Am Freitag, 29. Mai 2009, war der Präsident des Europäischen Parlaments, Hans-Gert Pöttering, im tagesschau-Chat in Zusammenarbeit mit politik-digital.de. Der CDU-Spitzenkandidat bei der Europawahl beantwortete User-Fragen zum Lissabon-Vertrag, einem EU-Beitritt der Türkei und zum aktuellen Wahlkampf.

Moderator: Herzlich Willkommen beim tagesschau-Chat. Heute ist der Präsident des Europaparlaments zu Gast im ARD-Hauptstadtstudio: Herr Pöttering, vielen Dank, dass Sie Zeit für die Diskussion mit den Usern von tagesschau.de und politik-digital.de haben. Liebe User, schon mal vielen Dank für die zahlreichen Fragen im Pre-Chat! Und damit möglichst viele davon beantwortet werden, starten wir direkt: Herr Pöttering, sind Sie bereit?

Hans-Gert Pöttering: Ich bin bereit!

Moderator: Der Lissabon-Vertrag und das Demokratie-Defizit der EU interessiert die User besonders. Dazu auch die am höchsten bewertete Frage:

Geralt: Wieso wurde in Deutschland dem Volk keine Möglichkeit eingeräumt, über den Vertrag von Lissabon abzustimmen (Referendum), obwohl dieser in das Grundgesetz eingreift und Befugnisse des Bundesverfassungsgerichts beschneidet?

Hans-Gert Pöttering: In der Bundesrepublik Deutschland haben wir uns mit dem Grundgesetz für die parlamentarische Demokratie entschieden. Das Grundgesetz lässt es ausdrücklich zu, dass wir Kompetenzen abgeben auf die europäische oder auch internationale Ebene. Insofern ist der Vertrag von Lissabon nach meiner festen Überzeugung mit dem Grundgesetz vereinbar und ich hoffe, dass das Bundesverfassungsgericht bald zu einer entsprechenden Entscheidung kommt.

Maggi: Wie stehen sie zum Vertrag von Lissabon? Ist die Ratifizierung dieses Vertrages nicht bereits mit dem Nein der Iren fehlgeschlagen? Aus meiner Sicht widerspricht es dem demokratischen Grundgedanken, wenn man einfach so lange abstimmen lässt (2. Referendum in Irland), bis das gewünschte Ergebnis erzielt wird.

Hans-Gert Pöttering: Wenn die Iren voraussichtlich im Oktober erneut abstimmen, stimmen sie nicht über das ab, über das sie beim ersten Referendum abgestimmt haben. Bei dem nächsten Gipfel der Staats- und Regierungschefs am 18. und 19. Juni in Brüssel wird vereinbart werden, inwieweit irische Besonderheiten berücksichtigt und anerkannt werden. Dazu gehört auch, dass Irland in der Europäischen Union vertreten bleibt. Und dass zum Beispiel Fragen des Schutzes des ungeborenen Lebens in der nationalen irischen Kompetenz bleiben. Auf dieser Grundlage wird das irische Volk voraussichtlich erneut abstimmen und ich hoffe auf ein Ja in Irland, weil der Vertrag von Lissabon mehr Demokratie, Handlungsfähigkeit und Transparenz in der Europäischen Union ermöglicht.

LHA:
Was passiert, wenn der Vertrag nicht ratifiziert wird? Wird es dann nie etwas mit einer effizienten Union mit internationalem Gewicht und Durchsetzungskraft?

Hans-Gert Pöttering: Es wäre für die Europäische Union ein großer Nachteil, wenn der Vertrag nicht in Kraft treten würde. Aber gegenwärtig sollten wir dieses nicht in Betracht ziehen, da ich gute Chancen sehe, den Vertrag zu ratifizieren. Aber richtig ist: Alles ist erst sicher, wenn es sicher ist. Aber ich möchte keinen Zweifel daran lassen: Die Europäische Union braucht diesen Vertrag.

Moderator: Der nächste User ist eher skeptisch, was eine Ratifizierung anbelangt.

Überzeugter Europäer: Die vollständige Ratifizierung des Lissaboner Vertrages setzt unter anderem noch die Unterschrift des Europakritikers Václav Klaus voraus. Warum wird allgemein davon ausgegangen, dass er unterschreiben wird? Und welche Mittel gibt es, ihn davon abzuhalten, sich der Unterzeichnung zu verweigern?

Hans-Gert Pöttering: Ich erwarte, dass Präsident Klaus am Ende doch unterschreiben wird. Das tschechische Abgeordnetenhaus und der tschechische Senat haben den Lissabon-Vertrag ratifiziert. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der tschechische Präsident die demokratischen Entscheidungen der tschechischen Parlamente ignoriert.

Moderator: Eine Nachfrage zum "irischen Sonderweg":

rbrosows: Wieso hat das irische Volk das Recht, einen zweiten Anlauf zu erhalten mit entsprechenden Änderungen – das deutsche muss aber das akzeptieren, was verhandelt wurde?

Hans-Gert Pöttering: In Deutschland haben wir die parlamentarische Entscheidung: Bundestag und Bundesrat haben mit großen Mehrheiten dem Lissabon-Vertrag zugestimmt. Die irische Verfassungsordnung sieht ein Referendum vor. Und nach dem Nein beim ersten Referendum gibt es Ergänzungen bzw. Änderungen, die den Wünschen Irlands entgegenkommen.

Hans: Wann wird das Europäische Parlament ein echtes und vollwertiges Parlament? Ist überhaupt angedacht, den Grundsatz der gleichen Wahl (jede Stimme hat gleiches Gewicht) sowie ein vollständiges Gesetzesinitiativ und -beschlussrecht zu verwirklichen?

Hans-Gert Pöttering: Das Europäische Parlament hatte bei seiner ersten Direktwahl 1979 keinerlei Gesetzgebungsbefugnisse. Heute ist es in etwa 75 Prozent der europäischen Gesetzgebung gleichberechtigt mit dem Ministerrat. Dieses betrifft so wichtige Fragen wie den Klimaschutz oder auch die bessere Kontrolle der Banken. Das Europäische Parlament ist heute einflussreich und mächtig. Die Europäische Union mit ihren 500 Millionen Menschen ist eine komplexe Gemeinschaft. Die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments kann daher nicht so sein, wie die der nationalen Parlamente. Auch die kleinen Länder müssen vertreten sein. Dieses führt dazu, dass kleine Länder gemessen an ihrer Einwohnerzahl überproportional vertreten sind. Das Stimmenverhältnis im Europäischen Parlament muss im Übrigen auch berücksichtigen, dass wir mit dem Vertrag von Lissabon ein neues Entscheidungssystem im Ministerrat bei Gesetzesentscheidungen haben werden. Im Ministerrat wird in Zukunft die Bevölkerungszahl berücksichtigt – was die größeren Länder begünstigt. Die Entscheidungsmethode im Europäischen Parlament und im Ministerrat zusammengenommen ist ein geeignetes Verfahren.

Dieter: Herr Pöttering, soll nach Lissabon vorerst Schluss sein mit der Ausweitung der Rechte des EU-Parlaments? Falls nein, wie soll es weitergehen?

Hans-Gert Pöttering: Sicher ist: Die Europäische Union ist – was ihre rechtlichen und damit politischen Grundlagen angeht – noch nicht vollendet. Das ist auch bei unserer Verfassung in Deutschland – dem Grundgesetz – nicht der Fall. Aufgrund neuer Bedingungen wird es auch immer wieder Änderungen geben. Aber nach dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages brauchen wir zunächst eine Phase der Konsolidierungen, ehe wir an weitere neue Verträge denken können. Wir sollten also zunächst unsere Erfahrungen mit dem Vertrag von Lissabon sammeln.

Jan B.: "Mehr demokratische Legitimation führt zu mehr Akzeptanz in der Bevölkerung" – Welche Möglichkeiten sehen Sie, die Demokratiedefizite der EU in Zukunft zu verringern?

Hans-Gert Pöttering: Die Demokratiedefizite der EU sind in den letzten Jahren schon entscheidend verringert worden. Mit dem Vertrag von Lissabon ist das Europäische Parlament in nahezu allen Fragen der Gesetzgebung gleichberechtigt mit dem Ministerrat. Auch die nationalen Parlamente werden gestärkt, weil sie ein Klagerecht beim Europäischen Gerichtshof schon zu einem Zeitpunkt erhalten, bei dem eine europäische Gesetzgebung beabsichtigt ist. Sofern die nationalen Parlamente der Ansicht sind, dass eine beabsichtigte europäische Gesetzgebung gegen das Prinzip der Subsidiarität verstößt, können die nationalen Parlamente insoweit beim Europäischen Gerichtshof klagen. Auch die kommunale Ebene wird gestärkt, weil erstmalig überhaupt im europäischen Recht die kommunale Selbstverwaltung anerkannt wird. Im Übrigen können die Bürgerinnen und Bürger durch eine Million Unterschriften erreichen, dass sich die europäischen Institutionen mit einer politischen Sachfrage befassen müssen.

Moderator: Zwei Fragen zu "direkte Demokratie":

Impulshund: Wäre ein europaweites Referendum denkbar, bei dem die europäische Mehrheit entscheidet?

verteitigung: Sind Sie mittelfristig dafür, dass der Kommissionspräsident direkt gewählt wird?

Hans-Gert Pöttering: Ich wäre dafür gewesen, ein europaweites Referendum über den Verfassungsvertrag oder den Vertrag von Lissabon zu machen, wenn die Stimmen in allen 27 Ländern der Europäischen Union zusammen ausgezählt worden wären. Dieses war aber leider nicht möglich, da die nationalen Verfassungen – auch unser Grundgesetz – dieses nicht vorsehen. Denn dies würde bedeuten, dass ein Nein in einem Land durch ein Ja in den anderen Ländern überstimmt werden könnte. Damit wären die Mitgliedsländer der Europäischen Union nicht mehr "Herren der Verträge". Die Mitgliedsländer der Europäischen Union waren und sind nicht bereit, diesen Weg zu gehen, was ich bedauere. Die Wahl eines Präsidenten der Europäischen Union könnte eines Tages möglich werden. Aber wir sollten jetzt zunächst den Vertrag von Lissabon verwirklichen und nicht schon den zweiten Schritt vor dem ersten tun.

European: An welcher Stelle wünschen Sie sich mehr direkte Mitbestimmung der EU-Bürger in der Politik?

Hans-Gert Pöttering: Das ist eine Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger selbst. Für wünschenswert halte ich es, wenn die Menschen Themen identifizieren, die sie für bedeutend halten, und die europäischen Institutionen sich dann damit befassen müssen.

Moderator: Hier kommen Fragen zum Thema Opel rein:

lukasberlin: Was kann Europa zur Opel-Rettung beitragen?

Hans-Gert Pöttering: Vorrangig ist eine Lösung für Opel in Deutschland eine nationale Frage. Da diese Frage aber auch andere Standorte in der Europäischen Union betrifft, ist es wichtig,  dass eine Koordinierung durch die Europäische Kommission stattfindet. Nach meinen Informationen will der Vize-Präsident der Europäischen Kommission, Günter Verheugen, dieses erreichen. Entscheidungen auf nationaler deutscher oder einer anderen nationalen Ebene dürfen nicht zu Wettbewerbsverzerrungen im Verhältnis betroffener Länder der Europäischen Union führen.

JoHo: Hallo Herr Pöttering! Die EU mischt sich in die Opel-Gespräche ein, um Wettbewerbsverzerrungen zu Lasten von Opel-Standorten in anderen EU-Ländern zu vermeiden. Finden Sie das richtig? Muss die Bundesregierung das berücksichtigen? Oder sollte uns nicht in diesem Fall das Hemd näher als die Hose sein, um möglichst viele Arbeitsplätze in Deutschland zu retten? Vielen Dank!

Hans-Gert Pöttering: Die Europäische Union ist eine Rechtsgemeinschaft. Daran müssen wir uns halten. Auch die Bundesregierung. Wir wollen ja auch nicht, dass durch Entscheidungen in anderen Ländern der Europäischen Union Arbeitsplätze in Deutschland gefährdet werden.
Deswegen gelten die Prinzipien für alle.

van Heise: Inwieweit kann die Europäische Union in der aktuellen Krisensituation verhindern, dass Mitgliedstaaten zahlungsunfähig werden, bzw. wäre ein Austritt der bedrohten Staaten ein legitimes Mittel, um die Währungsunion nicht mit in den Strudel reißen zu lassen?

Hans-Gert Pöttering: Es ist wichtig festzustellen, dass die Europäische Währungsunion – der Euro – sich gerade heute als ein großer Segen erweist. Ohne gemeinsame europäische Währung wären wir in der Europäischen Union aufgrund der Wirtschafts- und Finanzkrise in sehr viel größeren Turbulenzen. Die Entscheidung von Bundeskanzler a.D. Helmut Kohl und anderen, den Euro einzuführen, erweist sich heute als absolut richtig. Der Vertrag von Maastricht, der zum Euro führte, sieht Stabilitätskriterien vor. Ich empfehle dringend, dass wir uns in Zukunft wieder an diesen Kriterien orientieren, damit der Euro auch in Zukunft seine positive Wirkung entfalten kann.

Susi: Was unterscheidet Ihre Vorhaben für Europa deutlich von anderen Parteien?

Hans-Gert Pöttering: Die CDU und auch meine Überzeugungen sind geprägt von einem starken demokratischen und handlungsfähigen Europa, das die kommunale Selbstverwaltung und auch das Handeln auf Länder- und Bundesebene berücksichtigt. Wir wollen kein zentralistisches oder bürokratisches Europa – sondern ein Europa der Vielfalt, das bürgernah ist. Diese Vielfalt können wir nur verteidigen, wenn wir in den großen Fragen der Politik zur Einheit finden. Im Gegensatz zu anderen Parteien ist die CDU der Meinung – und dies ist auch meine sehr feste Position – dass die Europäische Union mit einer Mitgliedschaft der Türkei politisch, kulturell, finanziell und geografisch überfordert wäre. Was die Frage der Erweiterung generell angeht, so brauchen wir jetzt zunächst einmal eine Verschnaufpause. Die Europäische Union sollte sich innerlich festigen, damit wir gemeinsam unsere Werte und Interessen in der Welt wirksam vertreten können.

Moderator:
Ein möglicher Beitritts der Türkei zu EU beschäftigt die User:

VolkerRieger: Was halten Sie von den Äußerungen Obamas, die EU solle die Türkei so schnell wie möglich aufnehmen? Meiner Meinung nach sollte er sich da nicht einmischen – das ist alleine Sache der EU und ihrer Mitglieder.

Hans-Gert Pöttering: Ich stimme auch absolut Ihrer Meinung zu. Wir empfehlen ja auch nicht den Vereinigten Staaten von Amerika die Aufnahme von Mexiko als 51. Staat der USA.

Moderator: Stichwort geografische Grenzen:

Jule83: Zypern liegt meines Erachtens eindeutig in Asien und nicht in Europa. Wieso ist Zypern ein Mitglied der EU geworden? Und wieso kann die Türkei kein Mitglied der EU werden, obwohl wenigstens ein kleiner Teil davon in Europa liegt?

Hans-Gert Pöttering: Zypern gehört zur Europäischen Union und wir sollten es nicht in Frage stellen. Der weitaus größte Teil der Türkei liegt in Asien und der Iran und Syrien sind Nachbarn der Türkei. Eine Mitgliedschaft der Türkei würde also weit in den asiatischen Kontinent hineinreichen.

Moderator: Nachfrage zu Obamas Position:

VolkerRieger: Wird das Obama auch so deutlich gemacht?

Hans-Gert Pöttering: Alle, die mit ihm sprechen und meine Meinung vertreten, sollten das tun.

HIT: Hätte die Türkei im Falle einer Ablehnung der Mitgliedschaft nicht das legale Recht auf eine Abfindung hohen Wertes seitens der EU?

Hans-Gert Pöttering: Nein. Wir wollen ja auch, wenn die Türkei nicht Mitglied wird, gute und partnerschaftliche Beziehungen mit ihr haben und gut zusammenarbeiten. Kein Parlament – weder die nationalen Parlamente in den EU-Mitgliedsländern noch das Europäische Parlament – kann gezwungen werden, automatisch Ja zum Türkeibeitritt zu sagen.
Dies ist allein die freie Entscheidung der Abgeordneten. Das ist unser demokratisches Prinzip und dieses ist dem Repräsentanten der Türkei bekannt. Unsere demokratischen Verfahren müssen eingehalten werden und deswegen kann es auch keine Abfindung geben, sofern den Erwartungen der Türkei nicht entsprochen werden sollte.

Peterchen: Nachfrage zu Zypern: Keiner will Zypern in Frage stellen. Aber das Argument von Jule83 ist doch stichhaltig: Warum gilt die geographische Lage nicht für alle gleichwertig als Argument?

Hans-Gert Pöttering: Zypern gehört zu Europa. Die griechische Bevölkerung hat enge Bindungen an Griechenland. Wir sollten unsere Anstrengungen jetzt darauf konzentrieren, dass die Insel wiedervereinigt wird.

Europa: Wie schätzen Sie die Wahlbeteiligung für die Europawahl ein? Was kann man gegen die Politikverdrossenheit insbesondere gegenüber Europa tun?

Hans-Gert Pöttering: Bedauerlicherweise haben wir einen Rückgang der Wahlbeteiligung bei vielen Wahlen. Bei der Europawahl ist der Rückgang besonders deutlich. Dies ist ein Widerspruch zur gewachsenen Bedeutung des Europäischen Parlaments. Es muss uns in der Zukunft mehr gelingen als in der Vergangenheit, die wichtige und alles in allem gute Arbeit des Europäischen Parlaments den Bürgerinnen und Bürgern noch besser zu vermitteln. Dieses ist eine gemeinsame Aufgabe der Politiker und der Medien. Hier können wir unsere Zusammenarbeit noch steigern.

Moderator: Der jüngste ARD-Deutschland-Trend geht davon aus, dass die Wahlbeteiligung noch unter die Marke von 2004 fallen könnte: Damals zog es nur 43 Prozent der Deutschen an die Urne.

bürgersjung: Ein großes Problem bei Europawahlen ist die niedrige Wahlbeteiligung. Kommen Ihrer Meinung nach die deutschen Parteien ihrer Verpflichtung nach, die Menschen vom Stellenwert und der Wichtigkeit von Europawahlen zu überzeugen?

Hans-Gert Pöttering: Wir können immer noch besser werden. Wichtig ist, dass kontinuierlich, auch im Fernsehen, über die wichtige Arbeit des Europäischen Parlaments berichtet wird. Oft ist es so, dass das Kritische übermäßig dargestellt wird – aber nicht, was wir der Europäischen Union und dem Europäischen Parlament verdanken.

Impulshund: Warum wirbt die CDU in den Spots mit Angela Merkel, aber nicht mit Ihrem Konterfei?

Hans-Gert Pöttering: Das ist eine gute Frage.

Moderator: Wie erklären Sie sich das?

Hans-Gert Pöttering: Angela Merkel ist eine engagierte Europäerin. Sie steht in der Tradition von Konrad Adenauer und Helmut Kohl. Aber ich stimme ihnen zu, dass die Abgeordneten des Europäischen Parlaments noch stärker einbezogen werden sollten. Aber verglichen mit vergangenen Wahlen gibt es da schon Fortschritte, die sich in Zukunft noch steigern lassen.

carlos: Es gibt aber keine europapolitischen Sachthemen im Wahlkampf, warum ist das so?

Hans-Gert Pöttering: Es gibt schon Unterschiede zwischen den Parteien. Denken Sie zum Beispiel an die Stabilität des Euro oder die Türkeifrage.

Moderator: Das EU-Parlament ist ja auf drei Sitze zersplittert: Straßburg, Brüssel und Luxemburg. Wie lange macht das noch Sinn? Und phd möchte dazu wissen:

phd: Welche Gründe sprechen für Straßburg als Sitz des Europäischen Parlaments?

Hans-Gert Pöttering: Straßburg im Elsass ist ein Symbol der deutsch-französischen Versöhnung. Das ist der Grund, warum zwölf Tagungen im Jahr in Straßburg stattfinden.

european1980: Wann wird der EU-Sitz in Straßburg abgeschafft?

Hans-Gert Pöttering: Mittelfristig bin ich für einen Sitz des Europäischen Parlaments. Wobei das Brüssel oder Straßburg sein könnte. Obwohl das Europäische Parlament heute einflussreich und mächtig ist, bestimmt es bedauerlicherweise über seinen Tagungsort nicht selbst, sondern nach den Verträgen haben die Regierungen sich dieses vorbehalten. Eines Tages wird es in dieser Frage eine Lösung geben müssen. Solange das Recht aber nicht geändert ist, müssen wir es einhalten.

European: Was möchten Sie lieber heute als morgen an der europäischen Gesetzgebung ändern?

Hans-Gert Pöttering: Ich würde gerne sehen, dass heute schon der Vertrag von Lissabon in Kraft wäre, so dass das Europäische Parlament bei nahezu allen Fragen europäischer Gesetzgebung mitentscheiden würde.

kruat: Hallo Herr Pöttering. Ich hab eine nur eine kleine Frage: Macht es nach so vielen Jahren noch Spaß im Europaparlament oder gehen Ihnen manchmal die Abgeordneten aus den vielen verschiedenen Ländern auf die Nerven?

Hans-Gert Pöttering: Mein europäisches Engagement ist heute so stark wie 1979. Man kann diese Arbeit nur leisten, wenn man von der Notwendigkeit der europäischen Einigung überzeugt ist. Nur so kann man auch manche Kommentare ertragen. Bei den Abgeordneten ist es so wie im ganz normalen Leben. Manchen ist man mehr verbunden als anderen.

rbrosows: Wie oft kommt es eigentlich im Europäischen Parlament vor, dass Abgeordnete "gegen" ihre Fraktion entscheiden, sich also auf ihr Gewissen berufen?

Hans-Gert Pöttering: Generell möchte ich sagen, dass es ein Grundprinzip ist, dass man den eigenen Überzeugung folgt – die ja meistens mit der Mehrheitslinie der eigenen Fraktion übereinstimmt – weil sich in den Fraktionen gleiche politische Auffassungen zusammenfinden. Aber richtig ist auch, dass es im Europäischen Parlament leichter ist, eine von der eigenen Fraktion abweichende Meinung zu vertreten, da es im Europäischen Parlament nicht das Prinzip von Regierung und Opposition mit der Notwendigkeit großer Disziplin gibt. Das lässt dem einzelnen Abgeordneten mehr Freiheiten.

Moderator: Wird Ihr Nachfolger als Parlamentspräsident wieder aus den Reihen der EVP kommen? SPD-Spitzenkandidat Martin Schulz war in der vergangenen Woche hier im tagesschau-Chat, er hofft, dass nach dem 7. Juni die sozialdemokratische Fraktion die Stärkste sein wird.

Hans-Gert Pöttering: Zunächst müssen wir die Wahlen abwarten. Dann sehen wir, welche Fraktionen bei der Wahl des Parlamentspräsidenten eine Vereinbarung treffen. Der Parlamentspräsident wird jeweils für zweieinhalb Jahre gewählt, so dass es in der fünfjährigen Wahlperiode immer zwei Präsidenten gibt. Ich hoffe, dass auf jeden Fall in der kommenden Wahlperiode ein EVP-Abgeordneter Parlamentspräsident wird.

Moderator: Wir haben während des Chats eine Umfrage gemacht und wollten von den Usern wissen, ob sie eine Aufnahme der Türkei in die Europäische Union befürworten. Herr Pöttering, was ist Ihr Tipp, wie wurde abgestimmt?

Hans-Gert Pöttering: 65 Prozent "Nein" und 35 Prozent "Ja".

Moderator: Nah dran: 30 Prozent befürworten einen Beitritt, 70 Prozent sind dagegen. Das war eine Stunde tagesschau-Chat zur Europawahl. Vielen Dank, Herr Pöttering, dass Sie Zeit für die Diskussion mit den Usern von tagesschau.de und politik-digital.de hatten. Großer Dank auch an Sie, liebe Chat-Teilnehmer! Leider konnten wir nur einen kleinen Teil der eingetroffenen Fragen stellen.

Hans-Gert Pöttering: Liebe User, es hat Freude bereitet, sich mit Ihnen auf diesem Wege auszutauschen. Ich bedauere, wenn ich nicht auf alle Fragen eine Antwort geben konnte, da unsere Zeit ja begrenzt ist. Meine Bitte ist: Gehen Sie zur Wahl und nehmen Sie viele mit. Europa ist für uns alle sehr wichtig und die Abgeordneten des Europäischen Parlaments brauchen ihre Unterstützung.
Meine Erfahrung ist, dass die meisten Abgeordneten sehr engagiert sind, an Europa glauben und unsere gemeinsamen Werte und Interessen vertreten. In diesem Sinne: Gute Wünsche für Sie, eine gute Wahlbeteiligung am 7. Juni und alles Gute. Ihr Hans-Gert Pöttering, MdEP Präsident des Europäischen Parlaments.

Moderator: Das Transkript des Chats finden Sie in Kürze auf tagesschau.de und politik-digital.de. Außerdem möchten wir Ihnen noch unser Dossier zur Europawahl sowie die Beiträge der Tagesthemen-Europatour empfehlen. Das Team von tagesschau.de wünscht allen noch einen schönen Tag.

Der Chat wurde moderiert von Thomas Querengässer, tagesschau.de.