Die Debatte über die Auswirkungen einer vernetzten Gesellschaft ist in vollem Gange. Die Sprecherin des Chaos Computer Clubs, Constanze Kurz, im Interview über das Ende der Netzöffentlichkeit, den Kampf gegen eine "Sprechblasen-Rhetorik" der Politik und den neuen Ton der Regierung gegenüber dem Netz.

Frank Schirrmacher fragt, wie das Internet unser Denken verändert – wie verändert es aber die Politik?

Foto: Constanze KurzErstens bietet es die Möglichkeit, eine Art von Gegenöffentlichkeit zu schaffen, Themen zu setzen und inhaltlich zu analysieren, wie beim Zugangserschwerungsgesetz zu mobilisieren und dies schließlich in konkrete politische Handlungen umzusetzen. Zweitens wenden sich nun viel mehr Leute mit ihren Anliegen direkt an ihre Abgeordneten. Das ist in dieser Häufigkeit eine Neuentwicklung. Viele Leute befassen sich jetzt mit den Gesetzentwürfen, analysieren sie oder betrachten sie humoristisch in „mash-ups“– ohne Spaß lässt sich schließlich keine Kampagne bauen. Drittens können sich die Leute nun viel einfacher in Arbeitskreisen zusammentun, um etwas auf die Beine zu stellen.

Bleiben die Aktiven im Netz da nicht nur unter sich?

Es geht erst langsam in die Köpfe, dass es keine reine Netzöffentlichkeit mehr gibt. Weit über die Hälfte der Bevölkerung ist online und nimmt so einen Großteil der Nachrichten wahr. Da sind nicht nur picklige Jugendliche im Netz, sondern erwachsene Menschen. Das Netz ist eine Möglichkeit, seine eigene Meinung zu äußern, es kostet nichts. Ob sie dann gehört wird, ist eine andere Frage. Es ist immer noch eine andere Sache, im FAZ-Feuilleton ein Thema zu setzen, als eine Nachricht über Twitter zu verbreiten.

Im MDR-Feature „Demokratie 2.0“ haben Sie das Netz gegen die „Sprechblasen-Rhetorik“ der Politik in Stellung gebracht…

Das ist vielleicht etwas idealistisch. Das Netz kann nicht immer politische Kampagnen demaskieren. Das kommt auf die Protagonisten an und die Wege, wie etwas veröffentlicht wird. Die Parteien werden nicht schlafen und ihre eigenen Kampagnen im Netz etablieren. Ob man da dauerhaft gegenhalten kann? Das wird auch für eine kleine Partei wie die Piraten schwierig, wenn die anderen Parteien anfangen, ernsthaft mit dem Netz zu arbeiten. Bei den nächsten Landtagswahlen werden sie noch nicht so weit sein, aber bei der nächsten Bundestagswahl.

Ist das Netz überhaupt der geeignete Ort für eine kritische Gegenöffentlichkeit? Jaron Lanier hat zuletzt im Interview gesagt, dass das Netz zu einem neuen Mitmachzwang führe und nur Konformismus zulasse.

Wir haben an vielen Projekten gesehen, dass das so sein kann. Aber das Netz bietet genug Möglichkeiten, sich dem Konformitätsdruck zu entziehen. Zudem gibt es kaum technische Barrieren, vor allem für die junge Generation, die die digitale Kultur mit der Muttermilch aufgesogen hat. Die ganze Frage des Informations-Overloads ist vor allem eine Frage des richtigen Umgangs. Die meisten Leute finden die Sachen, die sie suchen. Eine Chance des Netzes ist, die Transparenz in den Verfahren zu erhöhen – dass ein normaler Bürger mitbekommt, wie die ganze Gesetzgebungsverfahrenstechnik funktioniert und wer eigentlich mit wem diskutiert bis der Bundestag einem Gesetz zustimmt.

Schafft es tatsächlich mehr Transparenz, wenn Politiker nun anfangen zu twittern?

Es ist ein Schritt zu mehr Transparenz, wenn Politiker twittern – sofern sie es selbst tun. Bei manchen kann man daraus eine politische Persönlichkeit ableiten. Andere twittern die gleichen Sprechblasen, die sie in Talkshows sagen. Wichtig ist, dass wirklich aus der Innenseite des politischen Prozesses berichtet wird. Seit Jahrzehnten wird von Politikverdrossenheit geredet, aber das Netz bietet die Chance, die Bürger in diese Prozesse wieder hineinzubringen – wenn sich die etablierte Politik mehr öffnen würde. Das würde sich auch in der Wahlbeteiligung zeigen. Das Gerede von einer politisch desinteressierten Jugend halte ich für Unsinn. Wir dürfen uns das Netz aber auch nicht von PR-Beratern wegnehmen lassen. Wir kennen die Technik besser und müssen das nutzen.

Hat sich der Umgang mit dem Netz mit der neuen Regierung geändert?

Der Innenminister lädt nun netzpolitische Aktivisten zu sich ein. Und einige jüngere Politiker haben jetzt wichtige Positionen. Außerdem sollen mit der Enquete-Kommission netzpolitische Themen über alle Fraktionen hinweg aufgegriffen werden. Die Gegenöffentlichkeit war natürlich vorher schon da und konnte die Themen setzen. Aber die Relevanz wird jetzt gesehen. Ob das nur Symbolpolitik ist, wird sich auch daran zeigen, wie die Arbeit der Enquete-Kommission umgesetzt wird: Gibt es öffentliche Sitzungen, vielleicht einen Video-Stream, welche Agenda hat die Kommission? Außerdem warten wir noch auf wichtige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, wie das Urteil zur Vorratsdatenspeicherung Anfang März. Ich wünsche mir dazu eine andere Reaktion als die von Herrn Schäuble, der immer sagte, „das Gericht bestätigt meine Gesetzgebung“, obwohl seine Vorschläge als verfassungswidrig erklärt wurden.