Ulla Schmidt
Bundessozialministerin Ulla Schmidt war
am 30. Oktober 2003 zu Gast im tacheles.02 Live-Chat von tagesschau.de
und politik-digital.de.

Moderator:
Herzlich willkommen im tacheles.02-Chat. Die Chat-Reihe tacheles.02 ist
ein Format von tagesschau.de und politik-digital.de und wird unterstützt
von tagesspiegel.de und von sueddeutsche.de. Heute ist Ulla Schmidt, Ministerin
für Gesundheit und Soziales, ins ARD-Hauptstadtstudio gekommen, vielen
Dank. Alles bereit, Frau Schmidt, können wir loslegen?

Ulla Schmidt:
Ja

Moderator:
Eine Frage von mir vorab: Die Deutsche Gesellschaft für Versicherte
und Patienten glaubt laut „Bild“-Zeitung, dass wegen aufgebrauchter
Budgets der Ärzte, die Praxen keine Behandlungstermine vergeben.
Können Sie ausschließen, dass die Ärzte Behandlungen ins
nächste Jahr verschieben, um nicht mit den Budget-Obergrenzen in
Konflikt zu kommen?

Ulla Schmidt:
Die Ärzte müssen alle Patienten und Patientinnen behandeln und
haben einen Vertrag mit den Krankenkassen, dass sie den Kranken das medizinisch
Notwendige immer zur Verfügung stellen. Die Kassenärztlichen
Vereinigungen sind verpflichtet, das medizinisch Notwendige zur Verfügung
zu stellen. Das hat auch im Übrigen immer funktioniert.

allmut:
In den beschriebenen Reformpaketen werden hauptsächlich die kleinen
Leute zur Kasse gebeten. Warum sind Beamte etc. von Zahlungen in die Versicherungskassen
ausgenommen??

Ulla Schmidt:
Die Beamten zahlen auch Krankenbeiträge, erhalten aber keinen Arbeitgeberanteil,
sondern stattdessen Beihilfen. All das, was im Modernisierungsgesetz beschlossen
wurde, wird auch auf den Beihilfeanteil übertragen. Das gilt dann
auch für Politiker und Minister.

CatherinaB:
Eine Frage zur Gesundheitsreform: Warum finden sich auf der Positivliste
hunderte Mittel ohne wissenschaftlichen und/oder klinischen Wirksamkeitsnachweis,
so wie Schweineenddarm und Drüsen junger Wölfe? Ich dachte es
geht um eine Grundversorgung mit „wirksamen“ Medikamenten?

Ulla Schmidt:
Das sind auch Medikamente, die auf der Positivliste enthalten waren, aber
wir brauchen darüber nicht mehr diskutieren, da die Opposition nicht
bereit war, der Einführung der Positivliste zuzustimmen. Und deshalb
wird sie nicht kommen.

Moderator:
Damit ist aber eines der wichtigsten Reformvorhaben im Gesundheitssystem
gescheitert. Nicht hart genug verhandelt?

Ulla Schmidt:
Das wichtigste Reformprojekt waren die strukturellen Veränderungen,
die Begrenzung der Ausgaben und damit einhergehend auch die Stabilisierung
der Sätze. Das, was mit der Positivliste an strukturellen Veränderungen
im Arzneimittelsektor vorgesehen war, wird jetzt durch andere Maßnahmen
erreicht, z.B. Festbeträge auf patentgeschützte Arzneimittel,
Nutzenbewertung von Arzneimitteln, und anderes mehr.

chatti:
Warum gelingt es den Ärzten immer wieder die Stimmung gegen Sie aufzuheizen?
Haben die eine bessere Strategie in der Öffentlichkeitsarbeit?

Ulla Schmidt:
Da bin ich mir nicht so sicher, aber sie haben natürlich das Machtmonopol
in den Arztpraxen und setzen auf das besondere Vertrauens- und Abhängigkeitsverhältnis
der Patienten und Patientinnen.

Moderator:
Höre ich da heraus, Sie beneiden die Ärzte um ihr Vertrauensverhältnis
zu den Patienten?

Ulla Schmidt:
Nein, wenn ich die Patienten alle einzeln vor mir sitzen habe, kann ich
sie auch überzeugen, dass nicht alle Äußerungen der Ärzte
richtig sind.

silke:
Sollte die Kassenärztliche Vereinigung nicht abgeschafft werden?
Welche Aufgabe hat diese Organisation außer durch bürokratische
Vorgänge Abläufe zu verlangsamen?

Ulla Schmidt:
Die wesentliche Aufgabe der Kassenärztlichen Vereinigung ist, sicherzustellen,
dass jeder die medizinische Versorgung bekommt, die er braucht. Am besten
sieht man das am Beispiel der Privatversicherung, die können ihren
Versicherten nicht garantieren, dass sie jederzeit einen Arzt oder Ärztin
finden, die sie zu ihren Versicherungskonditionen behandelt, z.B. zum
Standardtarif.

auch interessiert:
Stichwort Kassenbeiträge: Sie streben für das kommende Jahr
einen durchschnittlichen Satz von 13,6 Prozent an. Viele Kassen wollen
zwar senken, von den 13,6 Prozent sind sie aber weit entfernt. Beispiel
DAK: Jetzt 15,2 Prozent. Will ab Januar auf einen Beitrag 14,x senken.
Was wollen Sie tun?

Ulla Schmidt:
Natürlich muss nicht jede einzelne Krankenkasse auf diese Beiträge
absenken, denn bei den Beitragssätzen geht es immer um durchschnittliche
Größen. Sie haben eine Bandbreite von 11,9 bis 15,2, wenn sie
die einzelnen Kassen nehmen und damit ist auch das Entlastungspotenzial
jeder Kasse unterschiedlich. Aber es wäre ja für DAK-Versicherte
schon erfreulich, wenn sich der Satz wieder auf 14 zubewegt, statt auf
16, was ohne Reform eben zu befürchten gewesen wäre.

Moderator:
Aber Sie garantieren die 13,6% Durchschnitt für das nächste
Jahr?

Ulla Schmidt:
Man sollte nie was garantieren, aber wir werden alles daran setzen, alles
das was an Leistungen umfinanziert wird oder gestrichen wird oder über
Steuermittel finanziert wird, dass die Kassen dies in Senkungen an die
Versicherten weitergeben.
Wir haben auch bei unseren Berechnungen einkalkuliert,
dass die Kassen gut 3 Milliarden Euro für die Abdeckung möglicher
Defizite verwenden können und insofern gehe ich davon aus, dass wir
im Durchschnitt des kommenden Jahres die Beitragssatzsenkungen erreichen.
Nicht zum 1.1.2004.

Moderator:
Zur Praxisgebühr:

Bayernhawkins:
10 € pro Quartal für den Arzt. Hat schon einmal jemand ausgerechnet
wieviel es an Verwaltungskosten ausmacht diese 10 € zu erfassen?

Ulla Schmidt:
Nein. Das ist auch nicht das Entscheidende, denn die 10 Euro sind die
ersten 10 Euro des Honorars für den Arzt. Genauso wie der heute die
Versicherungskarte durchscannen muss, werden in Zukunft beim Erstbesuch
oder wenn keine Überweisung vorgelegt wird, die 10 Euro einbehalten
und dies bei der Abrechnung mit der KV angegeben. Das ist alles nur eine
Gewohnheitssache und wird in fast allen Ländern um uns herum so gehandhabt
und keiner beschwert sich dort über Bürokratie.

JFKF:
Wäre es nicht besser gewesen, in der Nachfolge von Frau Fischer erst
einmal die Budgets beizubehalten – und auch sanktionsbewehrt durchzusetzen
– und die Reformen dann echte Strukturreformen unter geringerem finanziellem
Druck anzugehen?

Ulla Schmidt:
Die Budgets sind bis heute noch beibehalten, was wir geändert haben,
war die Abschaffung des Kollektiv-Regresses, der seit seinem Bestehen
nie vollzogen worden war. Wir haben Obergrenzen für die Arzneimittelversorgung
auf vertraglicher Ebene eingeführt und wir haben in diesem Jahr auch
einen geringeren Anstieg bei den Arzneimittelausgaben. Die Budgetierung
im Arzneimittelbereich hat nur zu Rationierung für die Patienten
geführt, und nicht zu strukturellen Veränderungen.

Moderator:
Warum eigentlich nicht:

dumdidum:
Kann man nicht die Krankenkassen durch Gesetze verbieten, die zu hohe
Verwaltungskosten haben?

Ulla Schmidt:
Wir haben jetzt durchgesetzt, die Verwaltungsausgaben zu deckeln und darüber
hinaus ab dem kommenden Jahr gesetzlich festgeschrieben, dass die Krankenkassen
verpflichtet sind, ihre Mitglieder darüber zu informieren wie hoch
der Anteil der Verwaltungskosten am eigenen Beitragsaufkommen ist und
wofür Verwaltungskosten ausgegeben wurden.

Ebenso haben wir Auskunftspflicht
für Vorstandsgehälter gesetzlich vorgeschrieben. Dann kann das
einzelne Mitglied mehr Einfluss nehmen. Im Übrigen sind die Verwaltungsausgaben
bei den Privatvesicherern dreimal so hoch.

rb:
Ich wüsste gerne, warum die Bundesregierung glaubt, durch die Herausnahme
von nicht verschreibungspflichtigen Arzneimitteln, Geld sparen zu können.
Alternativ wüsste ich gerne, welche andere Logik hinter dieser Absicht
steckt.

Ulla Schmidt:
Die Menschen bezahlen heute schon von den rund 7,2 Milliarden Ausgaben
im nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittelsektor 5 Milliarden selbst.
Es bleiben gut 2 Milliarden, davon werden rund 1 Mrd von den Krankenkassen
ersetzt, z.B. zur Behandlung von Kindern oder wenn ein nichtverschreibungspflichtiges
Mittel zum Therapiestandard bei der Behandlung einer Krankheit gehört.

Bei den übrigen Arzneimitteln gehen wir davon aus, dass der größte
Teil in den Bereich der Selbstmedikation gehört. Wir geben aber die
Preise in diesem Sektor frei, so dass demnächst diese Arzneimittel,
die im Übrigen in ganz Europa nicht ersetzt werden, auch zu den gleichen
Preisen in Deutschland angeboten werden, wie es unsere Bürgerinnen
und Bürger sonst bei Auslandsreisen erfahren.

Moderator:
Noch mal zur Praxisgebühr:

Anja:
Was ist mit der Praxisgebühr, wenn man nun mal alle paar Monate nur
ein bestimmtes Rezept braucht und nur deswegen eben auch zum Arzt gehen
muss? Man ruft an und holt das Rezept ab. Und die Praxisgebühr muss
ich jedes Mal zahlen?

ello:
Glauben Sie nicht, dass eine höhere Selbstbeteiligung dazu führen
wird, dass auf Präventiv-Untersuchungen verzichtet wird, so dass
durch verschleppte Krankheiten ein viel größerer Schaden entsteht?

Ulla Schmidt:
Alle Vorsorgeuntersuchungen und Präventionsangebote sind weiterhin
kostenfrei. Die Praxisgebühr wird einmal im Quartal erhoben und ich
glaube, dass sich die Menschen daran gewöhnen werden. Die Erfahrungen
in anderen Ländern zeigen, dass durch solche Gebühren notwendige
Arztbesuche nicht verschoben werden. Aber wir haben heute eindeutig in
Deutschland zu viele Arztkontakte: 560.000.000 im Jahr.

Ich bin sicher,
so krank ist Deutschland nicht, Gott sei Dank. Bei den Rezepten ist es
so, dass wir eine Regelung für z.B. Antibabypille machen, wo zwar
in regelmäßigen Abständen auch eine Untersuchung erfolgen
sollte, aber trotzdem zwischendurch auch nur die Rezepte abgeholt werden
und dann soll keine Praxisgebühr fällig sein.

tdykier:
Sehr geehrte Frau Schmidt! Die gesellschaftlichen v.a. demographischen
und global-wirtschaftlichen Entwicklungen zwingen uns alle zu einem Umdenken.
Ihr – eindeutig unpopulärer – Weg zeugt von Ihrer Standhaftigkeit
und Wissen und ist sicherlich ein Weg, den Entwicklungen entgegenzuwirken.
Doch Ihr Standpunkt geht auf Kosten der Gerechtigkeit und trägt zu
einer Ausdehnung der Armuts-/Reichtumsschere bei. Erlaubt dies Ihr Gewissen,
Partei?

Ulla Schmidt:
Ich glaube nicht, dass das so ist, denn wenn ich heute keine Schritte
auf den Weg bringen würde, die Systeme der sozialen Sicherung effizienter
und effektiver zu gestalten, würden die Menschen, die auf Hilfe angewiesen
sind, eindeutig die Verlierer und Verliererinnen sein. Die Einschnitte
oder auch moderate Belastungen der Versicherten, z.B. im Gesundheitsbereich,
sind nicht nur notwendig, um das Gesundheitssystem bezahlbar zu machen,
sondern auch um die Solidarität zu stärken.

Gerechtigkeit bedeutet
in diesem Zusammenhang für mich, das System so zu organisieren, dass
auch unter veränderten ökonomischen Bedingungen und demografischen
Bedingungen jeder unabhängig von Alter und Einkommen das bekommt,
was medizinisch notwendig ist, und zwar auf Höhe des medizinischen
Fortschritts.

Volker Wilckens:
Hallo Frau Ministerin !! Ist mit der Gesundheitsreform 2003 gleichzeitig
das AiP zum 1.10.2004 abgeschafft worden!?! Wir Studenten sind uns nicht
ganz sicher!!

Moderator:
AiP ist „Arzt im Praktikum“

Ulla Schmidt:
Es wird zum 1.10 abgeschafft, aber das ist in einem eigenen Gesetz geregelt.

Moderator:
Wir sind ja nicht nur krank, sondern werden auch noch alt:

Ein Beitragszahler:
Die Vorschläge zur Erhöhung des Renteneintrittalters auf 67
oder 68 Jahre haben doch nur den Zweck, die in Zukunft notwendigen Abschläge
auf die Rentenzahlungen zu erleichtern. Oder glauben die verantwortlichen
Politiker wirklich, dass die Firmen ein Interesse daran haben, Oma und
Opa im Betrieb halten zu können. Vereinzelte Ausnahmen mag es ja
geben, aber in der Masse geht es doch nur um Rentenkürzungen. Unterstelle
ich hier etwas Falsches?

Ulla Schmidt:
Niemand will das Renteneintrittsalter heute oder morgen auf 67 Jahre hoch
setzen. Es geht um die Frage, was ist im Jahr 2035? Wir wissen heute,
dass sich die Rentenbezugsdauer um mindestens 3,5 Jahre verlängern
wird, weil die Lebenserwartung steigt. Es gibt nur drei Dinge die getan
werden können: Entweder wir erhöhen die Beiträge oder wir
senken das Niveau oder wir erhöhen das Renteneintrittsalter. Für
eines wird man sich im nächsten Jahrzehnt entscheiden müssen.

Aber ich teile Ihre Auffassung, dass wir in diesem Jahrzehnt, alle Kräfte
darauf konzentrieren müssen, dass auch die ältere Generation
Chancen auf dem Arbeitsmarkt hat und dass wir zunächst alles darin
investieren müssen, dass sich das tatsächliche Renteneintrittsalter
dem gesetzlichen annähert. Dann hätten wir schon viel gewonnen.

krone:
Ich bin Ende 20. Was meinen Sie, wie viel Rente ich zu erwarten habe?
Laurenz Meyer hat gestern hier im Chat gesagt 30-40 Prozent. Sehen Sie
das auch so?

Moderator:
Meyer sprach von 35 bis 40 Prozent Bruttorentenniveau für einen heute
30-jährigen. Das wären so grob geschätzt 840 Euro – bei
45 Jahren Arbeit mit Durchschnittsverdienst!

Ulla Schmidt:
Nein, das darf es nicht geben, denn die gesetzliche Rentenversicherung
wird in 30 Jahren nicht mehr die Lebensstandard sichernde Funktion haben
können, wie es die heutige Rentnergeneration nach 45 Arbeitsjahren
hat. Aber sie muss eine starke Säule bleiben und wer 45 Jahre eingezahlt
hat muss eine Rente erhalten, die über dem Sozialhilfeniveau liegt,
sonst verliert die gesetzliche Rentenversicherung ihre Akzeptanz.

Die
Berechnungen der Rürup-Kommission gehen davon aus, dass eine preisbereinigte
Rente, die ohne die jetzt anstehenden Reformmaßnahmen 1500 Euro
ausmachen würde, mit unseren angekündigten Maßnahmen in
30 Jahren bei etwa 1430 Euro liegen wird. Das sind schon preisbereinigte
Zahlen. Aber ich kann Ihnen nur empfehlen, dass Sie neben der umlagefinanzierten
Rente entweder in die betriebliche oder private kapitalgestützte
Säule investieren, denn zum Lebensstandard brauchen sie in 30 Jahren
beides.

auch interessiert:
Wie wollen sie aber denn verhindern, dass die gesetzliche Rentenversicherung
an Akzeptanz verliert?

Ulla Schmidt:
Indem die Reformschritte, die wir einleiten so auf den Weg gebracht werden,
dass sie den Anforderungen, wie ich sie eben beschrieben habe, auch gerecht
wird.

autentic_info:
Wie stellen Sie sich dann die Gesundheitsversorgung vor – in 30 Jahren?

Ulla Schmidt:
Ich hoffe dass es uns dann gelungen ist, durch den umfassenden Ausbau
der Prävention dafür zu sorgen, dass Krankheiten, die durch
gesundheitsbewusstes Verhalten vermieden werden, dass die Versorgung chronisch
kranker Menschen so optimiert ist, dass die Folgeerkrankungen so stark
wie es geht vermieden oder eingeschränkt werden und dass wir in Deutschland
durch einen Wettbewerb um die beste Qualität der medizinischen Versorgung
weiterhin ein attraktiver Gesundheitsstandort sind. Wenn uns dies beispielsweise
gelingt, wird Gesundheit auch in 30 Jahren noch bezahlbar sein.

Kai1239:
Sehr geehrte Frau Schmidt, wir haben heute in einer Fußgängerzone
die Menschen gefragt, was sie an der politischen Situation verbessern
würden und viele sagten, die “Rentenpolitik“. Wie erklären
sie sich, dass ihre “Allheilmittel“ den Wähler nicht
erreichen?

Ulla Schmidt:
Ich weiß nicht was sie unter „Allheilmitteln“ verstehen,
vielleicht könnten Sie das mal klären?

Axel aus München:
Stichwort “Ausbildungsanrechnung in der Rentenversicherung“:
Ich halte es für nicht akzeptabel, Ansprüche, die durch eine
abgeschlossene Ausbildung bereits erworben wurden, rückwirkend zu
streichen; wieder einmal ein Beispiel der fehlenden Berechenbarkeit im
Umfeld der Sozialversicherungen. Insgesamt ist es aber sicher akzeptabel,
die Ausbildungszeiten nicht als Beitragszeiten zu zählen; Anrechnung
zur Lebensarbeitszeit aber notwendig.

Ulla Schmidt:
Genau das geschieht und die berufliche Ausbildung wird auch weiterhin
höher angesetzt, wenn auch geringere Beiträge gezahlt werden.
Insofern darf ich sie also zu den Befürwortern des Konzepts zählen.

fgdghg:
Frau Schmidt, einerseits sollen mehr Leute an die Uni, andererseits wollen
Sie die Rentenansprüche für Akademiker kürzen. Wie passt
das zusammen?

Ulla Schmidt:
Ich bin auch Akademikerin und habe in meinem ganzen Leben noch niemanden
getroffen, der seine Entscheidung für ein Studium davon abhängig
gemacht hat, ob er dafür 20 Euro mehr Rente erhält. Ich wage
die Prognose, dass genauso wie ich damals, auch heute kein Student oder
eine Studentin weiß, dass es eine solche Höherbewertung überhaupt
gibt. Insofern muss Bildungspolitik andere Voraussetzungen erfüllen.
Studenten müssen gute Professoren, gut ausgerichtete Unis, eine aktuelle
Bibliothek und eine gute Studienförderung haben.

frank z:
Guten Tag Frau Schmidt, anstelle einer Beitragserhöhung oder einer
Rentennullrunde hätte es doch an sich noch eine dritte Lösungsmöglichkeit
gegeben: Eine weitere Stufe der Ökosteuer. Es hatte für mich
den Anschein, dass darüber nicht einmal nachgedacht wurde. Warum
eigentlich nicht?

Ulla Schmidt:
Nein, da haben wir auch nicht drüber nachgedacht, weil die Menschen
sich mit der derzeitigen Ökosteuer schon bis an die Grenzen belastet
fühlen und ich glaube auch nicht, dass wir langfristig die Probleme
in den Sozialversicherungen lösen, wenn wir immer nur nach anderen
Steuerquellen suchen. Das wäre zwar bei einem ausgeglichenen Haushalt
die einfachste Lösung, aber im Moment würde die Erhöhung
der Ökosteuer auch die Betriebe zusätzlich belasten und nicht
dazu dienen, dass die Konjunktur anspringt und damit die Bedingungen für
Beschäftigung verbessert werden.

koebes:
Guten Tag Frau Schmidt. Soll bei der Neugestaltung der Riester-Rente endlich
auch eine praktikable Lösung für die Einbeziehung von Immobilien
gefunden werden oder verschließt sich die Politik weiterhin dieser
beliebtesten Altersvorsorge???

Ulla Schmidt:
Wir sind derzeit in den Fraktionen noch mitten im Diskussionsprozess,
wie die Entbürokratisierung der Riester-Rente aussehen wird. Bisher
gibt es für die Förderung von Immobilien das Entnahmemodell,
aber das wird auch von vielen als zu bürokratisch angesehen. Wir
werden auch weiterhin nur das fördern können, was zu regelmäßigen
Zahlungen im Alter führt.

JFKF:
Warum werden Beamte, Berufssoldaten, Richter, Abgeordnete und Regierungsmitglieder
auch nicht annähernd so stark – wenn überhaupt merklich – in
die finanzielle Verantwortung gezogen wie Arbeiter und Angestellte – in
der Versorgung bei Krankheit wie auch im Alter?

Ulla Schmidt:
Es gibt nicht nur die reichen Beamten, sondern alle zahlen auch für
ihre Krankenversicherung und auch die Pensionsansprüche sind auch
bei der Bemessung der Gehälter berücksichtigt, aber ich kann
ihnen versichern, dass alles das, was wir im Bereich Gesundheit, Rente
und Pflege verabschieden werden wirkungsgleich auf Beamte, Abgeordnete,
Regierungsmitglieder etc. übertragen wird.

breiti:
Wen in der Union halten sie für den kompetentesten Gesprächspartner?
Besteht die Hoffnung, dass die großen Volksparteien gemeinsam mit
den Bürgern die Reformen meistern? oder müssen wir uns weiterhin
auf irgendwelche Parteispielchen “freuen“?

Ulla Schmidt:
Ich hoffe nicht. Ich gehe fest davon aus, dass wir bei der langfristigen
Reform der Rentenversicherung zu parteiübergreifenden Beschlüssen
kommen werden. Im Moment ist der kompetenteste Gesprächspartner eindeutig
Herr Seehofer, die Union hat nicht mehr viele.

Moderator:
Frau Schmidt, Es gibt Rürup-Vorschläge, Hartz-Gesetze und Riester-Rente.
Traurig, dass es noch nichts mit Schmidt- gibt?

Ulla Schmidt:
Nein.

Moderator:
Das war´s, vielen Dank, Frau Schmidt, dass Sie ins ARD-Hauptstadtstudio
gekommen sind. Die Transkripte gibt es wie immer auf den Seiten der Veranstalter.
Das tacheles.02-Team wünscht allen Beteiligten noch einen schönen
Tag.

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