Wird die Digitalisierung unsere Gesellschaftsstruktur komplett verändern? Ist das Internet ein demokratisches oder ein totalitäres Medium? Wer profitiert vom globalen Datennetz? „Solche technischen Fragen sind gegenwärtig die politisch interessanten“, meinte der Philosoph Vilém Flusser bereits vor nahezu 20 Jahren.
Bis heute bleibt Flussers These aktuell: Beispielhaft dafür steht die nur scheinbar nebensächliche Teilung der Gesellschaft in „Onliner“ und „Offliner“, die sich mittlerweile zu einer höchst problematischen sozialen Spaltung auszuwachsen droht. Mit den Ursachen und Folgen dieser Problemlage beschäftigte sich die Baden-Badener Sommerakademie 2002, die von der SWR-Medienforschung, der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, der Medien- und Filmgesellschaft Baden-Württemberg sowie der Alcatel SEL Stiftung für Kommunikationsforschung ausgerichtet wurde. Nun ist bei VISTAS unter dem Titel „Digitale Spaltung“ der zugehörige Sammelband erschienen. Die zumeist lesenswerten 80 Seiten liefern kritische Analysen, normative Konzepte, Fallbeispiele aus der Praxis und empirisch erhobene Daten rund um die Internet-Nutzung der Deutschen.
Der “klassische” User ist männlich, finanziell gut situiert und gebildet
Diese wissenschaftlichen Befunde machen schnell klar: Das Internet ist noch immer ein Elite-Medium. Weite Teile der Gesellschaft wollen oder können das Datenuniversum nicht für ihre Zwecke nutzen – typische User sind (nicht nur) in Deutschland männlich, finanziell gut situiert und gebildet. Die sozialen bzw. ökonomischen Vorteile dieser ohnehin schon privilegierten Minderheit wachsen durch die „digitale Spaltung“ weiter.
Allerdings sind einige der ausführlichen Grafiken und Zahlenkolonnen, die insbesondere Walter Klingler und seine Kolleginnen von der SWR-Medienforschung im längsten Beitrag des Bandes aufführen, unterdessen schon ziemlich veraltet. So wird etwa die Medien-Bindung der Deutschen nur für das Jahr 2000 angegeben. Die meisten Erhebungen sind jedoch auf den Zeitraum 1997 bis 2002 bezogen und damit auch im Sommer 2003 noch einigermaßen aufschlussreich.
Beispielsweise hat sich in den analysierten Jahren die Zahl der Online-NutzerInnen in Deutschland von 4,1 Millionen auf 28,3 Millionen erhöht. Anzumerken ist, dass dies trotz der gewaltigen Steigerung gerade einmal 44,1 Prozent der mindestens 14-Jährigen waren. Auf der anderen Seite der „digitalen Kluft“ standen noch immer mehr als die Hälfte der Deutschen.
Die staatliche Internet-Politik sollte engagierter sein
Der Chefredakteur des Online-Magazins Telepolis, Florian Rötzer, wird in seinem einleitenden Essay nicht müde zu betonen, dass das „Internet für alle“ (wie Herbert Kubicek es in seinem Beitrag anpeilt) ohnehin noch längst nicht die automatische Lösung aller weltweiten Web-Probleme nach sich zöge: „Die drei primären Kulturtechniken, nämlich Lesen, Schreiben und Rechnen, und vermutlich noch die überaus entscheidenden Kulturtechniken der kognitiven Neugier und Wachheit, einer einigermaßen andauernden Konzentrationsfähigkeit und einer gewissen Frustrationstoleranz, sind unabdingbare Voraussetzungen dafür, die neuen Informations- und Kommunikationstechniken wirklich ausnutzen zu können.” Rötzers Urteil über die staatliche Internet-Politik fällt dabei ebenso vernichtend aus wie das von Dieter Klumpp, seines Zeichens Geschäftsführer der Alcatel SEL Stiftung für Kommunikationsforschung.
Klumpp hält die Einrichtung temporärer Public-Private-Agenturen zum Vorantreiben digitaler Innovationen für sinnvoll. Zugleich merkt er resignativ an: „Beim Stichwort Agenturen’ denkt der schlanke Staat’ wegen seiner leeren Kassen derzeit eher an Werbe-Agenturen, die das bisher Erreichte in Hochglanzbroschüren unter die Leute bringen.“
Praktische Ansätze zur Überwindung der “digitalen Spaltung” verheißen Positiveres
Solch düsteren Analysen stehen die praktischen Ansätze zur Überwindung der „digitalen Spaltung“ gegenüber, von denen Herbert Kubicek oder auch Claus Hoffmann berichten. Kubicek ist Professor für Angewandte Informatik mit dem Schwerpunkt Informationsmanagement und Telekommunikation an der Universität Bremen. In seinem Aufsatz beschreibt er die Bemühungen des Netzwerks „Digitale Chancen“, das beispielsweise eine Datenbank der Internetzugänge- und Lernorte in Deutschland aufgebaut hat.
Hoffmann wiederum arbeitet für die Medien- und Filmgesellschaft Baden-Württemberg. Dort leitet er den Bereich „Bildung/Veranstaltungen“. In seinem kurzen Beitrag erläutert er das „start und klick!“-Programm der Landesstiftung Baden-Württemberg, das seit September 2001 Computer- und Internetkenntnisse unter das Volk bringt. Jährlich finden Tausende Kurse statt, bis zu 130.000 Personen lernen dabei den Umgang mit den Neuen Medien.
Gleich, ob sie sich nun mit „eGovernment“, mit „Info-Channeling“ oder mit den zu erwartenden Auswirkungen der technischen Entwicklung auf das Bildungs-System beschäftigen – insgesamt vermitteln alle acht Beiträge des Sammelbandes den Eindruck, dass die Frage nach dem Internet-Zugang „für alle“ enormen gesellschaftlichen Sprengstoff in sich birgt.
Um es noch einmal mit Vilém Flusser zu sagen: „Wer […] ´politisch’ im Sinne der hergebrachten Kategorien denkt und etwa meint, daß Technik politisch neutral sei, geht an der gegenwärtigen Kulturrevolution vorbei.“