GigabitZukunft1999 fehlte dem visionären Filmemacher Steven Spielberg die Vision. Um Philip K. Dicks Kurzgeschichte „Minority Report“ mit futuristischen Bildern zu füllen, rief der Regisseur deswegen kurzerhand einen illustren Kreis aus Experten zusammen. Die Kommission entwarf eine Zukunft, die so abwegig nicht ist. Kürzlich haben sich Wissenschaftler des Fraunhofer-Instituts ebenfalls die klugen Köpfe darüber zerbrochen, wie die Welt künftig aussehen könnte – im Mittelpunkt steht die Digitalisierung. Laut der neuen Studie werden wir 2020 informierter, vernetzter und nachhaltiger leben.
Die Studie „Szenarien für die Gigabitgesellschaft“, durchgeführt vom Fraunhofer-Institut und initiiert bzw. teilfinanziert von der Telekom, wirft Schlaglichter auf heute bereits vom Internet berührte Themenfelder wie Partizipation, Transparenz und Echtzeitinformation. Sie legt nahe, dass wachsende Datenströme unsere Informations- bald in eine Gigabitgesellschaft transformieren könnten. Dafür müssten sechs Bedingungen erfüllt werden:
Breitbandige (Mobilfunk-)Netze
Schnellere Übertragungsgeschwindigkeit
Größere Nutzerzahlen, mehr Medienkompetenz
Offenlegung persönlicher Daten
Bewältigung der Informationsflut
Gewährleistung bereichsübergreifender Anwendungen

Den Aktiven gehört die Zukunft

Die Autoren der Studie entwerfen Zukunftsszenarien für unterschiedliche Lebensbereiche und malen diese aus. Unter dem Titel „Open Everything“ beschreibt das Fraunhofer Institut eine Zukunftsgesellschaft, in der Staat und Unternehmen transparenter agieren und mehr Beteiligungsmöglichkeiten bieten. Behörden geben anonymisierte Daten frei, damit findige Programmierer daraus praktische Anwendungen basteln („Open Data“), während Parlamente den Bürger-Input fördern („E-Partizipation“). In einer solchen Gesellschaft hortet die Wissenschaft ihre Erzeugnisse nicht weiter im Elfenbeinturm. „Open Access“ heißt der Schlüssel, mit dem sich jeder Interessierte Zugang zu wissenschaftlichen Arbeiten verschaffen darf, ohne finanzielle, rechtliche oder technische Schranken. Auch Unternehmen öffnen sich: Mitarbeiter arbeiten nicht mehr nebeneinander her, sondern kommunizieren abteilungsübergreifend und beziehen Kunden ebenso ein wie externe Sachverständige.
Teilhabe ist bei „Open Everything“ substantiell. Ansätze davon sind dieser Tage freilich bereits existent, sei es im Bereich Open Data oder E-Partizipation. Das Fraunhofer-Institut sieht diese Projekte wachsen und setzt dafür auf den Ausbau der Datenautobahn. Doch wenn die Digitalisierung fortschreitet, wäre auch ein Negativszenario denkbar. Das würde passieren, sollten Transparenz und Partizipation bloße Behauptung bleiben und Großunternehmen das Netz unter sich aufteilen.

Wer bremst, verliert

Teilhabe braucht Informationen – und die werden 2020 in Echtzeit fließen, tritt die Positivprognose des Fraunhofer-Instituts ein. Die spontane Bedürfnisbefriedigung wird in dieser Zukunft nicht am Ladekreis scheitern. Lesen, Bilden und Einkaufen wird ohne Verzögerung möglich sein, was insbesondere den heute noch etwas hakeligen Demand-Diensten helfen dürfte. Untereinander werden die Unternehmen ebenfalls vom digitalen Highway profitieren, etwa bei der Echtzeitübertragung von Produktionsdaten.
Bleibt jedoch der Datenschutz außen vor, wird es vor allem die Online-Entblößung sein, die in Echtzeit stattfindet. Auch könnte 2020 endgültig kirre werden, wer schon 2013 vorm digital verursachten Burnout steht. Menschen wollen nicht in jedem Moment erreichbar sein – ob nun für Anrufer oder Informationen.

Besser zusammen fahren

In gefühlt jedem zweite Sci-Fi-Film haben Autos den Luftraum erobert. Die Fraunhofer-Studie beschäftigt sich nicht mit der Technik der Fortbewegung, wohl aber mit ihrem kooperativen Aspekt. 2020 wird das Auto geteilt, weil Car-Sharing – in Verbindung mit Bus, Bahn und Bike – Mainstream sein wird. Das Internet wird großen Anteil daran besitzen, da Infos über Mitfahrgelegenheiten, Fahrpläne und Taxiwartezeiten blitzschnell zum Reisenden gelangen.
Doch das Konzept der vernetzten Mobilität wird auch Auswirkungen auf den Verkehrsfluss haben. Ein intelligentes, sensorbasiertes Verkehrsleitsystem wird in diesem Szenario bestimmen, wo wir lang fahren und parken. Die Anweisungen werden den Fahrer per Navi und Smartphone erreichen, der aus dem Fahrzeug heraus Kontakt zu anderen Verkehrsteilnehmern aufnehmen kann.
Wieder steht und fällt der Vernetzungsgrad mit der Anwenderbereitschaft, Daten offenzulegen. Werden wir uns daran gewöhnen, unseren Standort von einem GPS-Satelliten tausende Kilometer über unseren Köpfen verfolgen zu lassen?

Selbst ist der User

Das Internet fördert proaktives Nutzerverhalten wie kein anderes Medium zuvor. Mit Durchsetzung des Web 2.0 wurde der Konsument zum Prosumenten, der Passive zum Aktiven. So wurden engagierte User ohne formale Qualifikation zu Experten, die in Blogs und Kommentarspalten Kauf-, Kultur- und Krisentipps geben. Eine treue Leserschaft orientiert sich daran und teilt die Hilfestellungen im Social Web.
Das Fraunhofer-Institut geht davon aus, dass „Do it yourself“ 2020 der bestimmende Leitspruch aller Problemlöser sein könnte. Vertrauen wird in Gleichgesinnte gesetzt, weniger in offizielle Stellen. Das Content-Monopol der Verlage, heute schon rissig, ist in wird in Jahren zugunsten von „User Generated Content“ erodiert sein – der zu größeren Teilen aus Gegenständen bestehen wird, erstellt von erschwinglichen 3D-Druckern.
Aber: Selbermachen ist anstrengend und fehleranfällig. Daher werden sich Internetnutzer im dystopischen 2020 wieder vermehrt an Profis halten, die fehlerfreie Inhalte garantieren.

Internetgesundheit

Kranke der Zukunft lassen Apps das anzeigen, was früher der Arzt oder Dr. Google diagnostiziert haben. Nasenkribbeln und Bauchgrummeln kann ignorieren, wessen App die Bakterieninvasion als Display-Warnung vermelden wird. Im Optimalfall wird der Check-Up 2020 dem Prinzip der Echtzeit-Information unterliegen, weil Computerprogramme permanent überprüfen werden, ob wir gesund sind. Die gesammelten Daten werden erwartungsgemäß nicht am Körper bleiben, sie werden stattdessen in vernetzte Patientenakten fließen. Von dieser Digitalisierung und Vernetzung versprechen sich die Forscher des Fraunhofer-Instituts Qualitäts- und Effizienzsteigerungen.
Zum Minenfeld des zukünftigen Gesundheitswesens wird, wenig überraschend, der Datenschutz. Klar: Wer über sich und seine Geschlechtskrankheit bei Google liest, will die gedruckte Patientenakte sofort zurück. Verstärken könnte sich auch die Praxis, dass Marketing-Abteilungen darüber entscheiden, welche Pillen wir schlucken – über seine App kann der Pharmakonzern gleich das passende Medikament zum diagnostizierten Befund verkaufen. Aus dem Patienten wird ein Kunde.

Grüne Technologien

2020 könnten das Digitale und das Grüne verschmelzen. In zunehmendem Maße wird es dann dem Computer obliegen, Wohnen klimafreundlich zu gestalten. Bewohner werden die miteinander verbundene Haustechnik mit einer Fernsteuerung („Smart Home“) bedienen, doch der Umweltverschmutzung wird zu einem beträchtlichen Teil passiv getrotzt. Informations- und Kommunikationstechnologien werden beim Energiesparen und dem intelligenten Einsatz des selbst erzeugten Stroms helfen. Sie werden dazu in der Lage sein, sofern die Energieversorger ihre Systeme entsprechend umstellen. Andernfalls werden die Potentiale der technischen Entwicklung verpuffen, mit dem wir dem Klimawandel etwas entgegensetzen könnten.

So what?

Es wäre ein Leichtes, den Experten hinter der Fraunhofer-Studie mangelnde Originalität vorzuwerfen. Die Studienergebnisse lesen sich wie das Protokoll eines Programm-Updates mit nur kleinschrittigen Verbesserungen: Hier etwas mehr Transparenz, dort ein bisschen mehr Vernetzung, fertig ist die Zukunftsvision. Die Szenarien sind schwammig und klingen mitunter wie PR-Sprech: von „neuartigen Innovationsprozessen“ ist da die Rede, von „intelligenter Mobilitätsvernetzung“ und „Effizienzgewinnen“.
Andererseits sollte man die Studie auch nicht mit einer unfairen Erwartung beladen. Schließlich beginnt jede um Verlässlichkeit bemühte Prognose in der Gegenwart, denkt sie weiter – und vermeidet angesichts der vielen Unwägbarkeiten jede Konkretisierung.
Die an der Studie beteiligten Wissenschaftler, Experten und Visionäre haben sich zunächst einmal angesehen, wie Menschen in Industrienationen am Beginn der 2010er Jahre leben. Das menschliche Verhalten, nicht die technischen Möglichkeiten waren Ausgangspunkt ihrer Überlegungen. Heute geschieht ein großer Teil unseres Lebens im Netz, ganz alltäglich. Aus diesem Grund kann seriös davon ausgegangen werden, dass sich die Internet-basierten Trends – Teilhabe, Transparenz, Vernetzung – in Zukunft fortsetzen.
Bemerkenswert ist aber die Position, die von den Studienautoren zur Datenfrage eingenommen wird. Die Positivszenarien bauen darauf, dass die User den Anwendungsanbietern Standort- und Nutzungsdaten zur Verfügung stellen müssen. Die Entstehung von Datensilos an sich scheint für die Autoren jedoch kein fragwürdiger Umstand zu sein, relevant sei allein der Datenschutz. Das „Ob“ der Datenübermittlung wäre demnach vernachlässigbar, das „Wie“ zentral.Ein weiterer Kritikpunkt: Die verschwimmende Grenze zwischen Off- und Online („Augmented Reality“) wird in der Studie kaum aufgezeigt. Wie viel Cyborg steckt im Smartphone-Zombie? Kann man wirklich noch davon reden, dass Digitalraum und Echtwelt getrennt sind, wenn Google Glass die Internettextur ins Sichtfeld projiziert?
Vielleicht sollten wir uns bei diesen Fragen einfach an Steven Spielbergs „Minority Report“ halten, wo individualisierte Werbung direkt in technisch erweiterte Kundenaugen gestrahlt wird. Irgendwie bekannt, oder?
Illustration: Lennart Andresen

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