Am Mittwoch, den 12. April, war Jörg
Seisselberg, Korrespondent der ARD in Rom, zu Gast im tagesschau-Chat
in Kooperation mit politik-digital.de. Er
beantwortete Fragen über Wahlgewinner und -verlierer und warf
einen Blick auf die möglichen Entwicklungen in Italien.

Moderator: Liebe Italien-, Berlusconi-
und Prodi-Fans, willkommen zum tagesschau-Chat. Herzlichen Gruß
nach Rom. Dort ist unser Korrespondent Jörg Seisselberg, der
für die ARD Land und Leute und die Wahl beobachtet hat. Vielen
Dank, Herr Seisselberg, dass Sie in diesem hektischen Aus- und Nachzählungsmarathon
Zeit für den Chat haben. Fragen stellen können Sie jederzeit,
die Moderatoren sortieren und sammeln. Wenn Sie sich in ihrer Frage
auf eine Antwort von Jörg Seisselberg beziehen, schreiben Sie
das möglichst dazu, damit wir wissen worum es geht. Frage nach
Rom: Können wir beginnen?

Jörg Seisselberg: Können wir!

Jjumper: Wird sich Berlusconi einfach so, ohne
um seine schwindende Macht zu kämpfen, von der Politik in der
ersten Reihe verabschieden, oder wird er eher alles mögliche
und unmögliche versuchen, um an der Macht zu bleiben?

Jörg Seisselberg: Er ist bereits
dabei, alles mögliche und unmögliche zu versuchen, um
sich die Macht zu erhalten. Ich glaube zwar, die von ihm gewollte
Überprüfung der Wahlzettel hätte kaum Chancen, weil
über die Hälfte der umstrittenen 43 000 Stimmzettel für
die Abgeordnetenkammer für ihn und keine für Prodi gewertet
werden müsste – nur dann würde die 25.000-Stimmen-Mehrheit
von Prodi in der Kammer kippen, aber es zeigt, dass Berlusconi ein
Machtmensch durch und durch ist. Einer, der die (in diesem Fall
politische) Macht einfach nicht loslassen mag.

Asrom: Hat es Sie erstaunt, dass immer noch fast
die Hälfte der Italiener Berlusconis Mitte-Rechts-Allianz gewählt
haben?

Jörg Seisselberg: Ja und Nein. Nein, weil
es in Italien eine sehr tief verwurzelte Parteienbindung gibt. Da
muss schon sehr viel passieren, bevor jemand vom linken politischen
Lager ins rechte und vom rechten ins linke wechselt. Das ist ein
Grund, warum die Wahlergebnisse in Italien in den vergangenen Jahrzehnten
immer sehr knapp sind. Ja, weil Berlusconi reichlich Gründe
geliefert hat, ihn aus dem Amt zu wählen. Nullwachstum in der
Wirtschaft, dramatisch sinkende Kaufkraft, Medien- und Justizgesetze
in eigener Sache. Aber das scheint zumindest die Wähler des
rechten Lagers nicht zu stören. Und dann gibt es immer noch
viele, die Berlusconi dafür bewundern, dass er sich aus ‘kleinen’
Verhältnissen hoch gearbeitet und zum erfolgreichsten und reichsten
Unternehmer Italiens geworden ist. Ein Siegertyp halt.

Phrasendrescher: Der Herr der Unregelmäßigkeiten
Berlusconi behauptet, dass es bei der Wahl Unregelmäßigkeiten
gegeben haben soll und deutet damit indirekt eine Forderung nach
einer Neuwahl an. Finden Sie das grotesk?

Jörg Seisselberg: Ja!

Phrasendrescher: Welche Maßnahmen kann Prodi
gegen den Medien- und Meinungsmacher Berlusconi ausrichten? Kann
er das öffentlich-rechtliche Fernsehen wieder demokratisieren
und stärken?

HansW: Ist es zu erwarten das unter einer Regierung
Prodis die Medien- und Justizgesetze die Berlusconi begünstigten
abgeschafft werden?

Jörg Seisselberg: Wichtig ist, dass er dafür
sorgt, dass das staatliche (!) Fernsehen Rai ein vernünftiges
Programm macht und nicht – wie es in Italien seit Jahrzehnten üblich
ist – seine politische Macht nutzt, um ihm sympathische Journalisten
auf wichtige Stellen zu setzen. Die Rai muss endlich einen hohen
professionellen Standard erreichen. Das wäre auch die beste
Antwort auf die teilweise grausamen Kommerzprogramme von Berlusconi.

Julius Goldmann: Liegt es für Sie nahe, dass
Berlusconi Angst vor drohenden Klagen hat und nur deswegen nicht
auf seine politische Immunität verzichten will?

Jörg Seisselberg: Was die Prozesse von Berlusconi
anbelangt, bin ich hin- und hergerissen. Zum einen legen einige
Prozessakten den starken Verdacht nahe, dass er sein Wirtschaftsimperium
mit nicht immer ganz koscheren Mitteln aufgebaut hat. Dafür
muss er bestraft werden. Und um einer solchen Bestrafung zu entgehen,
war/ist ihm seine politische Macht wichtig. Andererseits ist auch
mir (als bekennendem Berlusconi-Skeptiker) die italienische Justiz
nicht ganz geheuer. Ich würde zwar Berlusconis Vermutung, dort
sitzen nur ihm übel gesonnene Kommunisten, nicht unterschreiben,
aber es gibt unter den Richtern und Staatsanwälten auch so
viele Profilneurotiker, die eine dünne Beweislage zu Riesenskandalen
aufbauschen, dass auch ich gewisse Vorbehalte gegen die hiesige
Justiz habe. Berlusconi hat ja auch viele Freisprüche erreicht,
in Prozesse, die jahrelang das Land bewegt haben, in denen sich
aber am Ende herausstellte, dass die Staatsanwälte nichts (oder
zu wenig) beweisen konnten (Beispiel SME-Prozesse).

26123: Wie berichten eigentlich die Berlusconi-Fernsehsender
über die Wahl?

Rojaro: Wie reagierten den die TV Sender von Berlusconi
auf den Sieg von Prodi?

Jörg Seisselberg: Während des Wahlkampfes
wurde Berlusconi von seinen Sendern hofiert, wie nicht anders zu
erwarten. Was dazu führte, dass Berlusconi in einigen Wochen
stundenlang auf seinen Sendern zu sehen war, sein Kontrahent Prodi
aber nur wenige Minuten. Das war einem demokratischen Staat nicht
würdig. Jetzt nach der Wahl sieht das nicht anders aus. Prodi
taucht nur so lange auf wie nötig (gerne auch von hinten gefilmt
und mit schlechter Tonqualität unterlegt), während Berlusconis
Pressekonferenz zur Forderung die Wahlzettel noch einmal überprüfen
zu lassen, auf einem Kanal live und in voller Länge übertragen
wurde.

Wakdjunkaga: Nach all den Schmähungen und
Beleidigungen unter der Gürtellinie – wie kann Berlusconi ernsthaft
auf eine große Koalition hoffen. Was für eine Kalkulation
steckt da dahinter?

Eagel-F1: Glauben sie, dass irgendwelche Umständen
noch zu einer ‘Großen Koalition’ führen und wenn ja,
wird sich Berlusconi wirklich in die 2. Reihe drängen lassen?

Jörg Seisselberg: Die Kalkulation lautet:
Unruhe im Prodi-Lager stiften. Dort gibt es zwei bürgerliche
Parteien, die für die Lockrufe in Sachen großer Koalition
empfänglich sein könnten. Allein wenn die diese Diskussion
aufnehmen sollten, wäre das ein Erfolg für Berlusconi:
Er hätte der Prodi-Koalition ihren ersten Konflikt beschert.
Bislang aber zeigt sich die geschlossen. Chancen für eine große
Koalition sehe ich absolut keine. Oder kennen Sie einen Politiker,
der bereit wäre, von seiner frisch gewonnenen Macht etwas abzugeben?
Und dann noch an seinen schärfsten politischen Widersacher?
Nein, völlig unvorstellbar. Prodi wird es mit seiner Mitte-Links-Koalition
versuchen, auch wenn die Mehrheit im Senat mit zwei Sitzen sehr
knapp ist.

Roneye: Glauben Sie, dass bei der knappen Mehrheit
von Prodi die Regierung lange bestehen wird, oder haben wir bald
schon wieder mit Neuwahlen zu rechnen?

Journalist: Hält eigentlich diese heterogene
Mitte-Links-Koalition von Prodi fünf Jahre?

T?n: Welche Chancen geben Sie einer Prodi-Mitte-Links-Koalition?
Kehrt Italien damit wieder zu den "Monatsregierungen"
zurück?

Jörg Seisselberg: Auf die Dauer einer Prodi-Regierung
nehme ich keine Wetten an. Es wäre fast ein Wunder, sollte
er diese bunte Koalition (Kommunisten, Linkskatholiken, Liberale,
radikale Vatikangegner, Sozialdemokraten, Grüne) wirklich zusammenhalten.
Vor allem in einer Situation (Wirtschaftskrise, riesige strukturelle
Probleme, Staatsschulden), in der schwierige Entscheidungen getroffen
werden müssen. Wie er das mit einer Zwei-Stimmen-Mehrheit im
Senat hinbekommen will, ist mir ein Rätsel. Der einzige Trumpf,
den Prodi hat ist: Vor acht Jahren wurde er von seinen Koalitionspartnern
schon einmal gestürzt. Und zur Strafe mussten alle im linken
Lager fünf Jahre Regierung Berlusconi erleiden.

Faust: Wird die erdrückende Medienmacht Berlusconis
eine vernünftige Regierungsarbeit Prodis überhaupt möglich
machen?

gomezmike1: Geht jetzt nicht erst die TV-Schlammschlacht
los, nachdem Berlusconi die Wahl verloren hat? Kann er durch die
Medien eine Italienkrise hervorrufen?

Jörg Seisselberg: Die Medienmacht Berlusconi
macht die so oder so schon schwierige Arbeit Prodis nicht leichter.
Daher bin ich mir sicher, dass er versuchen wird, die Medienmacht
Berlusconi zu beschneiden. Und unabhängig wie man zu Berlusconi
steht: Mehr Konkurrenz auf dem Medienmarkt würde Italien gut
tun.

Foley: Wenn es zu einer Mitte-Links-Koalition
kommt, was macht Berlusconi? Wird er sich von der politischen Bühne
verabschieden?

Wadenbeisser: Wie schätzen Sie die politischen
Zukunft von Herrn Berlusconi ein?

Jörg Seisselberg: Er hat angekündigt,
er wolle auch in der Opposition weitermachen. Nach dem knappen Wahlausgang
hat er seinen Partnern gegenüber ein Argument mehr, doch noch
auf der Bühne zu bleiben. Für das politische System Italiens
aber ist dies schädlich. Bleibt Berlusconi, bleiben auch die
tiefen politischen Gräben im Land. Italien würde es gut
tun, gäbe es im Mitte-Rechts-Lager eine moderatere, dialogfähigere
Person an der Spitze. Mit dem Christdemokraten Casini zum Beispiel,
gäbe es eine solche. Aber solange Berlusconi auf der Bühne
bleibt, hat Casini keine Chance.

Inocsul-Rap: Wird Prodi Gesetze, die unter Berlusconi
speziell für ihn selbst gemacht wurden, rückgängig
machen? Insbesondere bezüglich des Strafrechts?

Tomchen: Ist Prodi zuzutrauen, dass er das Rad
in die andere Richtung dreht und am Ende die Zerschlagung von Berlusconis
Konzern steht?

Jörg Seisselberg: Prodi wird nicht alle Berlusconi-Gesetze
rückgängig machen, das hat er angekündigt. Er hat
aber auch gesagt, dass er die Justizreform neu aufrollen und auch
eine Medienreform anpacken wird. Wie das aber genau aussehen soll
ist – wie so vieles – bei Prodi im Wahlkampf verschwommen geblieben.
Zerschlagung des Berlusconi-Konzerns? Das auf keinen Fall. Aber
mehr Konkurrenz auf dem TV-Markt möglich machen – das auf jeden
Fall!

Frank_001: Welchen Einfluss wird der Wahlausgang
auf Italiens Haltung in internationalen Belangen haben (z.B. Irak)?

kley1: Werden nun die Truppen im Irak schnell
abgezogen? Wie ist das Verhältnis Prodis zur US-Administration?

Jörg Seisselberg: Prodi ist in erster Linie
Europäer und das wird auch seiner Außenpolitik anzumerken
sein. Sein Blick geht eher nach Berlin, Paris und Brüssel als
nach Washington. Trotzdem wird er sich um einen guten Draht zur
US-Administration bemühen, sicherlich aber kein so persönliches
Verhältnis zu Bush aufbauen (wollen) wie Berlusconi. Die Truppen
im Irak wird Prodi abziehen. "So schnell wie möglich",
hat er im Wahlkampf gesagt, aber auch hier offen gelassen, was das
nun genau bedeutet.

tt20060412: Was unterscheidet italienischen Senat
und italienisches Parlament? Alle Gesetze müssen ja durch beide
Gremien, oder?

Jörg Seisselberg: Das italienische Parlament
besteht aus zwei Kammern, der Abgeordnetenkammer und dem Senat diese
Kammer sind mit absolut den gleichen Rechten ausgestattet – eine
auf der Welt fast einmalige Konstruktion. Jedes Gesetz muss durch
beide Kammern und wenn eine was ändert, wird sie in die andere
zurückgeschickt und so weiter. Dieses Pendelverfahren zieht
sich manchmal über Jahre hin. Die gleichen Rechte für
beide Kammern bedeutet auch: Der Ministerpräsident braucht
das Vertrauen und die Mehrheit in beiden Kammern. Verliert er die
Mehrheit auch nur in einer Kammer, ist er gestürzt. Deswegen
war in der Nacht nach der Wahl auch bereits klar, dass Berlusconi
abgewählt ist, als die Mehrheitsverhältnisse in der Abgeordnetenkammer
feststanden.

Jagdhuette: Wieso ist in Italien eigentlich die
Wahlbeteiligung so wahnsinnig hoch?

Jörg Seisselberg: Es gibt Wahlpflicht. Wer
nicht wählt hat zwar keine Strafen zu fürchten, aber bei
der Bewerbung um eine Stelle im öffentlichen Dienst könnte
es schon mal Probleme geben. Daher gehen viele im Zweifelsfall lieber
mal ihr Kreuz machen, auch wenn sie Politik nicht so wahnsinnig
interessiert. Wahlforscher sagen, diese Regelung, die es seit Jahrzehnten
gibt, nutzt Berlusconi. Weil er viele Stimmen von Menschen bekommen
hat, die von sich sagen, dass sie sich überhaupt nicht für
Politik interessieren.

Journalist: Es ist wie, es heißt, den Auslandsitalienern
zu verdanken, dass Berlusconi von gestern ist. Haben damit die "objektiven"
Berichterstattungen der europäischen Medien Prodi geholfen?

Jörg Seisselberg: Ich denke eher, es öffnet
den Blick, wenn man aus der Dunstglocke Italien mal rauskommt. Aber
auch die Tatsache, dass Berlusconi in Deutschland, Frankreich, Großbritannien,
Argentinien etc. nicht täglich vom Bildschirm lächeln
darf, könnte eine Rolle spielen.

Danny: Was denken Sie? Ist Prodi der richtige
Mann und was kann und wird er in Italien bewirken können, was
Berlusconi in seiner Amtszeit nicht vollbracht hat?

Jörg Seisselberg: Prodi hat einen großen
Vorteil: Er ist die derzeit einzige Figur, auf die sich alle Parteien
jenseits des Berlusconi-Bündnisses verständigen konnten.
Nur so war es möglich, Berlusconi zu schlagen. Prodi muss jetzt
vor allem dafür sorgen, dass die Wirtschaft wieder auf die
Beine kommt. Er will dafür u.a. Lohnnebenkosten senken. Das
alleine aber wird nicht reichen. Auch soziale Einschnitte könnten
nötig sein, die Prodi bereit wäre durchzuführen –
aber ich bin skeptisch, ob er dafür die Unterstützung
all seiner Koalitionspartner bekommt. Eine Sache aber wird er auf
jeden Fall tun; er wird die Außenpolitik neu ausrichten: Raus
aus dem Irak, weniger Nähe zu Washington. Und das ist doch
schon was!

David23: Stört niemanden in Italien das Vielparteiensystem?
Wäre es nicht sinnvoller eine 5-Prozenthürde o.ä.
einzuführen?

Jörg Seisselberg: Mit einer Vier-Prozenthürde
hat man es schon einmal versucht, vor zehn Jahren. Aber da waren
die Beharrungskräfte der italienischen Parteien zu stark. Um
sich die Wähler der 1,2,3-Prozentparteien zu sichern, haben
die großen Parteien deren Vertretern sichere Wahlkreise angeboten.
Diese sind dann ins Parlament eingezogen und haben so ihre Kleinparteien
am Leben gehalten- mit öffentlicher Präsenz und öffentlichen
Geldern. Die großen Parteien aber haben sie trotzdem nicht
in die Wüste geschickt, weil sie auf ihre paar zehn- beziehungsweise
hunderttausend Stimmen angewiesen waren/sind. In einem politischen
System mit wenig Wechselwählern haben kleine Parteien ein unglaubliches
Erpressungspotential.

Pippo: Was glauben Sie konkret, wie die nächsten
Wochen und Monate in Italien ablaufen werden?

Jörg Seisselberg: Erst einmal werden wir
bis zu zwei Monate auf die neue Regierung warten müssen, weil
erst ein neuer Staatspräsident gewählt werden muss. Ciampis
Amtszeit geht am 18. Mai zu Ende. Erst danach wird sein Nachfolger
antreten. Der muss dann einen Regierungsbildungsauftrag geben, dann
wird es Gespräche und Verhandlungen geben und erst danach die
neuer Regierung. Das kann bis in den Juni hinein dauern.

Moderator: Das war unser tagesschau-Chat zur Parlamentswahl
in Italien. Vielen Dank nach Rom an Jörg Seisselberg, vielen
Dank für Ihr Interesse. Über 100 eingegangene Fragen konnten
leider nicht berücksichtigt werden. Der nächste Chat ist
für den 24. April geplant. Dann wird SPD-Generalsekretär
Hubertus Heil mit Ihnen über die SPD nach Platzeck chatten.
Das Protokoll dieses Chats gibt es wie immer in Kürze zum Nachlesen
auf den Seiten von tagesschau.de und politik-digital.de. Das tagesschau-Chat-Team
wünscht allen noch einen schönen Tag!