ArtikelInterviewKlingenbeilAnfang Juni hatte das “Zentrum für Digitalen Fortschritt” (D64) zu einer Podiumsdiskussion geladen, auf der darüber gesprochen wurde, wie Internet und Smartphones die Arbeitswelt verändern. Büro ist überall – Freiheit oder (Arbeits)Falle? Teilnehmer war auch der SPD-Netzexperte Lars Klingbeil. politik-digital hat ihn gefragt, was permanente Erreichbarkeit und blitzschnelle Online-Nachrichten für den Alltag eines Politikers bedeuten.

politik-digital.de: Auf der Podiumsdiskussion des D64 haben Sie in einer ruhigen Minute Ihr Smartphone gecheckt. Wie oft schauen Sie im Politikeralltag, ob neue Nachrichten gekommen sind?

Lars Klingbeil: Da gibt es keine Trennung zwischen dem privaten und politischen Alltag. Ich gucke sehr viel auf mein Smartphone, in freien Minuten oder auch mal in einer Sitzung, die nicht so spannend ist. Allerdings gibt es auch immer mehr Sitzungen, für die ich das Handy in der Tasche lasse. Bin ich im Wahlkreis unterwegs, kommt es häufiger vor, dass mein Smartphone im Auto bleibt.
politik-digital.de: Können Sie sich im Gespräch noch auf das Hier und Jetzt konzentrieren, oder haben Sie immer das virtuelle Postfach im Hinterkopf?
Lars Klingbeil: Im direkten Gespräch mit anderen starre ich nicht die ganze Zeit aufs Handy.

politik-digital.de: Sind Sie jemand, der immer sofort antworten will, wenn eine Nachricht ankommt?
Lars Klingbeil: Wenn ich einen Brief ins Büro bekomme, kann die Beantwortung schon mal zehn Tage, zwei Wochen dauern, bevor eine Antwort kommt.
Bei Facebook und Twitter ist die Erwartung jedoch eine andere, da werden schnelle Antworten gewünscht. Es gibt Tage, an denen schaffe ich es nicht, zu twittern – und bekomme deswegen von manchem Nutzer auf den Deckel. Hier müssen beide Seiten lernen. Der Wunsch nach einer schnellen Antwort ist da, aber manchmal klappt das eben nicht – zumal man sich ja auch in bestimmten Fällen erst vorher schlau machen muss.
politik-digital.de: Wie viele Mails/FB-Nachrichten beantworten Sie pro Tag?

Lars Klingbeil: Das weiß ich nicht. Aber es sind sehr viele.
politik-digital.de: Und wie viele ignorieren Sie?
Lars Klingbeil: Bei Facebook versuche ich, fast alle Nachrichten zu beantworten. Was die Postings betrifft, muss ich mich da manchmal gar nicht einmischen. Auf Twitter kommen manche Kommentare, da macht das Antworten Spaß, bei anderen weiß ich: hier solltest Du besser nicht reagieren. Eine Systematik existiert nicht, ich entscheide das nach Bauchgefühl.

Lars Klingbeil ist Bundestagsabgeordneter der SPD. Er vertritt den Wahlkreis Rotenburg I/Soltau-Fallingbostel, seinen Heimatort. Klingbeil sitzt im Verteidigungsausschuss sowie im Ausschuss für Kultur und Medien. Darüber hinaus ist er netzpolitischer Sprecher seiner Fraktion – und eifriger Twitterer.

politik-digital.de: Angela Merkel kann angeblich gleichzeitig eine SMS schreiben und zuhören. Können Sie das auch?
Lars Klingbeil: Nicht immer zu hundert Prozent, aber grundsätzlich bin ich zum Multitasking fähig.
politik-digital.de: Die SPD fordert Schutzrechte für Arbeitnehmer, die sie vor Erreichbarkeit bewahren sollen. Brauchen auch Abgeordnete eine solche Protektion?
Lars Klingbeil: Bei uns sehe ich das ein Stück weit anders. Wir wollen ja kommunizieren, unsere Botschaften ins Land bringen, mit Leuten in den Dialog treten. Wofür ich jedoch plädiere: Es braucht eine gesellschaftliche Diskussion über die Kommunikationsgeschwindigkeit. Das ist mir sehr wichtig. Es sollte Verständnis dafür wachsen, dass Antworten dauern können.
politik-digital.de: Gibt es eine Regelung innerhalb Ihrer Fraktion, ab einer bestimmten Uhrzeit die berufliche Kommunikation einzustellen?
Lars Klingbeil: Nein, dazu gibt es keine Regelung. Hier ist die Sensibilität jedes Einzelnen gefragt. Es ist auch nichts dazu festgelegt, was getwittert werden darf und was nicht. Wir haben im Parlament keinen Kodex für Social-Media-Kommunikation.
politik-digital.de: Was ist Ihre primäre Quelle für Nachrichten aus dem Weltgeschehen?
profilbild_klingbeil_cadLars Klingbeil: Twitter ist für mich das Medium Nr. 1, wenn es um Neuigkeiten geht und um aktuelle politische Entwicklungen. Da schaue ich morgens als erstens, ob und was passiert ist. Für tiefergehende Informationen nutze ich Nachrichtenseiten und das Radio, wobei ich dorthin auch über Links von Twitter geleitet werde. In meinem Fall spielen natürlich ebenfalls die lokalen Zeitungen eine große Rolle, von denen zwei auch bei Twitter unterwegs sind – und die auch manchmal nachmittags bereits die Artikel online stellen, die am nächsten Tag erscheinen.
politik-digital.de: Ist überhaupt noch Zeit für längere Artikel?
Lars Klingbeil: Die Süddeutsche lese ich regelmäßig.
politik-digital.de: Nennen Sie bitte drei Apps, die jeder Bundestagsabgeordnete auf seinem Smatphone haben sollte.
Lars Klingbeil: SpiegelOnline gehört sicherlich dazu. Das ist die Nachrichtenquelle Nr. 1 für uns, neben Twitter. Als drittes kommt die Facebook-App, was mich betrifft.
politik-digital.de: Wissen Sie, wann Sie zuletzt im Fernsehen eine längere Reportage gesehen haben?
Lars Klingbeil: Im Fernsehen?
politik-digital.de: Meinetwegen auch in der Mediathek.
Lars Klingbeil: Die heute-show zählt wahrscheinlich nicht, ne?
politik-digital.de: Nein.
Lars Klingbeil: Die letzte richtige Fernsehreportage, die ich gesehen habe, war die bekannte ARD-Doku über die Arbeitsbedingungen bei Amazon. Ich bin kein großer Fernsehgucker, außer von amerikanischen Serien.
politik-digital.de: Verlangt das digitale Zeitalter ein dickeres Politikerfell, Stichwort „Shitstorm“?
Lars Klingbeil: Man muss sich zurechtfinden, das musste ich an vielen Stellen auch. Wer auf Social-Media-Kanälen kommuniziert, braucht ein dickes Fell. Man kriegt schon einiges ab.
politik-digital.de: Schon mal selber im Shitstorm gewesen?
Lars Klingbeil: Meinen größten habe ich erlebt, als die SPD das Leistungsschutzrecht im Bundesrat nicht in den Vermittlungsausschuss geschoben, sondern passieren hat lassen. Ich hatte mich vorher im Bundestag sehr massiv gegen dieses Gesetz ausgesprochen und in Aussicht gestellt, dass es im Bundesrat gestoppt wird. Deshalb gab es verbale Prügel.
politik-digital.de: Ist es schwierig, mit persönlichen Beleidigungen umzugehen?
Lars Klingbeil: Gelegentlich möchte man schon gerne antworten – denkt sich dann aber, dass es besser ist, nichts zu schreiben.
politik-digital.de: Wie steht es mit dem Druck durch Faktenchecks, wie sie das ZDF oder auch das ZEITmagazin machen? Dabei werden Politikeraussagen überprüft, auch mithilfe der User.
Lars Klingbeil: Natürlich erhöhen die den Druck. Wir müssen sehr darauf achten, wie wir kommunizieren, das fordert eine massive Umstellung von uns Politikern. Aber ich finde, dass diese Checks auch die starke Seite des Internets zeigen, wenn mehrere Leute auf diese Weise kooperieren. Das hat einen großen Mehrwert für die politische Debatte.
politik-digital.de: Denken Sie, dass Politikerstatements nun glatter werden? Weil Sie und Ihre Kollegen wissen, dass sie viel mehr beäugt werden?
Lars Klingbeil: Die Gefahr besteht. Viele Bürger sagen, sie wollen kantigere Formulierungen – aber wenn es dann einer macht, bekommt er viel Gegenwind.
politik-digital.de: Stichwort „Steinbrück“.
Lars Klingbeil: Steinbrück ist in der Tat jemand, der kantig formuliert. Er hat Fehler gemacht, aber er ist auch für viele Aussagen verprügelt worden, bei denen er einfach nur eine deutliche Aussprache gefunden hat. Das Signal darf nicht sein, dass alle Politiker irgendwann nur noch stromlinienförmige Antworten geben. Ich finde es sehr bereichernd, dass jeder im Internet Sachen auch einfach mal raushauen kann. Diese Diskussionskultur dürfen wir uns nicht kaputt machen.
Prinzipiell müssen wir uns alle daran gewöhnen, dass die politische Kommunikation heute eine andere ist als früher. Früher lief es nur top-down, heute stehen wir im Dialog mit den Bürgern. Das ist ein totaler Umbruch. Da müssen sich viele Kollegen erst dran gewöhnen. Das dauert, wenn man 40 Jahre anders sozialisiert wurde. Diesbezüglich sehe ich eine Kluft, auch innerhalb der Fraktion.
politik-digital.de: Wird Twitter einen entscheidenden Einfluss auf den Wahlausgang haben?
Lars Klingbeil: Die Wahl wird nicht im Netz entschieden, aber Social-Media kann einen großen Beitrag zum Ausgang leisten.
 
Bilder: European Parliament (CC BY-NC-ND 2.0), www.lars-klingbeil.de