Prof. Dr. Ulrich von AlemannProf.
Dr. Ulrich von Alemann,
Parteienforscher, war am 26. Juni 2003
zu Gast im tacheles.02 Live-Chat von tagesschau.de und politik-digital.de.
Live aus Düsseldorf.

Moderator: Und nun geht es los! Liebe Politik-Interessierte, herzlich
willkommen im tacheles.02-Chat. Unsere Chat-Reihe tacheles.02 ist ein
Format von tagesschau.de und politik-digital.de und wird unterstützt
von tagesspiegel.de. Heute begrüßen wir den Politikwissenschaftler
Prof. Dr. Ulrich von Alemann. Er chattet live aus Düsseldorf. Guten
Tag Prof. von Alemann! Sind Sie bereit für den 60-Minuten-Chat mit
unseren Usern?

von Alemann:
Ich bin bereit, es kann von mir aus gerne los gehen.

Moderator:
Dann steigen wir direkt in die Materie ein. Wird die politische Auseinandersetzung
in und zwischen den Parteien tatsächlich immer härter? Oder
kriegen wir heute durch die Medien nur alles viel mehr mit?

von Alemann:
Ich glaube, die politische Auseinandersetzung ist immer schon sehr hart
gewesen. In der Tat wird heute durch die Medien alles wie durch ein Vergrößerungsglas
verstärkt. Die Medien brauchen Futter, und zwar möglichst aufregendes,
um die Auflage oder die Quote zu steigern. Dadurch wird die Politik immer
stärker dramatisiert.

michaela: Gibt
es bestimmte Politikertypen? Wenn ja, wie sehen die aus?

von Alemann:
Ja, damit hat sich auch die Wissenschaft schon beschäftigt. Da gibt
es erstens den "Delegierten", der versucht, getreu die Aufträge
seiner Wähler umzusetzen. Dann gibt es zweitens den "Vertrauensmann",
der eigenständig verantwortlich für das Gemeinwohl handelt.
Und drittens gibt es den "Vollblutpolitiker", der als eine Art
Politikunternehmer die beiden Typen verbindet und zusätzlich seinen
eigenen Nutzen nicht vergisst.

Moderator:
Soweit die Theorie mit der Typologie. In der Praxis beschäftigt die
Leute nun der Fall Möllemann. Dazu einige Fragen, Herr von Alemann:

Politik-Profi:
Wie sehen Sie den Aufstieg und Fall des Herrn Möllemann? Gibt es
– wenn man mal etwas in die Vergangenheit schaut – Politiker, die einen
ähnlich dramatischen Karriereverlauf hatten? (Mit Karriereverlauf
meine ich: Vom Hoffnungsträger, zum Medienliebling, zum Provokateur,
zum Ausgestoßenen)

von Alemann:
Möllemann hat ursprünglich eine nicht ganz untypische Politikerkarriere
hingelegt, sich schon als Jugendlicher engagiert, frühzeitig nach
politischen Ämtern gestrebt und sich dann einen mächtigen älteren
Mentor ausgesucht, der ihn gefördert hat: Das war der frühere
Außenminister Genscher. Dann hat er auf eigene Faust weitergemacht
und sich nach ersten Rückschlägen oft gegen seine eigene Partei
profiliert und über die Medien versucht, Politik zu machen. Auch
dafür gibt es andere Beispiele. Nicht zuletzt Bundeskanzler Schröder
hat sich oft gegen seine Partei zu profilieren versucht. Die "Outlaws"
sind in der deutschen Politik eher selten, aber auch dafür gibt es
Beispiele. In erster Linie denke ich hier an Oskar Lafontaine. Beide,
Möllemann und Lafontaine, sind ja genau in dieser Rolle von Sabine
Christiansen eingeladen worden. Keiner konnte wissen, dass dies Möllemanns
letzter Auftritt war.

michaela: Inwiefern
hat Genscher Möllemann in seiner Persönlichkeitsentwicklung
beeinflusst?

von Alemann:
Ich bin kein Psychologe. Aber Möllemann hat Genscher sicher grenzenlos
bewundert. Insbesondere die Grenzenlosigkeit Genschers, der sich im Flugzeug
über dem Atlantik mehrfach selber begegnet sein soll.

michaela: Herr
Alemann, hat die FDP Herrn Möllemann wirklich in den Tod getrieben?
Da waren doch sicher noch andere Faktoren im Spiel?

von Alemann:
Falls es wirklich Suizid war, wofür fast alles spricht, so sind dabei
immer mehrere Faktoren im Spiel. Hier ist wieder der Psychologe gefragt.
Möllemann sah sich sicherlich politisch in einer Sackgasse. Ihm fehlte
die Medienpräsenz, von der er sein Leben lang abhängig schien.
Welche Rolle die Strafverfahren gegen ihn spielten, kann ich nicht beurteilen,
da es schwebende Verfahren sind. Jemand, der in seiner eigenen Partei
so polarisiert, hat sicherlich viele Feinde. Aber Parteifreunde auf der
Spitzenebene lieben sich selten und sind fast nie miteinander befreundet,
da sie misstrauisch miteinander konkurrieren. Ich kann mir aber nicht
vorstellen, dass ihn irgendeiner seiner Parteifreunde zum Äußersten
treiben wollte.

Moderator:
Nachfrage zum Verhältnis zu den Medien:

sandro: Ist
Möllemann an seinem eigenen Lieblingskind zu Grunde gegangen – Den
Medien?

von Alemann:
Möllemann war ein Medienpolitiker, und der Liebesentzug durch die
Medien hat ihn deshalb sicher schwer getroffen.

michaela: Welche
Parallelen gibt es zwischen dem Tod Barschels und Möllemanns?

von Alemann:
Es gibt Parallelen und Unterschiede. Beide Politiker befanden sich in
ihrer eigenen politischen Karriere in der Sackgasse. Der Unterschied liegt
allerdings darin, dass das Ende von Barschel in einem Genfer Hotel in
der Badewanne unter Drogen und Alkohol um vieles inszenierter und mysteriöser
war als der Fallschirmabsprung von Möllemann.

Moderator:
Und noch einmal zurück zu den Medien:

halligalli:
Kann man nicht eher sagen, dass er die Medien bis zu seinem schrecklichen
Ende auf professionelle Weise benutzt hat?

von Alemann:
Sicher kann man sagen, dass Möllemann auch nach seinem Rückzug
aus der aktiven FDP-Politik die Medien weiterhin versucht hat auszunutzen,
bis kurz vor Schluss bei Sabine Christiansen, und auch schon vorher mit
der Publikation seines Buches "Klartext", das mit entsprechender
Begleitmusik mehr dramatisierte als es eigentlich Substanz enthielt. Und
auch das Ende selber – als Sprung in den Tod – lässt an Dramatik
nichts zu wünschen übrig. Insofern benutzte er die Medien bis
zum Ende, aber genauso haben die Medien eifrig ihn benutzt.

Moderator:
Machen wir einen Sprung von der eher psychologischen zur politischen Ebene
im Fall Möllemann.

Thorsten Lenze:
Glauben Sie, Jürgen Möllemann hätte mit einer eigenen Partei
Erfolg gehabt, eventuell die FDP in NRW sogar verdrängen können?

von Alemann:
Eine Parteiabspaltung hat in der Bundesrepublik noch nie Erfolg gehabt.
Bereits nach der Wende der FDP von der SPD zur CDU-Koalition 1982 hat
sich eine linksliberale Gruppierung abgespalten, die "Liberalen Demokraten",
die keinen Erfolg hatten. Auch eine "Klartext-Partei" von Möllemann
hätte nicht einmal den Anfangserfolg der Schill-Partei in Hamburg
gehabt. Aber wenn sie auf 2-3 % gekommen wäre, was schon viel wäre,
so hätte das die FDP schon schmerzen können.

StudentDU-E:
Wie sehen Sie die Position des Vorsitzenden Westerwelle in der Möllemann-Affäre?
Hat er nicht durchgreifend gehandelt um die Populismus-Debatte zu beenden
oder wollte er nicht richtig eingreifen? Denn besonders für eine
liberale Partei ist solch ein Graben am rechten Rand die Selbstaufgabe
der Werte.

von Alemann: Westerwelle
hat im Wahlkampf 2002 eng mit Möllemann zusammengearbeitet. Das dokumentieren
nicht nur die gemeinsamen Projekte (Kanzlerkandidatur der FDP und 18%-Strategie),
sondern auch zahlreiche heute schon fast peinliche Pressefotos der beiden
auf gemeinsamen Wahlkampfpodien. In der Populismusfrage hat sich Westerwelle
nur halbherzig von Möllemann distanziert, und zwar weniger in der
Sache, sondern mehr in der Form, weil er von dem Friedman-Flyer wenige
Tage vor der Wahl nichts wusste. Ich denke, dass für beide Politiker
das unbedingte Ziel der Stimmenmaximierung galt. Insofern konnte ich keinen
wesentlichen Unterschied in der politischen Strategie der beiden erkennen.

justus: Eine
generelle Frage: Sind die Werte einer Partei nicht sowieso angekratzt,
wenn ein führender Politiker im Wahlkampf den Alleingang probt?

von Alemann:
Ich sehe nicht, dass die Werte einer Partei dadurch beschädigt sind,
dass ein Spitzenpolitiker aus der Reihe tanzt. Denn die Werte einer Partei
sind im Grundsatzprogramm und in Wahlzielen von den Parteitagen beschlossen.
Hier finden sich wunderschöne Visionen, nach denen die Bürger
immer fragen. Natürlich verletzt ein Politiker, der sich an die Vorgaben
seiner eigenen Partei nicht hält, die Glaubwürdigkeit und die
Strategiefähigkeit seiner Gruppe. Dann weiß der Wähler
nicht mehr, woran er sich halten soll. Das ist aber eher ein Problem der
politischen Klugheit als der politischen Werte.

Robert Langenberg:
Um mal vom Thema Möllemann wegzukommen, ich dachte es ginge (zumindest
auch) um die Korrumpierung von Politikern durch Macht (wofür Möllemann
sicher auch Gesprächsstoff böte). Ist die mittlerweile einige
Jahre vergangene Parteispendenaffäre nicht ein Hinweis darauf, dass
ein Großteil der Politiker von der Macht verführt wurde? Ähnliches
wurde ja auch später bei einigen Funktionären der SPD aufgedeckt.

von Alemann:
Ich glaube nicht, dass Politik generell ein schmutziges Geschäft
ist, wie der Volksmund sagt. Politiker müssen sicherlich hohen moralischen
Maßstäben genügen. Das gilt aber genauso für Unternehmer,
Theaterintendanten, Verbandsgeschäftsführer oder Bischöfe.
Es gibt keine Sondermoral der Politik. Wer Verantwortung trägt in
unserer Gesellschaft, muss generell eine Vorbild-Funktion akzeptieren.
Politiker stehen aber unter hohem Druck der Medien und unter intensiverer
Beobachtung. Dazu pflegen sie in Sonntagsreden gerne besonders hohe Moralstandards.

Moderator:
Für Sie müssen Politiker "besondere Anforderungen an Vorbild-Verhalten
akzeptieren". Müssen Prominente und Politiker sich tatsächlich
ständig als wandelnde Vorbilder präsentieren? Sind sie nicht
auch ein Spiegel der Gesellschaft? Wie weit geht die Moral?

von Alemann:
Natürlich sind Politiker Teil der Gesellschaft und insofern keiner
Sondermoral unterworfen. Es gibt keine besondere politische Moral, sondern
alle, die Verantwortung tragen, müssen sich an höheren Standards
messen lassen als der normale Bürger.

gerlinde: Ich
denke schon, dass Politik häufig ein zumindest beschmutztes Geschäft
ist, eben weil es um Macht und Geld geht.

von Alemann:
Viel Macht verführt und viel Geld verführt ebenfalls. Und wenn
beides zusammen kommt, dann ist die Gefahr besonders hoch. Das sehen wir
gerade in Italien am Beispiel Berlusconi. Das ist aber kein Kennzeichen
von unserer Gegenwart, denn dieses Problem hat es schon immer gegeben.
Das darf nicht zur Resignation führen, sondern zu verstärkten
Anstrengungen, die Maßnahmen gegen Missbrauch von Macht und Geld
immer neu zu justieren. Zum Beispiel durch Korruptionsgesetzgebung oder
durch das Parteiengesetz.

xy-ungelöst:
Gut, aber in Italien hält die Mafia weitaus grundlegender als hier
ihren Daumen auf die Politik. Finden Sie, dass man das so einfach vergleichen
kann?

von Alemann:
Jeder gute Vergleich hinkt. Ich habe Berlusconi mitnichten mit unseren
Politikern verglichen. Entscheidend ist, dass gegen Missstände wirksam
vorgegangen wird. Deswegen können Skandale auch eine nützliche
reinigende Funktion haben. Sie dürfen nur nicht die Öffentlichkeit
und auch die Politiker zynisch abstumpfen.

halligalli:
Wenn man Politik als Spiegel der Gesellschaft versteht, lässt das
natürlich auch auf das Moralverständnis der Bevölkerung
schließen. Sind wir denn wirklich so sensationsbesessen?

von Alemann:
Es gibt gar nicht nur eine Moral, die etwa immer weiter absinkt. Es gibt
viele Moralen, von denen manche durchaus Fortschritte zeigen: Zum Beispiel
die Umweltmoral oder die Kindererziehung ohne Prügel. Ich wehre mich
dagegen, dass man pauschal sagt: Die Moral, die sinkt ständig. Die
Medien müssen, um sich zu verkaufen, Nachrichtenwerte beachten. Dazu
gehört, dass Prominentes, Negatives, Aktuelles immer besser läuft
als das normale Gute und Schöne. Und da die Medien von uns Käufern
bezahlt werden, ist es deshalb auch unsere Nachfrage nach Sensationen,
die die Medien befriedigen. Wir müssen uns deshalb manchmal auch
an die eigene Nase fassen.

Gundula: Was
steht denn im Parteiengesetz zu diesem Thema? Kann man die Frage um die
problematische Verquickung von Macht und Geld überhaupt in eine gesetzliche
Form gießen?

von Alemann:
Im Parteiengesetz steht, dass Spenden nicht mit dem Erkaufen von konkreten
Vorteilen verbunden sein dürfen. Und natürlich steht da noch
viel mehr drin. Insbesondere, dass alle größeren Spenden öffentlich
bekannt gemacht werden müssen. Der Bürger soll wissen, welche
Partei von wem bezahlt wird. Ein ganz hohes Gut in der Demokratie ist
nämlich die Offenheit, die Transparenz. Das Parteiengesetz ist gerade
im letzten Jahr entscheidend verschärft worden, in dem Verstöße
jetzt wirklich mit Gefängnisstrafen bedroht sind. Das ist eine ganz
wesentliche Verbesserung, weil deshalb auch Staatsanwälte im Verdachtsfall
ermitteln können und sogar müssen. Auch Möllemann war man
hier auf den Fersen.

Margot: Haben
FDP-Haushaltsloch und Spekulationen um Möllemanns Finanzen etwas
miteinander zu tun?

von Alemann:
Ich bin skeptisch gegenüber Verschwörungstheorien. Ich glaube,
dass die FDP Probleme hat, der Haushalt Probleme hat und Möllemann
seine Probleme auf seine Art gelöst hat. Ob das alles miteinander
zusammenhängt, das möchte ich bezweifeln.

Moderator:
Zum Abschluss noch etwas Privates:

Huber: Herr
Alemann, wollten sie nie Politiker werden?

von Alemann:
Nein. Ich wollte nie Politiker werden, weil ich mein Privatleben behalten
wollte. Die Rolle als Politikexperte ist mir viel lieber.

Moderator:
Liebe Chat-Freunde, unsere Gesprächsrunde ist leider vorbei. Herzlichen
Dank, Prof. von Alemann, dass Sie mit uns gechattet haben. Und vielen
Dank an alle UserInnen für Ihr Interesse. Viele Fragen blieben leider
unbeantwortet. Noch ein Terminhinweis: Am Dienstag, 01. Juli, ist der
designierte PDS-Chef Lothar Bisky im Chat, um Ihre Fragen zu beantworten.
Wir würden uns freuen, wenn Sie wieder dabei sind. Die Transkripte
aller tacheles.02-Chats finden Sie auf den Webseiten der Veranstalter
tagesschau.de und politik-digital.de.

von Alemann:
Es hat mir viel Spaß gemacht und ich wünsche noch einen schönen
Tag. Tschüss.