Die Reinhardtstraße

Eine Stadt besteht zu weiten Teilen aus Häusern und aus Straßen. Von den Berliner Straßen sind einige
bekannter als andere: die Sonnenallee beispielsweise hat sich einen Namen gemacht, weil im gleichnamigen
Film von Leander Hausmann die Wessis so schön über die Mauer gucken, auf das im Osten doch recht
beschauliche Treiben. Die Straße des 17. Juni ist wahrscheinlich weniger wegen des Datums als vielmehr für
die Love-Parade berühmt und die Karl-Marx-Allee, weil sie früher Stalinallee hieß und das Gegenteil vom
Westberliner "ickkoofmirwat-Kuhdamm" ist.

Manch Berliner Straße hat in den letzten Jahren völlig ihr Gesicht verändert oder verloren und andere sind so
geblieben wie sie waren, nur mit mehr billigen Neonreklameschildern garniert. Es gibt aber immer noch Straßen,
an denen der Umbruch vom ach so pittoresken Verfall zur neuen Mitte ablesbar ist. Eine davon liegt mitten in der
Stadt und ist nicht nur bemerkenswert, weil sich hier das Berlin-Büro von politik-digital befindet, sondern auch,
weil sie eine der typisch Berliner Verbindungen zwischen architektonischem Trash und E-Architektur ist,
in diesem Fall dem jugendstilisierten Repräsentationsplattenbau des Friedrichstrassenpalast und dem kuppelgekrönten Reichstag.
Mehr noch: an der Reinhardstraße entlang lässt sich ablesen, welchen Weg Berlin seit nunmehr 10 Jahren geht.

Die Reinhardtstraße ist spät aufgewacht. Noch vor einem guten Jahr war das Viertel rund um die
Reinhardstrasse der letzte Kiez in Mitte, der noch ziemlich unsaniert am Spreeufer lag und mit Raum für illegale
Clubs und billige Wohnungen aufwarten konnte. Lange konnte dieser Zustand nicht währen, denn sowohl der
Reichstag als auch das neue Bundespressezentrum sind gleich um die Ecke. Gleich einem Berliner Naturgesetz
rückten auch hier die Baufirmen an und begannen pastell-farbige Fassaden für Medienunternehmen zu tünchen,
auf das die Mieten steigen und die Investoren zufrieden werden.

Noch bietet die Reinhardstraße aber ein Bild zwischen den baulichen und atmosphärischen Stühlen.
Geographisch gerafft zeigt sie das ganze Spektrum, illustriert die Ambitionen und Entwicklungsschritte, die Berlin
an anderen Stellen schon den Übergang von baufälligen Kiezen zur vollsanierten Langeweile beschert haben.

Biegt man von der Friedrichstraße auf Höhe des Friedrichstraßenpalasts in die Reinhardstraße ein, findet sich
zunächst eine einzelhänderische Mischung aus Fahrradladen, antiquarischer Buchhandlung und orientalischem
Teppichgeschäft. Ein erstes Highlight stellt hier der Kaffeekeller von Gina dar, der mit belegten Brötchen zu
1,20 und Bockwurst aufwartet. Wenige Meter weiter, alles noch auf unsaniertem Terrain, bietet ein russischer
Laden kitschige Samoware, seltsame Wodkasorten und Schokolade in unglaublichen Verpackungen feil.
Unklar ist, warum man dort immer ein Exemplar des Tagesspiegel geschenkt bekommt.

Die frisch fertig gestellte Dreispitz-Passage hingegen ist so ausgestorben wie ein Marktplatz auf dem Mond.
Allerdings weniger interessant. Weiter geht’s auf ostdeutschem Bürgersteig vorbei am Thomas-Dehler Haus der
FDP
, das so hochsaniert ist, dass es auch neu sein könnte. Linkerhand liegt noch ein leckerer Happen für
Baulöwen, ein tatsächlich unbebautes Stück Land, dass den Blick auf die Spree und die Heimstatt Brechtscher
Theaterkunst, das Berliner Ensemble freigibt.

Von da an geht es richtig los. Entweder die Häuser sind eingerüstet oder schon fertig saniert, wobei die
Blockrandbebauung kombiniert mit den ubiquitären Alufenstern, flotten Dachaufbauten und hellgelber Farbe
äußerst proper und ziemlich uniform daherkommen. Kurz vor dem begrünten Platz am Deutschen Theater steht
noch ein halbverfallenes Objekt. Das Pflaster der Hofeinfahrt ist teilweise aufgerissen und das Unkraut wuchert
sich an der Mauer entlang. Irgendeine Baufirma hat hier ihr Domizil und ist wohl noch nicht dazu gekommen,
die eigene Fassade zu verschönern.

An ihrem nördlichen Ende wartet die Reinhardstraße auch noch mit ein bisschen Uni-Viertel auf, die Mensa-Nord
versorgt die Medizinstudenten der nahegelegenen Charité und schickt ihren Kantinenduft über den Vorplatz.
Kurz dahinter, die belegten Brötchen kosten hier deutlich mehr als vorne in Gina´s Kaffeekeller, taucht die
Reinhardstraße unter der S-Bahn hindurch und vollzieht den letzten Wechsel. Der Blick schweift über weite
Flächen auf den Reichstag und die Baustelle des Kanzleramts. Hier übergibt die Reinhardtstraße nach einer
1000 Meter langen Reise durch die Nachwendezeit Berlins an die prominentere Konrad-Adenauer-Straße.
Fast hätten wir es nicht gemerkt: wir sind im Westen. Die Reinhardstraße endet genau dort, wo ihr früher
die Mauer den Weg abschnitt.