technisch die dafür verfügbare Bandbreite.“ Der Beschluss zu neuen Spielregeln zur Netzneutralität in der EU hatte also Konsequenzen für Deutschland: Im August antwortete die Bundesregierung bereits auf die neue EU-Verordnung mit einem Entwurf zur Änderung des Telekommunikationsgesetzes (TKG).  Demnach gibt es zukünftig hohe Bußgelder für Anbieter, die gegen die Gleichbehandlung von Daten verstoßen. Bei der Beschränkung von Datenverkehr liegen die Strafen bei bis zu 500.000 Euro, bei Drosselung des Datenvolumens bei bis zu 100.000 Euro. Auch die Deutsche Telekom reagierte auf die neuen Regeln zur Netzneutralität und beendete im April die bevorzugte Behandlung von Spotify, dessen Nutzung bis dato nicht in das normale Datenvolumen mit einberechnet wurde.

Netzneutralität: Utopie der Internetfreiheit?

Für Prof. Dr. Walter Brenner, Professor für Wirtschaftsinformatik an der Universität St. Gallen, ist die allgemeine Debatte zur Netzneutralität oft zu idealistisch: „Die Diskussion rund um das Thema Netzneutralität muss entmystifiziert werden“. Es habe schon immer Netzwerke gegeben, die höhere Dienste und Übertragungsgeschwindigkeiten brauchten, wie zum Beispiel Computerspiele. Gerade in Bereichen wie dem automatisierten Fahren sei eine Priorisierung von Daten sogar überlebenswichtig. Auch Dr. Roland Bless vom KIT ist der Auffassung, dass die absolute Gleichbehandlung sämtlicher Daten technisch keinen Sinn macht: „So sollten z.B. für eine gute Gesprächsqualität Voice-over-IP-Daten schneller durch das Netz transportiert werden als WWW-Daten, aber das sollte für alle VoIP-Dienstleister gleichermaßen der Fall sein und nicht nur für den VoIP-Dienst des Internetzugangsdienstleisters.“ Bless fände es gerecht, wenn Verbraucher selber festlegen, welche Daten wie behandelt werden sollen, weil es „durchaus subjektiv und situationsabhängig ist, was dem Verbraucher wichtig bzw. dringlich ist. Dazu fehlen jedoch technisch derzeit noch passende Schnittstellen, die auch für den Verbraucher einfach verständlich und nutzbar sind.“

Brenner hält auch die Angst für unbegründet, dass Kleinunternehmer und Startups ohne eine garantierte Netzneutralität keine Überlebenschance hätten. Im Gegenteil: Unternehmen werden sich an die neuen Bedingungen anpassen und beispielsweise Gebühren für bevorzugten Transport zahlen, um dann bessere Dienstleistungen anbieten zu können. „Die Telekommunikations-Industrie wird die Infrastruktur weiter ausbauen. Es bleibt eine unternehmerische Entscheidung, in 5G einzusteigen oder nicht. Es gibt Dienstleistungen, die 5G brauchen und für die Kunden bereits sind zu zahlen“, so  Brenner. Die Umsetzung und Finanzierung des Ausbaus der Netzinfrastruktur liegt demnach nicht allein bei der Telko-Industrie, sondern wird genauso von großen Webdiensten wie Google oder YouTube, aber auch vom Endnutzer selbst bestimmt werden.

Ausblick: Mehr oder weniger digitaler Europäischer Binnenmarkt?

Trotz dieser technischen und wirtschaftlichen Argumente gegen eine absolute Gleichbehandlung von Daten bleibt das Prinzip der Netzneutralität elementar, um Innovation und Wettbewerbsfähigkeit in einem freien Internet zu sichern. Die Basis für Netzneutralität in Europa wurde mit der EU-Verordnung gelegt und von den Umsetzungs-Richtlinien definiert. Mit der gestrigen Entscheidung geht die EU so einen weiteren, entscheidenden Schritt in Richtung digitaler Europäischer Binnenmarkt. Die Regeln zu Netzneutralität sind auf europäischer Ebene vereinheitlicht und konkretisiert, auch wenn weiterhin Schlupflöcher für die Bevorzugung von Daten bestehen bleiben. Die Umsetzung der Verordnung liegt nun bei nationalen Behörden, in Deutschland ist das die Bundesnetzagentur. Laut dem Bundesverband der Verbraucherzentralen müssen nun erst bestehende Praktiken und Geschäftsmodelle der Telekommunikationsunternehmen überprüft und gleichzeitig deren Maßnahmen zum Netzwerkmanagement kontrolliert werden. Die Schlüsselrolle in der Realisierung eines freien, gleichberechtigten Netzes liegt also bei den nationalen Behörden, die sich in Zukunft gegen Sonder-Deals und Wettbewerbsverzerrung durchsetzen müssen.

Titelbild: EU Netzneutralität von politik-digital

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