Die Republik lernt sich im Netz kennen: nachdem die “Alten Medien” die
Spirale der Entrüstung bis zum Anschlag angezogen haben, tobt nun
ein verbaler Kampf zwischen Ost und West, links und rechts im Gästebuch der Stadt Sebnitz. Der Tod des kleinen Joseph wird zum medialen Selbstläufer
und im Internet trifft sich, was nicht zusammenwachsen will.
Was ist der Unterschied zwischen Ossis und Serben? Die konnte man wenigstens bombardieren,
um sie zu zivilisiertem Verhalten zu zwingen!”
“Wenn das so weiter geht bauen wir wieder ‘ne Mauer, aber so hoch das in Frankreich Schatten
ist. Manchmal frag ich mich echt was ihr Wessis ohne uns Ossis gemacht habt. Ihr seid doch alle
Euren Boulevard-Medien verfallen.”
Dies sind noch zwei der harmloseren Einträge aus dem
Internet-Gästebuch der
sächsischen Stadt Sebnitz. Dort tobt parallel
zur massenmedialen Berichterstattung über die Ermittlung, Verhaftung und Freilassung von
Tatverdächtigen im Fall des ums Leben gekommenen Joseph nicht nur ein “Gesinnungskrieg”
zwischen Rechts- und Linksextremen, sondern vor allem zwischen Ossis und Wessis.
Die mediale Inszenierung des Falls, der nach drei Jahren vor allem durch die mittlerweile in
Kritik geratene Beharrlichkeit der Eltern und die Sensationssucht der Boulevardmedien in den
Fokus des öffentlichen Interesses gerückt ist, beschleunigt die Handlung des Dramas. Nachdem
zunächst die Skandalisierung erfolgte, das hektische Handeln der Justiz gezeigt wurde und so
die holzschnittartigen Ritualen der Politprominenz provoziert wurden, steht jetzt das Internet
im Mittelpunkt. Dabei sind die Ereignisse im neuen Medium nicht nur Gegenstand der
Berichterstattung, sondern auch wieder Teil der Entwicklung im Fall “Joseph”.
Die Äußerungen im Internet-Gästebuch sind zum Teil volksverhetzend, gewaltverherrlichend und
angesichts des Todes eines Kindes auch geschmacklos. Es scheint fast so als ob die “Alten
Medien” aufgrund der pietätlosen Äußerungen des “Volksmundes” im Internet-Gästebuch die Nase
über das “Neue Medium” rümpfen und sich freuen, weiter an der Skandalschraube drehen zu können.
Ein willkommener Nebenkriegsschauplatz ist eröffnet. Anstatt inne zu halten und das eigene
Handeln zu hinterfragen, bei dem zum Teil Verdächtigungen und Vermutungen ungeprüft in den
Medienkreislauf eingespeist wurden, wird weiterhin der Entrüstungsspirale gefolgt. Zu der
alten Absprache der Medien, dass an dem Fall Neo-Nazis beteiligt waren und von der
schweigenden Mehrheit gedeckt werden, kommt nun die Empörung über den offenen und unzensierten
Schlagabtausch im Netz.
Nicht zuletzt durch die Berichterstattung in Presse und Fernsehen sind die Zugriffe auf das
Sebnitzer Gästebuch von vermutlich 17 im Jahr auf 17,8 pro Minute hochgeschnellt und liegen
mitlerweile insgesamt um die 100 000. Das digitale Deutschland trifft sich momentan am Rande
der sächsischen Schweiz und jeder schaut mal rein. Traffic ist Trumpf und kein Spruch zu
dumm, um nicht zur Schau gestellt zu werden. Neben der offenen Verhöhnung der Familie des
Opfers “Abdulla und seine 2 Schlampen ab nach Irak oder lebenslang ins Zuchthaus” und den
nicht minder harmlosen Kampfansagen an die “Nazi-Brut” im Osten wird schnell die Werbung für
“Handytaschen” oder das Bekenntnisse zu einem Fußballclub geposted.
Die Problematik mit virtuellen Pinnwänden ist nicht neu.
Nicht zum ersten Mal werden vor allem die unkontrollierten und ungepflegten Gästebücher von
Kommunen und Institutionen missbraucht. Die Alternativen lauten abschalten oder zensieren.
Auch die Stadt Sebnitz hatte zwischenzeitlich die Seite gesperrt, aber unter dem Hinweis,
dass die “Diskussion” von der Polizei beobachtet werde, wieder freigeschaltet. Unterdessen wurde auf der Homepage des Schauspielers
Herbert Meurer
, der sich für eine solidarische und demokratische Netzöffentlichkeit
engagiert, unter www.krisenloesung.de
ein alternatives Diskussionsforum eingerichtet.
So fordern die überraschten Besucher des Sebnitz-Gästebuches einerseits immer wieder die
permanente Säuberung der Einträge oder verlangen anderseits die Sicherung der aufgrund des
Traffics nicht mehr sichtbaren Äußerungen. Und in der Tat handelt es sich hier um ein
deutsches Zeitdokument einer in sich gespaltenen Republik in dem Vorurteil und Selbstmitleid,
Wessis und Ossis, Linksextreme und Rechtsradikale (West wie Ost), Normalos, Voyeure sowie
wirklich betroffene und couragierte Mitbürger ungebremst und ungefiltert aufeinander treffen.
Und das ist in dieser Unmittelbarkeit in keinem andern Medium denkbar. Dabei dürfte einerseits
die Konfrontation mit dem offen Hass und der bedrohlichen Präsenz von Rechtsextremen in der
Öffentlichkeit (Ost) und andererseits mit der Überheblichkeit und Selbstgefälligkeit (West)
für so manchen gesamtdeutschen Nischenbewohner ein Schock sein. Aber vielleicht ist gerade
das ein erster Schritt, um die so viel beschworene Zivilgesellschaft zu beleben.

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