unsichtbarer mensch obenAnonymität im Internet ist ein zweischneidiges Schwert. Sie kann Whistleblower bei der Preisgabe von Informationen schützen. Doch die vermeintliche Unsichtbarkeit wird von Menschen auch missbraucht, die Hass und Gemeinheiten verbreiten. Ingrid Brodnig, Leiterin des Medienressorts und Netzpolitik-Journalistin bei der Wiener Wochenzeitung „Falter“, diskutiert in ihrem Buch „Der unsichtbare Mensch“ die Licht- und Schattenseiten von Anonymität. Sie liefert aktuelle Beispiele und erläutert, wie sich Unidentifizierbarkeit auf das menschliche Verhalten auswirken kann. Brodnig motiviert den Leser darüber nachzudenken, wie Anonymität, Meinungsfreiheit, Demokratie und Überwachung zusammenhängen und wie jeder zu konstruktiven Debatten und einem respektvollen Umgang im Netz beitragen kann.
Einleitend (im zweiten Kapitel des Buchs) zeigt die Autorin, wie sich unser Verständnis von Anonymität im Laufe der Zeit verändert hat. Das Neue an Anonymität im Internet ist laut Brodnig, dass die rein textbasierte Kommunikation den Menschen ein Gefühl von „Unsichtbarkeit“ verleiht. Dass man weder gesehen noch gehört wird, kann sich sowohl positiv als auch negativ auf das menschliche Verhalten auswirken. Einerseits gelingen Kollaborationen, wie z. B. das Online-Lexikon Wikipedia, bei dem auch „Halbwissen“ zur Diskussion gestellt wird. Auch kann Anonymität den Schwachen oder Unterdrückten als Instrument dienen, um sich Gehör zu verschaffen. Brodnig schreibt über den Schutz von Informanten wie Whistleblower und investigative Journalisten, die für die Öffentlichkeit relevante Dinge aufdecken.
Ein Großteil des Buchs (das dritte und vierte Kapitel) beschäftigt sich mit den „dunklen Seiten“ der Anonymität im Netz: Mobs, Trolle und Kinderpornografie. Brodnig nennt u. a. Cybermobs, die in China als „Menschenfleisch-Suchmaschine“ bezeichnet werden. In einer Art Hexenjagd rächt sich die Meute an anderen. Anonymität in Form einer „gesichtslosen Masse“, die sich unsichtbar durch das Netz bewegt, verleitet häufig Menschen zu aggressivem und rücksichtslosem Verhalten. Viele Menschen trennen zwischen Online- und Offline-Identität und denken beim Verfassen einer Hass-Mail: „Das bin doch nicht ich“.
Manche Gruppen, wie z. B. Antifeministen oder das Kollektiv „Anonymous“ (die beide ausführlich im Buch besprochen werden), sind oft lauter als der durchschnittliche Kommentierende. Sie nutzen die vermeintliche Unsichtbarkeit im Netz, um zahlreicher zu erscheinen als sie tatsächlich sind. Ganze Debatten können sie ins Destruktive lenken, selbst wenn die Mehrheit der Leser anders denken mag.

Stärkt oder schwächt Anonymität im Internet die Demokratie?

Problematisch ist, dass die meisten Trolle oder Hassposter ihr Verhalten oft mit dem Argument der Meinungsfreiheit rechtfertigen. In einer demokratischen Gesellschaft sollte man angstfrei debattieren können. Dass Meinungsäußerungen Angriffsfläche bieten, wird in demokratischen Gesellschaften immer der Fall sein. Viktor Mayer-Schönberger vom Oxford Internet Institute schreibt im Vorwort zu Brodnigs Buch, dass vermehrte Anonymität im Internet ein „effektives Frühwarnsystem unserer Demokratie“ sei. Je weniger die Menschen bereit sind, unter ihrem echten Namen zu diskutierten, desto gefährdeter sei ein freier Diskurs.
Auch Unternehmer wie Mark Zuckerberg oder Arianna Huffington verlangen, dass Menschen unter ihrem echten Namen im Internet verkehren. Das Onlinemedium „Huffington Post“ verbietet anonyme Kommentare, da ihre Gründerin denkt, dass Menschen zu ihrer Meinung stehen und sich nicht „hinter der Anonymität verstecken“ sollten. Zuckerberg hingegen betrachtet mehrere Identitäten als einen „Mangel an Integrität“. Das hört sich vielleicht plausibel an, Brodnig weist in ihrem Buch jedoch darauf hin, dass Geheimdienste, Staaten und Internetkonzerne ein großes Interesse daran haben, zu wissen, wer, was und wo im Internet tut. Meinungsfreiheit und Demokratie könnten demnach als Vorwand für umfangreicheres Datensammeln und eine Kontrolle der Bevölkerung ausgenutzt werden.

Gibt es überhaupt noch echte Anonymität?

Ob es überhaupt noch Sinn mache, über Anonymität zu reden, wird im letzten Teil des Buchs besprochen (Kapitel 5). Denn durch die Bekanntmachung von Überwachungsapparaten und Vorratsdatenspeicherung ist bekannt, dass wir heute weder anonym noch privat im Netz unterwegs sind. Auch als Privatperson kann ich – z. B. anhand der Emailadresse – herausfinden, woher die  Hass-Poster kommen. Viele Menschen würden ihre Anonymität komplett falsch einschätzen, sagt Brodnig.
Lohnt es sich dann überhaupt, Anonymität im Internet zu schützen? Brodnig zitiert dazu in ihrem Buch den chinesischen Cyberdissidenten Michael Anti (echter Name: Zhao Jing):  „Es ging nicht um Anonymität, es ging um diese neue Identität … Als ich meinen Namen wechselte, wurde ich immer mutiger“. In dem Bewusstsein, dass die chinesische Regierung seine Identität stets kannte, kritisierte Anti im Internet unter seinem Pseudonym die kommunistische Führung. Sein Facebook-Profil wurde aufgrund der Klarnamenpflicht des sozialen Netzwerkes 2011 gelöscht. Anonymität bedeutet heute vielleicht eher die Möglichkeit, eine Seite der eigenen Persönlichkeit im Netz auszuleben und nicht komplett unerkannt zu sein. In diesem Sinne ist Identität  also nicht notwendig singulär, sondern passt sich an das Gegenüber an.

der unsichtbare mensch
Ingrid Brodnig: Der unsichtbare Mensch – Wie die Anonymität im Internet unsere Gesellschaft verändert. Wien: Czernin Verlag, 2013, € 18,90

Es gibt weitere Gründe, Anonymität im Internet nicht als Ganzes abzuschaffen. Brodnig liefert erschreckende Beispiele: Ein Realnamen-Gesetz, dass 2007 in Südkorea in Kraft trat, um bösartige Postings zu unterbinden, verpflichtete alle Bürger auf Websites, nur unter ihrem richtigen Namen und mit Nennung ihrer Einwohnernummer zu kommentieren. Kurz darauf wurden die privaten Daten von 70 Prozent der südkoreanischen Bevölkerung von Hackern geklaut.

Der Ton macht die Debatte

In einer Zeit in der on- und offline zunehmend miteinander verschmelzen, kann man nicht mehr von „Cybermobbing“ oder einer „virtuellen Welt“ sprechen. Anfeindungen im Netz sind real und schmerzhaft. Im letzten Teil des Buchs stellt Brodnig Wege für ein soziales Miteinander im Netz vor. Die Moderation von Kommentaren auf „Zeit Online“ wird als Beispiel genannt, wie eine respektvolle und sachliche Diskussion gefördert werden kann. Ein mehrköpfiges Community-Team überprüft jedes einzelne Posting anhand einer „digitalen Hausordnung“. Wird ein Kommentar gelöscht, gibt es eine Begründung wie: „Entfernt, da unsachlich. Die Redaktion“. Solch eine umfangreiche Moderation ist jedoch teuer und zeitaufwändig.
Die Hervorhebung von nützlichen Kommentaren durch Bewertungen anderer Nutzer, wie auf der Website Stack Overflow, ist eine preiswertere Möglichkeit, für einen freundlicheren Umgang im Internet zu sorgen. Konstruktive Beiträge werden durch positive Bewertungen belohnt und die Community überwacht sich selbst. Oft hilft es auch, wenn Journalisten oder Verfasser von Texten im Internet sich früh einschalten und mit ihrer Leserschaft diskutieren. „Zeit“-Redakteur David Schmidt sagte Brodnig, dass Artikel oft als ein fertiges, unmenschliches Produkt angesehen würden. Gegen diese „unpersönliche Wand“ ließe es sich leicht argumentieren. „Sobald da aber ein Mensch ist, der sagt, dass er sich Gedanken dazu gemacht hat, gehe ich ganz anders damit um“.
Im Allgemeinen könne aber jeder Einzelne ohne viel Aufwand für einen besseren Ton im Netz sorgen, z. B. indem man sich die Situationen im Internet offline vorzustellt. Die Autorin verweist auf ein YouTube Video, in dem Studenten den „Online Disinhibition Effect“ schauspielerisch darstellen. Es würde einem schon seltsam vorkommen, wenn Menschen ohne Vorwarnung öffentlich angepöbelt und beschimpft werden.

Fazit

„Der unsichtbare Mensch“ bespricht die historischen, politischen und psychologischen Dimensionen von Anonymität und erläutert die Komplexität des Konzepts im virtuellen Raum. Für Community-Manager und Moderatoren von Nachrichtenseiten oder Foren enthält das Buch eine Reihe von nützlichen Tipps, um besser auf anonyme Poster zu reagieren bzw. mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Das Einbinden von spannenden, aktuellen Beispielen sorgt für eine abwechslungsreiche Lektüre. Die Autorin bezieht zwischendurch immer wieder klar Position, was das Buch persönlich und zugänglich macht. So schreibt sie direkt zu Anfang des Buchs: „Ich plädiere weder für null noch für hundert Prozent Anonymität, sondern für eine komplexere Auseinandersetzung mit diesem Thema“. Was mich betrifft, hat Ingrid Brodnig ihr Ziel erreicht.
Bilder: oben: Daniela Hartmann (CC BY-NC-SA 2.0), Buchcover: © Czernin Verlag
Buch-Cover von Marina Weisband

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