Hürde14,9 Prozent bzw. sieben Millionen der Wählerstimmen haben Kleinparteien bzw. solche, die nicht in den deutschen Bundestag kamen, bei der letzten Bundestagswahl erhalten – ein Novum in der Geschichte der Bundesrepublik. So steht ein Thema wieder im Mittelpunkt der Diskussion, das beinahe vergessen war: Passt eine Sperrklausel zu einer Demokratie?
4,8 Prozent der Stimmen für die FDP, 4,7 Prozent der Stimmen für die AfD (Alternative für Deutschland) und die Piratenpartei hat 2,2 Prozent der Stimmen erzielt. In Wählerstimmen heißt das, dass über sieben Millionen Stimmen (nimmt man die Nichtwähler bzw. ungültigen Stimmen davon aus) nicht im Parlament vertreten sind. Dadurch kam – nicht ganz überraschend – die Diskussion um die Sperrklausel auf Bundesebene wieder auf die Tagesordnung. Neben der gänzlichen Abschaffung der Fünfprozenthürde wurden auch weitere Alternativen im Netz diskutiert. Insbesondere der Vorschlag einer Eventualstimme von Staatsrechtler Hans Herbert von Arnim von der Verwaltungshochschule Speyer findet relativ großen Anklang. Demnach bliebe es bei einer Sperrklausel, jedoch hätte der Wähler noch eine weitere Stimme zur Verfügung, die er vergeben könnte, falls seine gewünschte Partei es nicht in den Bundestag schaffen sollte. Das viel beschworene Argument von der „verlorenen Stimme“ wäre damit obsolet.
Aus europäischer Sicht sieht die Diskussion dagegen prinzipiell anders aus, wie von Arnim betont: „Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zur Abschaffung der Fünfprozenthürde deutlich gemacht, dass die Argumente, die für eine Klausel auf Bundesebene sprechen, nicht auf die europäische Ebene übertragbar sind.“ Auf Bundesebene nämlich diene die Klausel in erster Linie der „stabilen Regierungsbildung“, und diese Aufgabe sei beim europäischen Parlament nicht vorhanden.

Fünfprozenthürde: Eine Benachteiligung der Kleinparteien?

Dabei ist das Thema wahrlich kein neues. Seit der Einführung der Sperrklausel in Form einer Fünfprozenthürde im Jahre 1953, die durch Paragraf 6, Absatz 3 des Bundeswahlgesetzes geregelt ist, hat es diverse Urteile, Kommentare und Forschungen innerhalb der Politikwissenschaft zu diesem Thema gegeben. Häufig wurde das Thema kontrovers diskutiert. Anders als die Parteienlandschaft, die sich weitgehend für das Beibehalten der Sperrklausel eintritt, ist die Forschung durchaus geteilter Meinung. So drängt sich die Frage auf: Ist eine Sperrklausel eigentlich nicht prinzipiell undemokratisch und benachteiligt sie Kleinparteien?
Tragisch hat sich die Sperrklausel bei dieser Bundestagswahl vor allem auf die FDP ausgewirkt: Die Partei hatte sich selbst immer deutlich für die Fünfprozenthürde auf Bundes- und EU-Ebene ausgesprochen, und auch das Gesetz zur Dreiprozenthürde bei Europawahlen hatte die Partei im Eiltempo mit CDU/CSU, der SPD sowie den Grünen, die sich in früheren Jahren durchaus dagegen positioniert hatten, durchgewinkt.  Nur die Linkspartei stimmte dagegen. Verfassungsrechtler von Arnim: „Das neue Gesetz wurde innerhalb von wenigen Tagen durch den Bundestag gepeitscht, obwohl selbst ein Gutachten des Innenministeriums dessen Verfassungswidrigkeit bestätigt hatte. Die Hürde bei Europawahlen ist ein grober Verstoß gegen die Gerechtigkeit sowie ein Widerspruch zur Gleichheit des Wahlrechtes.“
Bundespräsident Joachim Gauck hatte das neue Europawahlgesetz anschließend – erst Anfang Oktober – unterzeichnet. Doch ob es nun bei dieser Hürde bleibt, ist alles andere als gesetzt. Die Piratenpartei hat erst kürzlich Klage eingereicht und ist damit nicht allein: Auch die Freien Wähler, die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD), die Republikaner (REP) und die Ökologisch-Demokratische Partei (ÖDP) haben bereits angekündigt, vor das Bundesverfassungsgericht nach Karlsruhe zu ziehen und die Hürde zu Fall zu bringen. Doch ganz ohne Klausel geht es auch bei den Europawahlen nicht. Denn, wie von Arnim erklärt, gebe es ohnehin eine „natürliche Sperrklausel“ im Bereich von 0,6 bis ein Prozent der Stimmen. So viele Stimmen muss eine Partei erreichen, damit sie einen der 96 Sitze, über die Deutschland im EU-Parlament verfügt, erhalten kann.

Klage gegen die Sperrklausel

Die Argumente der Gegner einer solchen Klausel sind weitgehend homogen: „Offenheit für neue Ideen, politischer Wettbewerb und Vielfalt bilden das Fundament einer lebendigen Demokratie. Der Ausschluss kleiner und damit oft neuer Parteien aus dem EU-Parlament durch die Drei-Prozent-Sperrklausel führt zu einer Erstarrung des Parteiwesens und behindert die Lernfähigkeit des politischen Systems durch neue Impulse. Diese Sperrklausel ist undemokratisch und verhindert eine lebendige europäische Demokratie“, erklärt der Noch-Chef der Piratenpartei, Bernd Schlömer. Auch Sebastian Frankenberger, der Vorsitzender der ÖDP, argumentiert für den Wegfall: „Die Wähler haben Angst, dass ihre Stimmen verloren gehen. Daher entscheiden sich viele am Ende gegen die Wahl einer Kleinpartei.“ Doch die aktuelle Diskussion wirft auch die Frage auf, ob eine Partei mit einem oder zwei Abgeordneten überhaupt etwas bewirken kann, denn sogar große Parteien haben Schwierigkeiten, über ihre Arbeit in Brüssel und Straßburg zu kommunizieren. Frankenberger: „Häufig wollen die großen Parteien ihre Inhalte gar nicht kommunizieren. Wir setzen dagegen auf volle Transparenz unserer Arbeit und dabei spielt vor allem das Internet eine große Rolle in der direkten Kommunikation und im Austausch mit den Bürgern.“
Auch der Chef der Freien Wähler, Hubert Aiwanger, bestätigt den Vorwurf, dass die Fünfprozenthürde weniger der Unterstützung einer Regierungsbildung diene, als vielmehr der Abschottung vor ungeliebter Konkurrenz: „Die Wahlhürde ist ein Verlust für die Demokratie. Das Machtkartell der etablierten Brüssel-Parteien versucht nur die eigene Macht zu sichern. Das ist eine Verfestigung von Machtstrukturen.“

Zwei verschiedene Kampagnen zur Europawahl

Das Urteil soll – geht es nach den Klägern – möglicherweise noch in diesem Jahr fallen. Benachteiligt sind die Kleinparteien jetzt auf jeden Fall schon. Frankenberger: „Wir leiden darunter, denn wir müssen uns auf zwei verschiedene Kampagnen vorbereiten. Falls die Klausel fällt, müssen wir dem Wähler dies auch so auf unseren Plakaten vermitteln.“ Auch hätten bereits einige prominente Listenkandidaten aufgrund der Unsicherheit eines möglichen Einzugs abgesagt. Während der Straßenwahlkampf also „doppelt geplant“ werden muss, können die Parteien im Internetwahlkampf leichter und schneller auf die Ungewissheiten und die Urteilsverkündung reagieren – und damit auf ihren wichtigsten Kommunikationskanal zurückgreifen.
Auf Kommunalebene wurde schon erreicht, was sich viele Kleinparteien auf Bundes- und europäischer Ebene erhoffen und worauf sie immer wieder gerne verweisen. Sebastian Frankenberger von der ÖDP: „Die Kommunalebene ist ein gutes Beispiel für einen Bereich, in dem es keine Sperrklausel gibt und wo die politische Arbeit auch mit einer Vielzahl von Parteien gut funktioniert.“
Das Argument, man wolle mit der Sperrklausel einen möglichen Einzug der NPD vermeiden, das von einigen Politikern hierbei immer wieder angeführt wird, weist Frankenberger energisch zurück: „Die NPD hat es schließlich auch in einige Landtage geschafft, das Problem liegt also nicht in einer Sperrklausel, sondern in bestimmten Versäumnissen in der Politik“.
Klarheit wird es spätestens um den 18. Dezember geben. Dann soll in Karlsruhe verhandelt werden. Die Neuregelung wäre sofort gültig und dann nur noch schwer von den großen Parteien verhinderbar. Für von Arnim wäre es bei einem positiven Ausgang ein erneuter „Sieg für die Demokratie“.
 
Bilder: David Morris (CC BY 2.0)

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