RusslandUnter Führung von Alexej Nawalny, dem Sprecher der russischen Opposition, demonstrierten am Sonntag tausende Regierungsgegner auf den Straßen von Moskau. Sie forderten die Freilassung von politischen Gefangenen, der Punkband Pussy Riot und der Umweltschützer von Greenpeace. Für die Opposition gibt es nur sehr begrenzte Möglichkeiten, breite Massen zu erreichen, zumal das russische Fernsehen durch die Regierung kontrolliert wird. Das ist einer der Gründe, warum die Opposition in Russland sich seit Längerem im Internet formiert.  
Die Proteste der russischen Opposition nach Wahlen sind mittlerweile zur Tradition geworden: 2011 nach den Parlamentswahlen, 2012 nach den Präsidentschaftswahlen und im September 2013 nach der Bürgermeisterwahl für Moskau. Die letzte Demonstration hat am vergangenen Sonntag stattgefunden. Neuwahlen bewirkten die Proteste der vergangenen Jahre jedoch nicht, dafür 400 neue politische Gefangene und Auseinandersetzungen mit der Polizei. Kann man also sagen, die Opposition in Russland ist gescheitert?
Klaus Segbers ist Professor für Internationale Beziehungen und Osteuropastudien an der Freien Universität Berlin und Gründer des „Center for Global Politics“, er meint nein: „Es wäre nicht richtig, zu sagen, dass die Opposition nichts erreicht hat“. Es habe in jedem Fall innerhalb und außerhalb Russlands eine sehr viel stärkere Aufmerksamkeit in den Medien gegeben, damit habe man schon mal „etwas erreicht“. Und es gab das denkwürdige Ergebnis bei der Bürgermeisterwahl in Moskau, bei der Oppositionsführer Nawalny 27 Prozent der Stimmen erhalten hat. „So etwas haben wir im putinischen Russland sehr selten, wenn überhaupt, gesehen.“, erklärt Klaus Segbers. Die Opposition stelle für die gegenwärtige Regierung zwar vielleicht keine systeminterne oder eine systemexterne ernste Herausforderung dar, sie sei aber auch nicht zu schwach, um das Regime zumindest in eine gewisse Unsicherheit zu versetzen.

Das seltsame politische System Russlands

In Russland herrscht ein hybrides Regime, ein Mischsystem, das Züge einer Demokratie mit denen einer Autokratie verbindet. Hier laufen Wahlen teilweise offen und fair ab, teilweise sind sie gesteuert. Das Problem in solchen Regimen sei es, so Segbers, aber vor allem, dass die Parteien vor den Wahlen keinen Zugang zu den Medien bekommen, um die Bevölkerung mit ihren Ideen und Positionen vertraut zu machen. Daher haben die oppositionellen Parteien eine pragmatische Lösung gefunden: Das Internet bietet ein großes, breites Spektrum und operiere relativ frei. „Das ist sicherlich das Medium, in dem die Oppositionsströmungen und- stimmen am ehesten Gehör finden mithilfe ihrer Netzwerke“.
Vor jeder anstehenden Demonstration kursieren Aufrufe zur Teilnahme in den sozialen Netzwerken, auf Facebook, VKontakte.ru, Odnoklassniki.ru, aber auch in Navalnys Livejournal, das Regierungsgegner aktiv nutzen, sowie auf privaten Bloggerseiten. Die User werden aufgefordert, die Meldungen zu teilen und zu verbreiten. Obwohl der Opposition der Zugang zu den meisten relevanten Fernseh- und Radiosendern verwehrt bleibt, schafft sie es mithilfe des Internets dennoch, mehrere tausende Menschen auf die Straßen zu bringen.
Der amerikanische Politikexperte Sam Greene konstatierte sogar 2011 in einem Interview mit dem US-Auslandssender Voice of America, die russische Regierung habe den Informationskrieg im Internet verloren, denn der Opposition gelinge es, das Internet effektiv zur Mobilisierung der Menschen und Finanzierung von Demonstrationen zu nutzen. Das gilt bis heute und beschreibt die Situation im Jahr 2013 sogar noch besser, bestätigt Segbers.
Nach Angaben der Internet-Zeitung „Bizhit.ru“ (Business & Internet) nutzten im vergangenen Jahr ca. 50 Millionen Russen täglich das Internet. Damit rangiert Russland auf dem ersten Platz in Europa und überholte sogar Deutschland. Der russische Abgeordnete und Leiter des Wahlkampfteams von Oppostionsführer Nawalny, Leonid Volkov, war einer der ersten, der dieses Potenzial erkannte und im Jahr 2011 zusammen mit vier ehrenamtlichen Programmieren die Plattform „Demokratie-2“ ins Leben rief.  „Demokratie-2“ gibt den Bürgern die Möglichkeit, ihre Meinung frei zu äußern und Gleichgesinnte zu finden“, erklärte Leonid Volkov nach der Gründung der Online-Plattform 2011 der russischen Tageszeitung  Vedemosti.
Dabei schließen die Gründer der Plattform eine Beteiligung von Regierungsvertretern der Partei Einiges Russland nicht aus. Im Gegenteil, sie seien eingeladen, sich mit den systemkritischen Parteien auszutauschen. „Wenn die Regierungsvertreter daran nicht teilnehmen, werden wir auch ohne sie ganz gut klar kommen. Dann brauchen sie sich aber nicht wundern, wenn sich hinter der Fassade des öffentlichen Schweigens eine vielschichtige zivile Macht herausbildet.“

Das Internet als Mittel der Politikgestaltung

In den vergangenen zwei bis drei Jahren sind weitere Online-Plattformen der Regierungsgegner entstanden: Die virtuelle Republik „Alter Russia“ wurde 2011 gegründet als eine demokratische Plattform für Debatten und Initiativen der Bürger. Hier gibt es keine politische Zensur und die Regeln der Politik-„Correctness“ müssen nicht eingehalten werden. Jeder registrierte Nutzer kann Gesetzesvorschläge bzw. Ergänzungen zu den vorhandenen Gesetzen der Russischen Föderation vorlegen. Die Vorschläge, für die sich die Mehrheit der Wähler entscheidet, bekommen den Status eines Gesetzes in der virtuellen Republik. Erklärtes Ziel der Gründer ist es, dass die zuständigen staatlichen Instanzen die „Gesetze“ aufgreifen werden.
Auf der Plattform „Putin muss gehen“ gründeten verschiedene Oppositionsführer 2011 das Projekt „Das politische Netz der direkten elektronischen Demokratie“. Im Rahmen dieses Projekts werden Unterschriften von Bürgern gesammelt, die die Ziele des Netzwerks teilen. Ihnen geht es um die Durchführung echter demokratischer Wahlen, die Errichtung eines demokratischen, sozialen Rechtsstaats und letztendlich um den Rücktritt Vladimir Putins. Die Zahl der Unterschriften, die den Rücktritt Vladimir Putins fordern, beläuft sich bisher auf 150.000.
Doch die Regierung will sich die Möglichkeit, das Internet aktiv zur Politikgestaltung zu nutzen, nicht nehmen lassen, und hat ihre eigenen Plattformen etabliert. So zum Beispiel „Demokrator“, die bereits 2010 gegründet wurde. Hier können sich die Bürger über soziale Probleme austauschen und ihre Anliegen an die Staatsorgane schicken.

Die uneinige Opposition

Unstrittig  aber bleibt, dass die Opposition im Internet bekannter ist und über eine stark entwickelte Bloggerszene verfügt. Präsident Wladimir Putin selbst hatte einst seine politischen Gegner als „Horde von Internetnutzern ohne Programm und Führung“ kritisiert. Nicht ganz ohne Grund.
Die oppositionellen Kräfte sind stark zerklüftet und alles andere als einig in ihren Zielen. Professor Segbers erklärt dieses Phänomen mit den großen Egos der oppositionellen Akteure: „Diesen Personen mit ihren stark entwickelten Egos fällt es viel leichter, jeweils eine eigene neue Organisation zu gründen, als in schon bestehenden Organisationen miteinander zu kooperieren. Das ist nicht nur ein Phänomen der Perestroika-Generation, sondern scheint auch auf die neuere Generation zuzutreffen, z.B. auf Xenia Sobchak und Alexej Nawalny“. Dabei brauche die Bevölkerung Alternativen, die nicht nur ein überzeugendes Programm haben, sondern auch ein „mediengängiges charismatisches Gesicht“, so Segbers. Und das gibt es seit einem Jahr.
Um die zahlreichen oppositionellen Kräfte zusammenzubringen und die Proteste besser zu koordinieren, war die Idee entstanden, einen Koordinationsrat der Opposition zu gründen. Im März 2012 wurden die ersten demokratischen Wahlen im Internet organisiert. Es beteiligten sich 82.000 systemkritische Bürger daran und wählten aus 200 Kandidaten 45 Vertreter in den Koordinationsrat. Dieses Organ vertritt bis heute die Interessen der Opposition legitim nach außen und fordert nach wie vor die Durchführung von Neuwahlen sowie Wahl- und Gerichtsreformen. Der Blogger Alexej Nawalny wurde damals mit mehr als 43.000 Stimmen zum Wahlsieger gekrönt. Die Wähler sahen in ihm wohl denjenigen, der das Zeug hat, etwas zu verändern. Den erstaunlichen Erfolg mit 82.000 abgegebenen Stimmen aus aller Welt bezeichnete der amerikanische Journalist Simon Schuster damals als das „wahrscheinlich größte Experiment auf dem Gebiet der Internet-Demokratie“.

Nawalny oder Putin?

Vorher hatte es in der politischen Arena in Russland kaum Persönlichkeiten mit Führungsambitionen gegeben, die breite Bevölkerungsmassen mitreißen konnten. Mit dem Auftreten von Alexej Nawalny scheint sich das geändert zu haben. Nawalny sei durchaus im Stande, mit Vladimir Putin Schritt zu halten. An rhetorischen Fähigkeiten und guter Medienausstrahlung mangele es ihm nicht, meint Segbers. Gleichzeitig habe Nawalny, genauso wie Putin, ein relativ breit aufgestelltes Programm und versuche sehr unterschiedliche Wählergruppen anzusprechen. Nawalny sei der erste Oppositionspolitiker, der zudem einen gewissen russischen Nationalismus und eine wenig freundliche Rhetorik gegenüber Emigranten aus Zentralasien bediene. Nawalny habe durchaus das Potenzial, sich zum Herausforderer Putins zu entwickeln, glaubt Segbers.
Jedoch stand Nawalny bereits mehrere Male vor Gericht. Er wurde unter anderem der Veruntreuung bezichtigt. Heute ist er zwar auf Bewährung frei, doch könnte Nawalny nach einem entsprechenden Gerichtsurteil völlig von der politischen Bühne verdrängt werden, zumindest bis 2026, wie die Internet-Zeitung Vedomosti berichtet. Nawalny selbst bestreitet, jemals gesetzeswidrig gehandelt zu haben.

Die Lage der Opposition

Nach der Wiederwahl Putins zum Präsidenten 2012 wurden das Demonstrationsrecht verschärft und Internetkontrollen ausgeweitet. Oppositionsführer müssen sich mit lästigen Gerichtsverhandlungen herumschlagen. Der Spielraum der Opposition verengt sich immer mehr. Doch das sei nur ein Teil des Problems, erklärt Professor Segbers: „Die Zivilgesellschaft muss sich durchsetzen. Wenn die Opposition in Russland es nicht schafft, sich ihre Rechte zu nehmen, dann ist sie offenbar nicht stark genug“. Das Problem liege also nicht nur darin, dass die Herrschenden die Macht nicht abgeben wollen, sondern ein Problem liege in der unzureichenden Reife und Entwicklung der Gesellschaft.
Doch Fakt ist auch, dass die Mehrheit der russischen Bevölkerung für eine dritte Amtszeit Putins stimmte. Laut Umfragen verliert er allerdings mehr und mehr an Zustimmung unter seinen Wählern. Denn es gebe dringenden Reformbedarf in Russland, so Segbers. Der russische Präsident wird in Zukunft wohl auch unpopuläre Entscheidungen treffen müssen: Reformen bei der Rente, beim Militär und beim Haushalt können nicht länger hinausgezögert werden. Hinzu kommt, dass aufstrebende Fachkräfte in der Verwaltung und in Großkonzernen rasant aufsteigen, aber ihr Potenzial bislang nicht ausschöpfen können, da die alten Oligarchen die Türen verschlossen halten. Sollte sich Putin hier nicht eiligst einmischen, könnten die erfolgreichen Fachleute von heute zu einer sehr starken und siegreichen Opposition von morgen werden.
 
Bild: Valya Egorshin ( CC BY 2.0 ) 
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