Dr. Visvaldis Valtenbergs ist einer der renommiertesten Politikwissenschaftler in Lettland. Er ist am Vidzeme Kolleg der Lettischen Universität tätig. Zu seinen Spezialgebieten gehören auch Medien- und Netzpolitik in den Baltischen Staaten. Jens Steiner hat ihn für politik-digital.de interviewt. Ein Update zum Dossier “Netzkultur in den Baltischen Staaten”

Herr Dr. Valtenbergs, in Lettland ist die elektronische Verwaltung in den größeren Kommunen zur Zeit besser strukturiert als auf Landesebene. Worin sehen Sie die Gründe dafür?

Visvaldis Valtenbergs: Die Verantwortlichen in der lokalen Verwaltung und die PR-Chefs zielen mit den Websites in erster Linie auf eine sonst schwer erreichbare Kundschaft ab. Das sind in erster Linie Touristen. Die Hauptfunktion der Seiten ist das Bereitstellen von Informationen. Es lohnt sich für regionale Seiten, ständig aktuelle Informationen zu veröffentlichen. Dazu gehören nicht nur Stadt- und Raumplanungsverfahren, sondern auch Veranstaltungen, Rock-Konzerte und die Erfolge der örtlichen Basketballmannschaft.

Im Printbereich haben ausländische Konzerne wie Schibsted oder Metromedia International schnell das Ruder an sich gerissen. Welchen Einfluss haben ausländische Medienunternehmen auf den lettischen Internet-Sektor?

Visvaldis Valtenbergs: Viele populäre Onlineportale basieren auf erfolgreichen Nachrichtenmedien. Dazu zählen zum Beispiel die grössten Tageszeitungen. Zu den bekanntesten reinen Onlineportalen zählen
delfi.lv,
tvnet.lv und
appolo.lv

Gab es bisher politische Kampagnen oder Onlinedemonstrationen im lettischen Internet, zum Beispiel gegen Globalisierung, Neoliberalismus oder Einschnitte in das Sozialsystem?

Visvaldis Valtenbergs: Der Erfolg sozialer Mobilisierung über das Internet wurde meist daran festgemacht, wieviel Publicity das jeweilige Thema in elektronischen Medien bekam. Sichtbare virtuelle Proteste hat es bisher in Lettland noch nicht gegeben. Das hängt auch damit zusammen, dass man Globalisierung und Neoliberalismus in der lettischen Öffentlichkeit nicht kritisch gegenübersteht. Diese Themen stehen auf der politischen Agenda zur Zeit nicht sehr hoch im Kurs. Das bedeutet aber nicht, das es irgendwo versteckt im Cyberspace nicht doch antineoliberale oder andere Protestseiten gibt?

Gibt es Probleme mit der Präsenz von menschenverachtenden, rassistischen und rechtsradikalen Inhalten im lettischsprachigen Internet?

Visvaldis Valtenbergs: Die rechtsradikale Community ist auch hier sehr aktiv im Netz. Ein Beispiel dafür ist “latvians”.

Trotzdem ist ihre Networking Kapazität eher gering. In anderen Worten, ihre Aktivität geht nicht über die in virtuellen Foren hinaus. Auch lassen sich keine Zusammenhänge zwischen den „real life“ Politaktivitäten und Strategien der virtuellen Mobilisierung feststellen. Das gilt auch für linke und konventionelle politische Organisationen.

Könnten Sie einige Beispiele für alternative bzw. Grassroots-Medien im lettischen Internet aufzählen und auf deren Entstehung eingehen?

Visvaldis Valtenbergs: Kritische Berichterstattung hat in den lettischen Online-Medien stark zugenommen. Das ist einer der größten Beiträge, die für das lettische Internet geleistet wurden. Da traditionelle Medien eher dazu neigen, sich an den Regeln des Marktes zu orientieren, ist es manchmal recht hart, eine Message herauszuhören oder zu platzieren. Besonders die akademische Community ist davon betroffen, also individuell Recherchierende, Studierende, politische Analysten und die gebildete, kritisch denkende Öffentlichkeit im Allgemeinen. Gut dokumentierte Policy Positionen politischer Parteien und Politiker, zusammengefasste Forschungsberichte oder in voller Länge veröffentlichte Interviews finden in traditionellen elektronischen und Printmedien nicht viel Platz. Das Internet bietet sich da als Lösung an.

Ein erwähnenswertes Beispiel für die politische Forschung ist das Portal
politika.lv . Die Seite liefert nicht nur kritische Informationen, sondern sammelt und systematisiert auch Forschungsberichte, Policy Papiere und relevante Legislationen in einer leicht zugänglichen Form. Durch einen wöchentlich veröffentlichten Newsletter behält es den Status einer politischen Community. Diese besteht aus Studierenden, Lehrenden, Entscheidungsträgern und Journalisten.

Die Popularität von Internetmedien hängt auch davon ab, wie gut sie das Potential des Netzes zu nutzen wissen. Dazu zählen Datenbanken und Recherchemöglichkeiten. Ein weiteres Beispiel, das ich an dieser Stelle erwähnen möchte, ist das „Freunde-Portal“
draugiem.lv . Dort entsteht eine virtuelle Gemeinschaft von Freunden, die auch hilft, alte Freundschaften zu erhalten. Allerdings ist die Idee nicht gerade neu. Trotzdem ist die Seite sehr bliebt bei den lettischen Internet-Nutzern.

Es ist eine tägliche Begebenheit, dass man eine eMail bekommt, in deren Betreffzeile steht: „Lass uns Freunde sein“. Im Text findet man dann einen Link von jemanden, den man vor ein paar Jahren kennengelernt hat.

Trotzdem vertrete ich die Auffassung, dass der Erfolg reiner Internetmedien eher beschränkt ist. Ihr Erfolg ist abhängig von regelmässigen Aktualisierungen und Invenstitionen in die Entwicklung der Website. Etwa ein Viertel in Lettland lebenden Bevölkerung spricht als Muttersprache Russisch. Das hat auch Auswirkungen auf die Netzkultur.

In welchem Verhältnis stehen .lv-Seiten in lettischer und russischer Sprache?

Visvaldis Valtenbergs: Abgesehen von ein paar Ausnahmen neigen die lettische Web-Landschaft und die Medienwelt dazu, sich in zwei Sektionen zu teilen. Eine der beliebtesten Websites
tvnet.lv startete vor kurzer Zeit eine russische Version. Sie ist inhaltlich identisch, wird aber separat gelesen. Das Portal dialogi.lv ging an den Start um einen anderen Weg zu gehen. Auf einer Seite werden dort nebeneinander Texte in russischer und lettischer Sprache veröffentlicht.

In den letzten Jahren schwappte eine neue Welle des Online-Grassroots-Journalismus nach Europa über. Das Weblog. Seither entwickelt sich auch hier eine Art Blogger-Kultur. Warum hat diese in Lettland noch nicht Fuß fassen können?

Visvaldis Valtenbergs: Blogs müssen hier von den Medien und Politikern erst entdeckt werden. Ich gehe einmal so weit zu behaupten, dass nur sehr wenige Politiker erahnen, was ein Blog ist und wie sie das Blogging sinnvoll für ihre Karriere einsetzen könnten. Das ist wahrscheinlich nicht der Hauptgrund, warum Blogs hier noch unbekannt sind. Medienexperten sagen, dass die lettische Massenkultur stark unter dem Einfluss politischer Berichterstattung steht. Die bekanntesten Politiker werden regelmässig portraitiert und als berühmte Persönlichkeiten positioniert. In dieser Situatiuon ist es das Fernsehen, dass alle politischen Informationen assimiliert. Politische Websites und Blogs bleiben unbemerkt.

Herr Dr. Valtenbergs, Sie leiten zur Zeit Seminar für Studierende zum Thema: „Perspektiven der elektronischen Demokratie“. Worum geht es in diesem Kurs?

Visvaldis Valtenbergs: Die Studierenden gewinnen darin Einblicke in die Möglichkeiten der politischen Einflussnahme, die das Internet bietet. Sie lernen dort die Anwendung von Internet-Kommunikationsstrategien und effektive Bewertungstechniken.

Das Interview für
politik-digital.de führte Jens Steiner.