Man stelle sich vor, bei der Entwicklung zentraler außenpolitischer Positionen würde Frank-Walter Steinmeier per Internet systematisch um Rat bei den Bürgern nachsuchen – eher unwahrscheinlich? Sein kanadischer Kollege hat es versucht. Ralf Lindner hat bei einem Forschungsaufenthalt in Ottawa recherchiert.

 

Nimmt man das deutsche Auswärtige Amt (AA) als Referenzpunkt, dem ja nicht selten ein gewisses elitäres Gepräge nachgesagt wird, scheint es in der Tat kaum vorstellbar, dass sich die politische
Führung und die Beamten des auswärtigen Dienstes auf einen ernsthaften Dialog mit den Bürgern einlassen. Klassiche Politikratgeber in Deutschland sind Menschen innerhalb der engeren Policy-Community – üblicherweise bestehend aus AA, den Akteuren auf der internationalen Bühne, einigen Interessenvertretern und den Institutionen der professionellen Politikberatung wie der Stiftung Wissenschaft und Politik.

Außenministerium als Vorreiter

Dass Online-Konsultationen durchaus als fester Bestandteil des politischen Zielfindungsprozesses sein können, zeigt die kanadische Bundesregierung nun schon seit mehreren Jahren. Neben dem kanadischen Gesundheitsministerium war das Außenministerium einer der Vorreiter beim Interneteinsatz bei Konsultationsprozessen. 2002 starteten kanadische Diplomaten, enthusiastisch unterstützt vom damaligen Außenminister Bill Graham, einen großangelegten internet-basierten Konsultationsprozess. Dieser sollte ein Beitrag zur Weiterentwicklung der außenpolitischen Grundlinien des Landes leisten. Politisch gesehen war dieses Konsultationsverfahren zwar ein Fehlschlag, da Graham bei einer Kabinettsumbildung das Ressort wechselte und sein Nachfolger wenig Interesse an einer Fortführung des ambitionierten Prozesses hatte. Mit Blick auf die gesammelten
Erfahrungen mit der Anwendung dieses Instruments der Politikentwicklung und der zumindest in Expertenkreisen hohen Aufmerksamkeit erwies sich der Pilotversuch jedoch als zusätzlicher Schub auch für andere Ressorts.

Vielfalt und Flexibilität der Verfahren

Für die meisten kanadischen Bundesministerien sind Online-Konsultationen nun seit Jahren integrales Element der Policy-Entwicklung, die andere Input-Mechanismen wie traditionelle (off-line) Konsultationen, beratende Expertengremien, Anhörungen und Kommissionen ergänzt. In der Regel werden dabei die unterschiedlichen Offline- und Online-Elemente miteinander kombiniert.

Die hohe Akzeptanz dieses neuen Instruments auf Seiten der ministries und departments liegt nicht zuletzt an der hohen Flexibilität der Online-Konsultationen. Je nach Policy-Problem kann das Konsultationsverfahren unterschiedlich ausgestaltet werden. In der Praxis decken die kanadischen
Online-Konsultationen nicht nur ein beeindruckendes Themenspektrum ab, sondern erfüllen auch je nach Bedarf unterschiedliche Funktionen im Prozess der Politikformulierung – von der Wortwahl bei
Verwaltungsbestimmungen bis zur Entwicklung strategischer Leitlinien. Sie sind zudem, je nach Gegenstand, auf unterschiedlichen politischen Hierarchieebenen angesiedelt.

Überwiegend „technische“ Detailfragen
Die Mehrzahl der angebotenen Konsultationen hat freilich einen ausgeprägt technischen Charakter und konzentriert sich auf bestimmte Detailaspekte eines politischen Regulierungsprozesses. So werden mit den im Vorfeld identifizierten nationalen Experten und Stakeholdergruppen Detailfragen
für Medizinprodukte oder zum wissenschaftlichen Beratungsbedarf des Gesundheitsministeriums ebenso diskutiert wie bestimmte technische Aspekte internationaler Handelsabkommen.

Weitaus seltener – dafür politisch oft brisanter – sind Konsultationsprozesse, die politische Grundsatzfragen und strategischen Optionen zum Gegenstand haben. Klar ist hierbei, dass neben der
eigentlichen Funktion der Policy-Entwicklung verstärkt Aspekte der Regierungskommunikation und Öffentlichkeitsarbeit ins Blickfeld geraten. Seit dem Antritt der konservativen Minderheitsregierung unter Stephen Harper Anfang 2006 kann jedenfalls beobachtet werden, dass die Häufigkeit „politischer“ (Online-)Konsultationen im Vergleich zu den liberalen orgängerregierungen deutlich abgenommen hat.

Zentrales Einstiegportal in die Debattenwelt
Um die zunächst unkoordinierten Einzelinitiativen der Ministerien und nachgeordneter Behörden zu bündeln, wurde bereits im Februar 2003 das Internetportal „Consulting with Canadians“ eingerichtet. Als zentrale und möglichst gut sichtbare Einstiegsstelle für interessierte Bürger stellt Consulting with Canadians Listen – nach Themen und Ressorts gegliedert – zu aktuellen und abgeschlossenen Konsultationsprozessen bereit. Inzwischen sind sämtliche Regierungsstellen verpflichtet, ihre Konsultationen – online wie offline – u.a. über Consulting Canadians zu veröffentlichen. Das Portal wird von einem Querschnittsministerium (Service Canada) betrieben, das ressortübergreifende Dienste zur Verfügung stellt und die Ministerien bei Bedarf in Sachen Online-Konsultationen unterstützt.

Vorbild für Deutschland?
Bei der Bewertung der – aus deutscher Warte – sicherlich beeindruckenden Praxis der kanadischen Bundesregierung, die Möglichkeiten des Internets zur Policy-Entwicklung zu nutzen, sollte der spezifische Kontext der Konsultationen nicht ausgeblendet werden. Zweierlei ist besonders bedeutsam:

Zum einen spielt der hohe informationstechnische Entwicklungsstand des Landes eine Rolle. Traditionell haben Informations- und Kommunikationstechnologien einen ausgesprochen hohen Stellenwert in Kanada, das flächenmäßig das zweitgrößte Land der Welt ist (aber lediglich 3.2
Einwohner/Km2 hat) und bei neuen Kommunikationsmedien stets zur internationalen Spitzengruppe zählt. Das tiefe Bewusstsein über die herausragende Bedeutung von Kommunikationssystemen für den Zusammenhalt des regional und kulturell vielfältigen Landes spiegelt sich auch in der Medienpolitik wider.

Zum anderen, und dies ist sicherlich noch bedeutender, spielen öffentliche Konsultationsprozesse sowie andere Partizipationsverfahren bei der Politikentwicklung seit Jahrzehnten eine sehr große
Rolle in Kanada. Diese eher „input-orientierte“ politische Kultur ist Ausdruck der vergleichsweise „schwachen“ politischen Parteien und der hohen politischen Integrationserfordernisse einer ethnisch-kulturell, sprachlich und regional mehrfach fragmentierten kanadischen Gesellschaft.

In der Bundesrepublik Deutschland könnte – trotz der offenkundigen Unterschiede zu Kanada – eine aktivere Öffnung der Policy-Formulierungsroutinen auf Regierungs- bzw. Ministeriumsebene in Zukunft eine wichtige Ergänzung zu etablierten Beteiligungskanälen darstellen. Angesichts der auch hierzulande schwindenden Kraft der Parteien und anderer gesellschaftlicher Großorganisationen,
inhaltliche Beiträge zu entwickeln und öffentlich zu diskutieren, könnten Konsultationsprozesse – darunter auch online-basierte Verfahren – die Qualität und Legitimation politischer Entscheidungen verbessern. Es dürfte sich jedenfalls lohnen, die kanadischen Erfahrungen mit öffentlichen Konsultationen im Allgemeinen und ihrer internetbasierten Form im Besonderen näher zu betrachten.



Hinweis

Die Recherchen und Experteninterviews, die die Grundlage für diesen Beitrag bilden, wurden im Rahmen eines Forschungsaufenthaltes des Autors in Ottawa (Mai 2007) durchgeführt.