8585047526_109a4d5ff1_kDas neue Buch von CDU-Politiker Jens Spahn ist eine leidenschaftliche Fürsprache für weniger Datenschutz im Gesundheitswesen – zum Wohle der Patienten. Gegenargumente haben dabei leider keinen Platz. Trotzdem lässt das Werk einen interessanten Blick in die digitale Medizin zu.

Nachts um drei beginnt das Herzrasen. Man ist vorbelastet, hatte schon immer kardiologische Probleme. Der Gang zum Arzt ist um diese Uhrzeit unmöglich – was also tun? „Welch ein Segen wäre es für Sie, […] wenn Sie die Symptome einfach in eine App eingeben könnten, die Ihre Krankheitsgeschichte kennt und mit den akuten Beschwerden abgleicht und Ihnen in Sekundenschnelle entweder akute Maßnahmen empfiehlt oder Sie direkt per App mit einem Arzt verbindet.“ Jens Spahn, CDU-Bundestagsabgeordneter, ehemaliger Gesundheitspolitiker und heute Staatssekretär im Finanzministerium, hat gemeinsam mit den beiden Ärzten Markus Müschenich und Jörg F. Debatin ein neues Buch herausgebracht, das genau dieses Szenario genauer beleuchten möchte.

Vorteile der Internetmedizin

„App vom Arzt – Bessere Gesundheit durch digitale Medizin“ soll den Leserinnen und Lesern die Skepsis vor Datenkraken im Gesundheitssystem nehmen und die Vorteile eines digitalen Gesundheitswesens aufzeigen. Der Leser braucht in diesem Werk definitiv kein ausgewogenes Abwägen der Argumente beider Seiten zu erwarten. In weiten Teilen liest sich „App vom Arzt“ beinahe wie eine Kampfschrift für die digitale Medizin und eine umfassende Kritik am deutschen Datenschutz. Die Autoren bestreiten dies zwar immer wieder explizit, jedoch lässt sich das schwarz-weiß gezeichnete Weltbild in dieser Frage nicht verleugnen.

Dabei sind die Vorteile der digitalen Medizin (eHealth) unbestreitbar, die Argumente der Autoren mehr als nachvollziehbar. Ein umfassender Datenpool mit allen möglichen Gesundheitsindikatoren von Puls über Blutdruck bis hin zu Ernährungsgewohnheiten wäre für die weltweite Forschung ein wahrlicher Segen. Darüber hinaus ist eine umfassende Gesundheitsakte mit den persönlichen Lebensgewohnheiten und der medizinischen Vorgeschichte der Schritt in Richtung der personalisierten Medizin, in der beispielsweise die Medikamentendosis perfekt auf den Patienten abgestimmt sein könnte. Viel früher ließe sich erkennen, ob sich der Zustand eines Patienten verschlechtert oder verbessert, die Kosten würden hierdurch sinken. Auch die Kommunikation zwischen Ärzten und Patienten könnte viel einfacher werden – mit einer solch umfassenden Patientenakte würde das Informationsdefizit im Gesundheitssystem endgültig wegfallen.

Datenschutz ist was für Gesunde

Entscheidend sei letztlich der persönliche Mehrwert, den die digitale Medizin den Menschen geben würde, so die Autoren. Für Gesundheit und Lebenserhaltung könne man im Zweifel auch datenschutztechnische Bedenken über Bord werfen: „Datenschutz ist was für Gesunde.“ Diese steile These begründen die Autoren in ihrem Buch durchaus schlüssig, jedoch nicht antithetisch. Ihre Argumentation zielt einzig und allein darauf ab, diese Aussage zu untermauern, ohne dabei auf die Bedenken der anderen Seite einzugehen – der Mittelweg existiert nicht.

Dem Ziel einer digitalisierten Medizin und einer verbesserten Patientenversorgung stehe der deutsche Datenschutz im Weg – so die recht unverhohlene These von Spahn, Müschenich und Debatin. Es sei „in seiner jetzigen Form ein echter Innovationskiller, der den Fortschritt der Medizin behindert.“ Warum ist der Umgang der Deutschen mit Daten so verkrampft? Warum hat man kein Problem damit, dass Payback oder Netflix die eigenen Einkaufsgewohnheiten oder das Sehverhalten dokumentieren, im Gesundheitswesen aber immer mit Datenschutz argumentiert wird? Eine berechtigte Frage, auch wenn der Vergleich hinkt. Denn schon heute entstehen in der Medizin an vielen Stellen Daten, vom Computertomographen bis hin zur eigenen Fitness-App auf dem Smartphone. Warum diese Daten nicht um den Willen der eigenen Gesundheit zusammenführen?

Ärzte werden nicht ersetzt, aber entlastet

Dabei müssten auch die Ärzte verstehen, dass nicht mehr als „Halbgötter in Weiß“ gelten werden, sondern in Zukunft noch in ein System aus vernetzten Expertensystemen aus der ganzen Welt eingebunden sind. Das können Fachärzte aus anderen Ländern oder auch medizinische Datenbanken oder Ergebnisse aus Big Data-Analysen sein. Die Konsequenz sei den Autoren zufolge, dass Verantwortung im Gesundheitswesen in Zukunft anders verteilt werde: „Solche intelligenten, ‚mitdenkenden‘ Systeme werden zwar den Arzt oder die Pflegekraft nicht ersetzen. Sie werden aber deren Arbeit massiv entlasten und eröffnen damit Möglichkeiten für ein neues, intensiveres Arzt-Patienten-Verhältnis.“

Lobbyismus?

Das Buch zeigt darüber hinaus auf, wo die bis dato im Frühstadium befindliche digitale Medizin bereits heute eingesetzt wird. Von Migräne-Apps bis hin zu Herz-/Kreislauf-Analysen nur mithilfe von Smartphone-Kamera und Smartwatch – viele Ideen stammen aus noch nicht allzu lange existierenden Start-Ups. Neben vielen und breit gefächerten Beispielen aus der digitalen Medizin kommen jedoch auch oft Unternehmen vor, mit denen Autor Markus Müschenich selbst verbunden ist. Viele der genannten, teils preisgekrönten Start-Ups aus dem digitalen Gesundheitswesen unterstützt er selbst mit seinem Unternehmen Flying Health – einer Firma, die solchen Ideen aus der Digitalmedizin mit professioneller Unterstützung gezielt zur Marktreife verhilft.

Darüber hinaus ist der Mediziner selbst Vorstand des Bundesverbands Internetmedizin, in dem beinahe alle von Flying Health unterstützten Start-Ups Mitglied sind. Jörg F. Debatin ist nach einigen Stationen als Professor an Universitätskliniken heute Vice President von GE Healthcare, der Gesundheitssparte von General Electric, die selbst in Digitalmedizin investiert. So fachlich qualifiziert die beiden Autoren auch sein mögen: man wird den Beigeschmack einer interessengeleiteten Lobbyarbeit in Buchform leider nicht los.

eHealth: Die Herausforderungen sind riesig

Trotzdem ist das Buch insgesamt eine interessante Lektüre und auch ohne Vorkenntnisse gut lesbar, da Fachbegriffe aus Medizin und IT stets erklärt werden. Einerseits haben wir es hier mit der Darstellung  praxisnaher, digital- medizinischer Methoden zu tun, andererseits geht es um die Utopie der perfekten Versorgung im digitalen Gesundheitswesen.

Der praktische Zwischenschritt fehlt allerdings, denn um die Utopie zu erreichen  müssen noch unglaublich viele Hürden überwunden werden. Wie gehen wir mit dem Datenschutz in der Zukunft um? Ist Gesundsein ein ausreichendes Argument, um den Datenschutz über Bord zu werfen? Wie können wir solche Datenmengen sicher lagern? Vor allem die letzte Frage bleibt ein großes Rätsel: die Autoren sehen als selbstverständlich an, dass man seine Daten eines Tages in eine „hochgesicherte private Gesundheits-Cloud“ abspeichern werde. Doch digitale Systeme sind heute noch nicht vor Diebstahl und Angriffen gefeit – wie soll das in Zukunft gelöst werden (wenn das überhaupt möglich ist)?

Oft wird postuliert, dass die Sucht nach dem digitalen Raum krankmache – Jens Spahn, Markus Müschenich und Jörg F. Debatin setzen zum Schluss bewusst ein entgegengesetztes Statement: „Digital macht gesund“ – durchaus, sofern ihre utopische Vorstellung vom künftigen Gesundheitswesen wahr wird. Aber bis dahin müssen noch viele Fragen geklärt werden.

Titelbild: Jason Howie via flickr: licenced via CC BY 2.0 

 

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