Wahlkompass_ScreenshotWelche Partei kommt meiner politischen Einstellung am nächsten? Ein neues Online-Tool, der sogenannte Bundeswahlkompass, ermöglicht es Nutzern, die eigene politische Meinung mit den Positionen der unterschiedlichen Parteien zu vergleichen. Wir haben Prof. Harald Schoen, Inhaber des Lehrstuhls für Politische Soziologie und Mitentwickler des Tools, zu der Online-Applikation befragt.
Mindestlohn, Datenschutz, Frauenquote, Kita-Ausbau: Welche Partei ist der eigenen Position am nächsten? Mit dem Bundeswahlkompass ist nun eine neue Orientierungshilfe online. Der Kompass, eine kostenlose und überparteiliche Online-Applikation, gibt Anwendern die Möglichkeit, ihre politischen Meinungen mit den Positionen  verschiedener Parteien zu vergleichen. Zwar ermöglicht der Kompass keine völlig umfassende Verortung innerhalb der politischen Landkarte Deutschlands. Zumindest für 30 Thesen in Themengebieten wie Wirtschaft, Umwelt oder Sozialstaat aber kann sich der Nutzer seine Nähe zu Parteipositionen mithilfe des Online-Tools anzeigen lassen:
Zunächst positioniert sich der User mithilfe von fünf Antwortmöglichkeiten – beginnend bei „ich stimme vollkommen zu“ bis hin zu „ich stimmte überhaupt nicht zu“ – zu jeder These. Die Online-Applikation gleicht die Antworten des Nutzers im Anschluss daran mit den entsprechenden Positionen der Parteien ab. Das endgültige Ergebnis wird dann in Form eines zweidimensionalen Kompasses dargestellt, der die politischen Landschaft Deutschlands wiedergeben soll. Grafisch hübsch und übersichtlich sind dort wichtige politische Dimensionen – wirtschaftlich links/rechts auf der horizontalen Achse und sozial konservativ/progressiv auf der vertikalen Achse – erfasst. Innerhalb der Grafik zeigen Parteilogos die Position der jeweiligen Partei in dieser Landschaft auf. Das eigene Ergebnis – ein roter eingekreister Punkt – erscheint ebenfalls in der Grafik und verdeutlicht die Nähe zu den einzelnen Parteien. Durch weitere Funktionen kann außerdem die Einstellung der Parteien zu den unterschiedlichen Thesen sowie der zugehörige Ausschnitt im Parteiprogramm eingesehen werden – auch hier übersichtlich strukturiert und grafisch ansprechend gestaltet. Nähere Informationen zur Methodik der Datenerhebung, der Auswahl der Themen und der Aufbereitung der Ergebnisse finden sich im FAQ der Homepage.
Insgesamt hat der Bundeswahlkompass die Position von sieben Parteien via Inhaltsanalyse von „öffentlich zugänglichen Dokumenten“ erfasst: SPD, CDU, Bündnis90/Die Grünen, Die Linke, Piratenpartei und NPD. Kleinere oder regionale Parteien tauchen auf dem Kompass nicht auf. Entwickelt wurde der Bundeswahlkompass von einem Team deutscher Wissenschaftler der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg, der Otto-Friedrich-Universität Bamberg und der Freien Universität Berlin unter der Leitung von Dr. André Krouwel und dem niederländischen Unternehmen Kieskompas. Kieskompas hat bereits in über 40 Ländern ähnliche Projekte zu Wahlprozessen realisiert.
politik-digital.de: Prof. Schoen, vor kurzem ging der Bundeswahlkompass online, den Sie mitentwickelt haben. Wofür kann ich ihn benutzen?
Prof. Dr. Harald Schoen: Der Wahlkompass soll Wahlberechtigten Informationen auf der Grundlage von Parteiprogrammen und anderen offiziellen Dokumenten bereitstellen und ihnen so dabei helfen, sich bei der Wahlentscheidung zu orientieren. Darüber hinaus würden wir uns freuen, wenn er generell Interesse an der bevorstehenden Bundestagswahl wecken könnte.
politik-digital.de: Wollen Sie mit dieser Online-Applikation eine spezifische  Zielgruppe  ansprechen?
Prof. Dr. Schoen: Der Wahlkompass sollte für viele Bürger interessant sein. Beispielsweise können sich einige, die noch keine Gelegenheit hatten, sich zu informieren, eine erste Orientierung verschaffen. Für manche mag der Wahlkompass ein überraschendes Ergebnis bringen, das sie zum Anlass nehmen könnten, sich genauer mit der Wahl und dem Parteienangebot zu beschäftigen. Andere Nutzer mögen sich in ihren Vorstellungen und ihrer Wahlabsicht bestätigt sehen.

Prof. Dr. Harald Schoen lehrt Politikwissenschaft an der Universität Bamberg. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wahlen, Wahlkämpfe und Wahlverhalten. Dazu hat er zahlreiche Veröffentlichungen vorgelegt, unter anderem zusammen mit Jürgen W. Falter das „Handbuch Wahlforschung“ herausgegeben und gemeinsam mit Andreas Jungherr den Band „Das Internet in Wahlkämpfen“ verfasst.

politik-digital.de: In Deutschland existiert bereits seit 2002 der Wahl-O-Mat der Bundeszentrale für Politische Bildung. Auch bei diesem Online-Tool  kann der Nutzer mithilfe eines Thesenkatalogs herausfinden, welche Partei seiner politischen Position am nächsten steht. Genau wie der Bundeswahlkompass ist auch der Wahl-O-Mat parteienunabhängig und genießt eine hohe Reputation. Warum braucht es einen Bundeswahlkompass, und in welcher Form unterscheidet er sich vom Wahl-O-Mat?
Prof. Dr. Schoen: Der Wahlkompass unterscheidet sich in verschiedenen Hinsichten von anderen Wahlhilfen. Er zwingt Nutzer nicht dazu, Aussagen zu politischen Themen nach einem Ja/Nein-Schema zu beurteilen. Vielmehr erlaubt er es Nutzern, auf einer fünfstufigen Skala eine nuancierte Einschätzung abzugeben. So wird es auch möglich, die politischen Standpunkte von Nutzern und Parteien präziser zu erfassen und abzugleichen. Darüber hinaus gibt der Wahlkompass ausdrücklich keine Wahlempfehlung ab, sondern zeigt lediglich auf, wo in der politischen Landschaft sich ein Wahlberechtigter befindet. So kann das Missverständnis leichter vermieden werden, der Wahlkompass lege die Wahl einer bestimmten Partei nahe.
politik-digital.de: Sie haben die Positionen der jeweiligen Parteien durch eine Inhaltsanalyse „öffentlich zugänglicher Dokumente“ ermittelt. Wie hat die Einordnung der Parteien in ihr „Kompass-System“ konkret funktioniert? Waren es in erster Linie die Partei- und Wahlprogramme, anhand derer Sie die Einordnung vorgenommen haben?
Prof. Dr. Schoen: Ja. In erster Linie haben wir in der Tat auf Partei- und Wahlprogramme und ähnliche Dokumente zurückgegriffen. Auf dieser Grundlage haben wir ermittelt, wie sich die Parteien zu den ausgewählten Fragen positionieren.
politik-digital.de: Anhand welcher Kriterien haben Sie die vier „Richtungen“ ihres Kompasses konkret bestimmt? Erlaubt eine (Inhalts-)Analyse, die auf der Einstellungen von Parteien zu einigen einzelnen Thesen beruht, tatsächlich die Zuordnung innerhalb eines solchen Kompasses?
HSchoenProf. Dr. Schoen: Es ist gut belegt, dass einige wenige Konfliktlinien die politische Auseinandersetzung und den Parteienwettbewerb in einer Gesellschaft wesentlich prägen. Im Wahlkompass ist einerseits die wirtschaftliche Grunddimension berücksichtigt, andererseits die gesellschaftspolitische. Sie prägen die politische Auseinandersetzung in Deutschland wesentlich. Zu diesen Grunddimensionen haben wir jeweils relevante Themen ausgewählt und die Positionen der Parteien dazu bestimmt. Die Position der Nutzer ergibt sich allein aus deren Antworten.  Dabei liegt auf der Hand, dass die Konzentration auf zwei Grunddimensionen eine Vereinfachung darstellt, bei der notwendigerweise nicht alle programmatischen Feinheiten bis in die letzten Verästelungen berücksichtigt werden können. Diese können Nutzer, deren Interesse geweckt wurde, an anderer Stelle, etwa in Parteiprogrammen, nachlesen.
politik-digital.de: Auch wenn der Kompass explizit nicht dazu da ist, den Nutzern zu sagen, für welche Partei sie stimmen sollen: Kann eine solche „Orientierungshilfe“ nicht insbesondere Erstwähler dazu verführen, ihre Wahlentscheidung von einzelnen Thesen abhängig zu machen?
Prof. Dr. Schoen: Wie Sie bereits betonen, gibt der Wahlkompass ausdrücklich keine Wahlempfehlung für eine bestimmte Partei ab. Er soll lediglich zur politischen Orientierung beitragen und zur Meinungsbildung anregen. Zudem sollte man nicht aus dem Auge verlieren, dass Bürger gerade in Wahlkampfzeiten mit politischen Informationen und Überzeugungsbotschaften geradezu überschüttet werden. Der Wahlkompass ist also sicherlich nicht die einzige Quelle politischer Information. Daher ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein missverstandenes Ergebnis des Wahlkompasses den Ausschlag gibt, sehr gering, auch bei Erstwählern. Im Übrigen sind Erstwähler – wie Bürger in anderen Altersgruppen – kein homogener Block. Einige sind politisch stark interessiert, andere weniger. Einige wissen schon jetzt genau, wen sie wählen wollen, andere sind unsicher. Einige orientieren sich vorwiegend an Kandidaten, andere an Parteiloyalitäten, wieder andere an ganz bestimmten Themen, die ihnen wichtig sind.
politik-digital.de: Sie haben sich dafür entschieden, nur sieben Parteien in ihren Kompass mit aufzunehmen. Warum?
Prof. Dr. Schoen: Der Wahlkompass soll als Orientierungshilfe dienen, was eine gewisse Übersichtlichkeit voraussetzt. Daher mussten wir darauf verzichten, alle zur Bundestagswahl 2013 antretenden Parteien und Wählervereinigungen zu berücksichtigen.
politik-digital.de: Warum haben Sie die rechtsextreme NPD in Ihren Kompass mitaufgenommen?
Prof. Dr. Schoen: Gewiß nicht aus Sympathie für diese Partei oder mit dem Ziel, für sie zu werben. Auch bei Vorgängerprojekten in anderen Ländern wurden rechtsextreme Parteien berücksichtigt. Dies geschieht unter anderem zu dem Zweck, die Spannbreite des politischen Spektrums einigermaßen zutreffend zu erfassen.
politik-digital.de: Die Entwicklung des Wahlkompasses wurde unter anderem von dem niederländischen Unternehmen Kieskompas geleitet. Kieskompas hat bereits in über 40 Ländern Web-Applikationen zu Wahlen entwickelt, so zum Beispiel für die französischen Präsidentschaftswahlen 2012. Wie war dort das gesellschaftliche und politische Feedback für den Kompass und wie stark wurde er dort genutzt?
Prof. Dr. Schoen: Die Resonanz auf die Web-Applikationen war ausgesprochen positiv. Beispielsweise gab es in Frankreich über vier Millionen Nutzer. Und offenbar ist es mit diesem Instrument durchaus gelungen, zur politischen Meinungsbildung anzuregen.
 
Bilder: Screenshot Bundeswahlkompass; Harald Schoen
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