Ellis Huber, der ehemalige Präsident der
Ärztekammer Berlin, war am 15. Mai 2007 zu Gast im tagesschau-Chat
in Kooperation mit politik-digital.de. Er sprach über die prekäre
Lage der Ärzte, die Schnittmengen von Ökonomie und Medizin
und die
Zukunft des deutschen Gesundheitssystems.

Moderator: Liebe Politik-Interessierte, herzlich
willkommen zum tagesschau-Chat. Unser Gast im ARD-Hauptstadtstudio
ist heute Ellis Huber, der ehemalige Präsident der Ärztekammer
Berlin. Vielen Dank fürs Kommen, Herr Huber. Heute soll es
um das deutsche Gesundheitssystem gehen. Können wir beginnen?Ellis Huber

Ellis Huber: Ja. Gerne.

flinkerfeder: Welche Therapie würden Sie
als Arzt dem Gesundheitssystem verordnen?

Ellis Huber: Voraussetzung aller Therapie ist
eine vernünftige Diagnose. Das Krankheitssymptom im Gesundheitswesen
der BRD ist ein Misstrauen aller gegeneinander und die mangelnde
Zusammenarbeit zwischen Krankenkassen, Ärzten, Krankenhäusern
und der Gesundheitspolitik. Das Misstrauen führt zu einer aufgeblähten
Bürokratie und die mangelnde Kooperation zu einer Vergeudung
der Geldmittel. Meine Therapie ist ein neuer Geist der Kooperation
zwischen allen Beteiligten und Vertrauen zwischen ihnen und auch
zwischen Dienstleistern und Patienten, indem wir die Verhältnisse
transparent machen und zeigen, was wirklich ist. Und das Ziel gemeinsam
verfolgen, das da ist: Preiswerte Gesundheit für alle Bürgerinnen
und Bürger.

dingenskirchen: Woher kommt denn dieses Misstrauen
zwischen Krankenkassen, Ärzten und Lobby?

Ellis Huber: Die Geldmittel, die im Rahmen der
gesetzlichen Versicherung zur Verfügung stehen, sind begrenzt.
Zur Zeit geben die Menschen 2.200 Euro pro Jahr und Kopf in diesen
Solidartopf.
Ärzte und Krankenhäuser sollten nun möglichst preiswert
die Gesundheitsversorgung organisieren. In Wirklichkeit organisieren
sie maximale Medizin. Die Krankenkassen müssen nun dieser Bedingung
ein solidarisches Miteinander in großen Bevölkerungsgruppen
kultivieren. In der Realität versuchen sie aber, hilfsbedürftige
Menschen eher auszugrenzen. Die fehlende Kooperation zwischen Dienstleistern
und Krankenkassen führt dazu, dass jede Seite die jeweils andere
für den Schlamassel verantwortlich macht. Das führt zu
einer Krankheit des Misstrauens. Die Hälfte der Geldmittel
von 2.200 Euro pro Jahr und Bürger fließt inzwischen
in Prozeduren und Richtungen und Verhaltensweisen, die nicht heilen,
nicht pflegen und nicht helfen. Und diese Ressourcenvergeudung kann
nur beendet werden, wenn ein Geist des Aufbruchs und des Gemeinsamen
Einzug hält.

Husten: Wie schlecht ist es um das deutsche Gesundheitssystem
tatsächlich bestellt? Stehen wir nicht im internationalen Vergleich
noch ganz gut da, mit gesetzlicher Krankenkasse und so weiter?

Ellis Huber: Wir zählen zu den reichsten
Ländern der Welt. Im Vergleich zu den USA ist es bei uns noch
ganz ordentlich. Mein Ziel ist es, das Know how und die Management-Kunst
so zu entwickeln, dass wir in Deutschland in der Lage sind, effizient
und effektiv große Bevölkerungsgruppen gut zu versorgen.
Ein Volkswagen der Gesundheitsversorgung für Bevölkerungsgruppen,
also ein Versorgungssystem, das robust, zuverlässig, preiswert
läuft und läuft und läuft, wäre ein Exportschlager,
denn das braucht die ganze Welt. Es ist an der Zeit, mit der Jammerei
aufzuhören und endlich die Chancen zu sehen. Wir können
auf der Basis des vorhandenen Gesundheitswesens eine deutlich bessere
und preiswertere Versorgung ermöglichen, wenn wir mit dem kleinkarierten
Gezänk zwischen den Beteiligten und der gruppenegoistischen
Pfründewirtschaft endlich aufhören.

Applebeacher: Wird sich die Demografieverschiebung,
also das Älterwerden unserer Gesellschaft, sehr negativ auf
das Gesundheitssystem auswirken und wenn ja, was können wir
dagegen machen, ohne die Beiträge ins Unermessliche steigen
zu lassen?

Ellis Huber: Die demografische Entwicklung ist
ein Problem. Wenn der Anteil der älteren Menschen insgesamt
zunimmt, werden auch mehr Mittel gebraucht, um die Versorgungsaufgabe
sicherzustellen. Aber das Alter ist keine Krankheit. Heute 80-jährige
Menschen sind so rüstig und vital wie die 65-jährigen
vor 30 Jahren. Fachkompetente Prävention und Gesundheitsförderung
ermöglicht, dass Menschen relativ rüstig und lebenstüchtig
alt werden und im hohen Alter nach einer kurzen Phase des Leidens
dann auch würdig sterben. Teuer wird es, wenn wir die Einsamkeit
von alten Menschen, den Verlust von Lebenssinn und die Ausgrenzung
als medizinisches Problem behandeln. Die Einsamkeit mit Herzkathedern
und Psychopharmaka zu bekämpfen, ist sehr viel teurer, als
alte Menschen in das öffentliche Leben weiter einzubeziehen.
Mehr als ein Drittel der Lebenszeitkosten eines Krankenversicherten
verursachen die letzten zwölf Lebensmonate, völlig unabhängig
vom Alter. Aus anderen Ländern wie Schweden oder Japan, wo
der Altersanteil innerhalb der Bevölkerung schon größer
ist, können wir ablesen, dass Alterskrankheiten kein unbeherrschbares
Kostenproblem sind. Die höchste Lebenserwartung in Europa haben
die Menschen in Griechenland, Italien und Spanien. Gleichzeitig
sind dort die Gesundheitsversorgungskosten geringer. Vernünftig
zu essen ist wirksamer gegen Altersprobleme als ein Ausbau von Intensivstationen.

Claas: Ist in Ihren Augen die Abgabe der Krankenhäuser
und Kliniken an private Investoren in Bezug auf die Qualität
des Gesundheitssystems richtig?

Applebeacher: Sind Medizin und Ökonomie eigentlich
miteinander vereinbar?

Ellis Huber: Ökonomie ist die Wissenschaft
vom Umgang mit knappen Ressourcen. Das heutige Gesundheitswesen
ist als System fehlgesteuert. 30 bis 40 Prozent der Mittel fließen
in Overheadkosten und sind unter den Vorgaben eines modernen Managements
Ressourcenvergeudung. Für eine Arztpraxis oder einen Krankenhausträger
ist es aufgrund der ökonomischen Anreize betriebswirtschaftlich
lukrativ, möglichst viel Aktionismus zu entfalten.
Der wirtschaftliche Erfolg von Orthopäden, die Gelenke spiegeln
oder spülen und Knorpelscheiben schmirgeln, führt zum
ökonomischen Kollaps im Gesamtsystem. Die Krankheit einer Krebszellenökonomie
lässt sich nur überwinden, wenn künftig alle Beteiligten
zielorientiert und mit dem festen Willen, vernünftig mit den
Ressourcen umzugehen, zusammenarbeiten.

Es macht Sinn, Gesundheitsversorgung als Non-Profit-Wirtschaft
zu gestalten und die Ausbeutung von individuellem Leid durch die
Profitinteressen von Pharmaaktionären zu begrenzen. Ich kenne
viele private Klinikbetreiber, die sozial verantwortlich tätig
sind, und welche, die schamlos abkassieren. Ich kenne viele öffentliche
Häuser, die gute Arbeit leisten und andere, die ein schlechtes
Management abliefern. Entscheidend ist nicht privat oder öffentlich,
entscheidend ist sozial verantwortliches und professionelles Management,
um aus jeweils knappen Ressourcen jeweils beste Ergebnisse zu schöpfen.
Also gute Ökonomie für die Gesundheit der Bevölkerung

Habers: Sind die Pharmakonzerne in Deutschland
zu mächtig?

Mathias78: Besteht aus Ihrer Sicht eine reale
Chance, den Lobbyismus der Ärzte, Krankenhäuser und der
Pharmaindustrie mit ihren jeweiligen Interessen zu überwinden
und eine ganzheitliche Versorgungsstruktur in Deutschland aufzubauen?

Ellis Huber: Ganz eindeutig ja. Die Ärzte
sind nicht einheitlich in ihrem Selbstverständnis.
Es gibt ganz wunderbare Mediziner, die sehr einfühlsam und
mit hoher sozialer Verantwortung tätig werden. Und es gibt
gewissenlose Zyniker, die sinnlose Medizin betreiben, weil es ihrem
Einkommen nützt. Die Pharmaindustrie ist ein kleiner Zuliefersektor
in der Größenordnung von 15 Prozent des Gesamtumsatzes
für die Gesundheitsversorgung. Ärztinnen und Ärzte
steuern mit ihren Entscheidungen 80 bis 90 Prozent des Mitteleinsatzes.
Vor diesem Hintergrund ist die Bedeutung der Pharmaindustrie für
die Prozesse der Gesundheitsversorgung einzuordnen wie die Bremsbelagproduzenten
oder Autositzhersteller für die Prozesse in der Automobilindustrie.

Das Problem liegt darin begründet, dass Ärztinnen und
Ärzte nicht selbstbewusst und konsequent ihre Macht nutzen
und nach wie vor zu sehr ihr Denken und Handeln von Pharmainteressen
manipulieren lassen. Ich sehe nun, dass immer mehr Ärztinnen
und Ärzte sich emanzipieren und eine ganzheitliche Medizin
anstreben, die individuelle und soziale Gesundheit erreichen lässt.
Der Gesetzgeber hat Netzwerken von Ärzten und Krankenkassen
inzwischen die Freiheit gegeben, für große Bevölkerungsgruppen
vernünftige Versorgung zu organisieren. Wir werden in den nächsten
Jahren eine dynamische Entwicklung erleben und die Macht der Pharmaindustrie
wird sinken.
Das Arzneimittel in der Kommunikationsgesellschaft heißt Bildung.
Die Selbstheilungskräfte sind meist wirksamer als gängige
Tabletten. Wenn Mentaltrainer zum Erfolg der Fußballnationalmannschaft
beitragen, sollte die Wirkung mentaler Kräfte endlich auch
im Gesundheitswesen akzeptiert werden. Die Bedeutung von emotionalen,
geistigen und sozialen Einflüssen für die individuelle
Gesundheit wird unterschätzt und die Bedeutung von chemischen
Stoffen gewaltig überschätzt.

Leif Michelsen: Sehr geehrter Herr Huber! Ich
studiere Medizin im vierten Semester. Muss ich mich bis zu meinem
Berufsstart auf starke weitere Einschränkungen einstellen –
oder sehen Sie eine Besserung der Arbeitsbedingungen für Mediziner
in Deutschland?

Ellis Huber: Also, Mediziner, die experimentierfreudig
sind und das Herz auf dem rechten Fleck haben, besitzen hervorragende
Zukunftsperspektiven. Wir brauchen viel mehr Ärzte mit sozialer
und kommunikativer Kompetenz und weniger Mediziningenieure, die
am Räderwerk der Körper reparieren wollen.

Klaus Kraus: Krankenhausärzte beschweren
sich häufig über die langen Arbeitszeiten und die schwierigen
Arbeitsbedingungen. Sind die Bedingungen in den deutschen Krankenhäusern
wirklich so schlecht? Wie könnte man das ändern?

Ellis Huber: Die Bedingungen sind gegenwärtig
ziemlich beschissen. Ärztinnen und Ärzte werden ausgebeutet,
ihre Fremdbestimmung durch Bürokratie ist stark ausgeprägt.
Es gibt aber Beispiele, die beweisen, dass es auch anders geht.
Das ist unabhängig von privaten oder öffentlichen Trägerschaften.
Ein typisch deutsches Problem ist das Chefarztsystem mit steilen
Hierarchien
In anderen Ländern gibt es die Kultur von Teamarbeit und Gemeinschaftlichkeit
und das ist für alle Beteiligten viel gesünder. Selbstgerechte
Patriarchen und Standesfürsten sind eine Gefahr für die
Gesundheit von Belegschaften. Teamfähige Chefs mit sozialer
Empathie und bescheidener Machtausübung sind ein Gewinn und
sie fördern die Gesundheit.

Ulla2000: Ulla Schmidt stellt bessere Honorare
für Ärzte in Aussicht – lassen sich damit die Probleme
lösen, die von den Ärzten bemängelt werden?

Ellis Huber: Es ist genügend da, um Ärzte
für gute Leistungen fürstlich zu honorieren. Ich bin dafür,
dass gute Ärzte zwischen 150 bis 200.000 Euro pro Jahr vor
Steuer erhalten. Das geht aber nicht mit dem jetzigen Honorarsystem
mit seinen Punktwerten, das die ärztliche Gesamtleistung in
einzelne Verrichtungen zerlegt und wie ein Fließbandsystem
die wirkliche Leistung aufspaltet. Wir brauchen Zeithonorare und
eine vernünftige Bewertung der Versorgungsergebnisse und müssen
die Ressourcenvergeudung beenden. Dann verdienen Ärzte wieder
zufriedenstellend.

hubert54: Aber wie sollen gute Leistungen bei
24-Stunden-Schichten erzielt werden? Ist das gesund?

Ellis Huber: 24-Stunden-Schichten sind nicht akzeptabel
und auch völlig überflüssig, wenn wir die Geldmittel
im Gesundheitswesen in die Personen von Ärzten und Schwestern
investieren und weniger in sinnentleerte apparative Aufwendungen.
Herzkatheder sind ein vernünftiges Instrument,
wenn Herzgefäße verstopft sind. Sie sind nicht vernünftig,
wenn man gegen das Herzeleid von einsamen alten Menschen mit diesen
medizinischen Methoden ankämpft.

Elvis Luder: Sie beklagen die Zunahme von Bürokratie
im Gesundheitswesen ohne zu erwähnen, dass durch die von Ihnen
propagierten Netzwerke und integrierten Versorgungssysteme die Bürokratie
und die auch aus Datenschutzgründen bedenkliche Datensammelei
über Patienten nie dagewesene Ausmaße erreicht hat. Insofern
halte ich Ihre mitleidigen Aussagen über Bürokratie und
Überlastung für reichlich unehrlich.

Ellis Huber: Meine Netze und meine Versorgungskonzepte
verschlanken die Overheadkosten und produzieren keine Bürokratie.
Die jetzigen Programme für chronisch Kranke, also das so genannte.
Disease-Management-Programm, produzieren eine überbordende
Bürokratie. Das ist nicht mein Konzept.

Privatpatient: Ärztekammerpräsident
Hoppe sieht eine Kampagne gegen Mediziner, weil pünktlich zum
Ärztetag eine Studie über das Fehlverhalten von Ärzten
herausgekommen ist. Sind das wirklich alles Einzelfälle, wie
Hoppe meint, oder ist die Kritik berechtigt?

Ellis Huber: Betrügereien und Schwindeleien
bei Ärzten sind in der Größenordnung wie das Schwarzfahren
in der Bevölkerung einzuordnen. Also kein generelles Problem.
Ich nehme allerdings wahr, dass die BILD-Zeitung seit einigen Tagen
Missstände und Fehler im Gesundheitswesen anprangert. Hoppe
beklagt sich nicht über diese Kampagne der BILD-Zeitung. Für
mich waren die Berichte in BILD immer eine Art Röntgenbild
der Volksseele. Sie spiegeln Ängste, Hoffnungen und Erwartungen
der Menschen wider. Wenn die BILD-Zeitung auf ihrer Titelseite mit
Ärzteschelte aufmacht, ist etwas faul in der Ärzteschaft.
Es wäre vernünftig, dass Ärzte die Probleme sehen
und die Standesfunktionäre an ihrer Lösung konstruktiv
mitarbeiten. Eine durchaus tapfere Gesundheitsministerin zu beschimpfen,
löst kein Problem. Ich erlebe Frau Schmidt als kooperationsfähig
und veränderungswillig.

erdwuermchen: Wie erkennt man denn heutzutage
einen guten Arzt, der das verschreibt, was nötig ist, und der
sich nicht mit zusätzlichen Untersuchungen die Taschen vollstopft?

Ellis Huber: Dass diese Frage gestellt werden
muss, zeigt doch, dass die Transparenz im Gesundheitswesen zu wünschen
übrig lässt. Ich wünsche mir Ärzte, die ihre
Patienten immer so behandeln, wie sie in gleicher Lage auch behandelt
werden wollten, und Ärzte, die ihre Patienten als ganze Menschen
annehmen, körperliche, seelische und soziale Faktoren respektieren
und auch die Bedeutung des spirituellen Lebens nachempfinden können.
Es geht also um gute Beziehungen. Und gute Beziehungen zu finden,
ist eine Angelegenheit des Gefühls. Mit relativ großer
Sicherheit erkennt man gute Ärzte daran, dass man oder frau
sich bei ihnen aufgehoben fühlt und ernst genommen. Also, gute
Ärzte findet man wie gute Lebenspartner.

Marc Hauschild: Liebe kollegiale Grüße
aus Schweden. Ich bin Arzt und 2003 aus Deutschland „vertrieben“
worden. Wie lange kann sich Deutschland so einen Luxus eigentlich
noch leisten?

Gersig: Welche Maßnahmen müssen Ihrer
Meinung nach unternommen werden, um ein Abwandern von jungen Ärzten
ins Ausland zu verhindern?

Ellis Huber: Die vertriebenen Ärzte aus Deutschland
lernen in fernen Ländern kennen, dass es auch anders und besser
geht. Diese Erfahrung aus England, Schweden, Norwegen – aber auch
aus Sri Lanka oder Ghana – die Kenntnis von Ärzten der Bedingungen
unterschiedlicher Gesundheitssysteme sind ein produktiver Schatz,
den wir in Deutschland wirklich brauchen.
Mit Ihrer Erfahrung lässt sich aus dem deutschen Gesundheitswesen
ein Besseres entwickeln.
Und ich bin mir ziemlich sicher, dass in fünf bis zehn Jahren
diese Vertreibungskultur von einer
Wiedereingliederungskultur abgelöst wird.

Moderator: Was macht Sie da so sicher?

Ellis Huber: Ich kenne viele junge Ärztinnen
und Ärzte, weiß um ihre Sehnsucht nach einer guten Heilkunst,
ihre Leistungsbereitschaft und ihre Einsatzfreude. Ich weiß
auch, dass die Ökonomen meinen, im sechsten Kontratieff (eine
Theorie zur zyklischen Entwicklung der Wirtschaft mit Tiefen und
Höhen, Anm. der Redaktion) wird psychosoziale Gesundheit zum
Motor für wirtschaftliche wie gesellschaftliche Entwicklung.
Im globalen Wettbewerb der Volkswirtschaften ist das Land besonders
erfolgreich, das ein gutes Gesundheitssystem bereitstellt. Ich glaube,
dass Deutschland erfolgreich sein will. Und ich sehe mehr Optimisten
im Lande als Pessimisten.

moest: Was sagen sie zu dem Problem, dass viele
Patienten zum Arzt gehen, obwohl sie „nur“ eine Erkältung
haben, und immer gleich Medikamente erwarten. Gerade mit dieser
Erwartungshaltung machen die Leute das System doch unnötig
teuer.

Ellis Huber: Das ist die alte Frage nach der Henne
und dem Ei. Die ökonomischen Anreize für Medizin in Deutschland
führen zu häufigen Arzt-Patient-Kontakten. Viele Lobbyisten
im Gesundheitswesen machen der Bevölkerung Angst. Die Landkarten
der Pharmaindustrie zur Zeckenbissgefahr in Deutschland zeigen viel
größere Gebiete als die Landkarten des Robert-Koch-Instituts.
Ein gutes Gesundheitssystem sorgt dafür, dass die Menschen
nicht immer zum Arzt rennen, indem es ihnen Angst nimmt und die
Sicherheit gibt, die Probleme des Lebens selber meistern zu können.
Ich beschimpfe nicht die Bevölkerung, sondern will das System
verändern und dafür sorgen, dass künftig weniger
Arztbesuche stattfinden. Normale Menschen wollen gar nicht zum Arzt
oder ins Krankenhaus.

hubert54: Sehr geehrter Herr Huber, hier in Hamburg
ist die Situation bei Allgemeinärzten inzwischen folgende:
Als Privatpatient erwartet mich ein besserer Service, der sich mit
kürzeren Wartezeiten und sogar einem separatem Wartezimmer
bemerkbar macht. Während Kassenpatienten in kleineren und auch
schlechter eingerichteten Räumen länger warten müssen,
bekomme ich vom Personal Getränke serviert. Wie soll es weitergehen?

Ellis Huber: Das ist Teil der Realität. Und
das ist auch der Grund dafür, dass die Kampagnen der BILD-Zeitung
in der Bevölkerung ankommen. Ich schäme mich für
diese Ignoranz vieler Ärztinnen und Ärzte. Wir müssen
das System der gesetzlichen Krankenkassen und der allgemeinen Versorgung
gründlich reformieren und die bereits beschriebene Ressourcenvergeudung
beenden. Also, gutes Geld für gute Ärzte ist dann bereitzustellen,
wenn wir mit fragwürdiger Medizin und Pharmakotherapie für
zu viele Bürgerinnen und Bürger aufhören. Die Aufspaltung
in der Bevölkerung in 90 Prozent gesetzlich Versicherte und
zehn Prozent Privatpatienten ist ein deutscher Sonderweg, der nicht
gut tut. In der Schweiz gibt es eine Pflichtversicherung für
alle Bürgerinnen und Bürger und Wahlmöglichkeiten
für individuelle Luxusbedürfnisse. Eine allgemeine solidarische
Finanzierung mit gleichen Rechten und Pflichten für alle ist
in allen europäischen Ländern üblich. Ich würde
privat Krankenversicherte und gesetzlich Versicherte in Deutschland
rechtlich gleichstellen und eine Regelversorgung für alle politisch
durchsetzen.

Moderator: So, die Zeit ist gleich um. Leider
konnten sehr viele Fragen nicht gestellt werden, es waren einfach
zu viele. Zeit für eine allerletzte Frage:

back2hell: Was halten sie von der neuen Gesundheitskarte?

Ellis Huber: Die neue Gesundheitskarte ist eine
teure Spielerei. Was wir brauchen, sind elektronische Gesundheitsakten
in der Verfügungsgewalt der Bürgerinnen und Bürger.
Ich warne vor einer Dämonisierung der Karte. Die Karte ist
aus meiner Sicht ein nützliches Instrument, ihr Missbrauch
ist denkbar, aber eher eine Frage der Macht im System. Ich glaube
nicht, dass wir den Mord mit dem Hammer durch ein Verbot des Hammers
bekämpfen können. Denn dieses Werkzeug ist nützlich,
wenn man es verantwortlich und verlässlich einsetzt. Die moderne
Informationstechnologie ist nützlich und hilfreich für
die Entwicklung einer verlässlichen Heilkunde. Wenn sie im
Interesse der Bevölkerung – nicht im Interesse einzelner Profiteure
– gebraucht wird. Also, es geht nicht um die Karte, sondern um die
Machtausübung im System.

Moderator: Das waren 60 Minuten tagesschau-Chat
bei tagesschau.de und politik-digital.de. Vielen Dank Herr Huber,
dass Sie sich Zeit genommen haben. Das Protokoll des Chats ist wie
immer in Kürze zum Nachlesen auf den Seiten von tagesschau.de
und politik-digital.de zu finden. Das tagesschau-Chat-Team dankt
allen Teilnehmern für Ihr Interesse und die zahlreichen Fragen
und wünscht noch einen angenehmen Tag.

Ellis Huber: Ich danke auch für die Gelegenheit,
in Austausch zu kommen mit allen da draußen.