Am Donnerstag, den 16. April 2009 war der Jugendforscher und Verfasser der Shell-Jugendstudie Klaus Hurrelmann im Jugend-Debattiert-Chat in Zusammenarbeit mit politik-digital.de. Er beantwortete Fragen der Chatter zu Geschlechterrollen und dem Vorschlag einer Männerquote in Kitas.

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Moderator: Herr Prof. Hurrelmann ist jetzt bei uns eingetroffen, der Chat kann also pünktlich beginnen. Vielen Dank, Herr Prof. Hurrelmann, dass Sie uns heute Fragen zum Wettbewerb Jugend debattiert beantworten. Können wir anfangen?

Klaus Hurrelmann: Ja, schießen sie los!

Mensa: Was genau sind die Aufgaben eines Kurators? Bewerten Sie die Beiträge im Bundesfinale?

Klaus Hurrelmann: Nein, die Aufgabe besteht darin zu überlegen, was spannende Themen sind, wo Zündstoff in einer Themenstellung liegt und worüber es sich lohnt, sich mal sorichtig gepflegt auseinander zu setzen. Das ist dann etwas, was die ganze Diskussion wirklich weiter bringt. Das ist etwas, was die Kuratoren hauptsächlich tun. Das Kuratorium diskutiert auch über Zeitabläufe, Terminpläne und Ähnliches.

Mareike: In der Shellstudie von 2006 wurde unter anderem ja ermittelt, dass Frauen heutzutage ein sehr flexibleres Rollenbild vor Augen haben. Ganz im Gegensatz zu den Männern, die hier meist (laut der Studie) noch ein etwas veraltetes Bild bezüglich der Rollenverteilung im Kopf haben. Könnte dies in der Zukunft durch mehr Männer im Beruf des Erziehers geändert werden? Würde dadurch auch die Akzeptanz für Hausmänner vielleicht sogar größer?

Klaus Hurrelmann: Ja, die Shellstudie hat gezeigt: Nur eine Minderheit der jungen Männer in Deutschland ist für ein erweitertes Rollenmodell des Mannes, also außer Beruf und Karriere, das K für Karriere, das K für Kinder, das K für Kommune aufzunehmen. Und dies befürwortet die Mehrheit der Frauen. Und jetzt ist wirklich die große Frage: Wie kann man junge Männer stimulieren, dass sie aus ihrem Karrierebunker herauskommen und selbstverständlich würden männliche Erzieher ein Vorbild dazu sein. Deswegen sollten mehr Männer im Kindergarten tätig sein.

Melanie: War es nicht schon immer so, dass sich Frauen eher um die Kinder gekümmert haben? Der Mann geht arbeiten, die Frau ist zu Hause… Das ist bei uns auch so! Jungs sind immer schon aggressiver als Mädchen. Ich glaube, wir machen uns hier zu viele Gedanken. Sehen Sie das auch so?

Klaus Hurrelmann: Das sehe ich auch so, aber ich finde nicht, dass das zu viele Gedanken sind. Denn die jungen Männer, die sich gerade ausschließlich nur auf die Karriere ausrichten, die sind in der modernen Gesellschaft auch nicht mehr richtig handlungsfähig, sie schneiden sich selbst von Weiterentwicklungsmöglichkeiten ab.

Andrea: Es gibt ja bereits Frauenquoten bei der Besetzung von öffentlichen Ämtern, die mit der Herstellung von Gleichberechtigung begründet wurden. Ist es da nicht eine logische Konsequenz, dass in Berufen, in denen Männer nicht so stark vertreten sind, ebenso eine solche Quote eingeführt werden muss? Denn wenn man zum einen versucht, Frauen in bestimmte Berufsgruppen zu integrieren, so muss man dies bei Männern doch auch tun?

Klaus Hurrelmann: Ja, ich stimme dem zu. Ich habe dies auch bereits mehrfach gefordert. Gleichzeitig muss man natürlich fragen: Wie viel bringt eine Quote, wenn damit keine Anreize oder keine Bestrafungen z.B. eines Kindergartens verbunden sind. Also müsste der Kindergarten, der einen Mann als Erzieher anstellt, im Idealfall einen finanziellen Bonus bekommen. Also: Quote ja, aber damit es schnell geht, einen Anreiz finanzieller Art, Werbung für den Erzieherberuf bei Männern inklusive.

Hurti: Ist es eigentlich wissenschaftlich erwiesen, dass Männer anders mit Jungs umgehen als Frauen? Kommt es nicht allgemein mehr auf den Respekt an?

Klaus Hurrelmann: Also Männer sind genetisch anders, von ihrer Anlage her also gewickelt als Frauen. Nicht jeder einzelne Mann, klar, unterscheidet sich da von einer Frau. Aber doch die Mehrheit der Männer. Und das wirkt sich auf den Umgang mit Kindern aus. Männer sind strukturierender, direkter, fordernder, lassen dem Kind auch schon mal mehr Freiheitsräume, Frauen sind bindender, harmonieorientierter, gemeinschaftsbezogen. Und ein Kind braucht beides.

Ollie: Frauenquote heißt ja oft, dass bei gleich guten Bewerbern die Frau bevorzugt wird. Wie misst man überhaupt die Qualifikation von Erziehern oder Grundschullehrern?

Klaus Hurrelmann: Sehr gute Frage! Denn bis heute gibt es keine richtigen Assessment- Kriterien, also in der Berufsgruppe akzeptierte, in der Öffentlichkeit anerkannte Kriterien, so etwas wie eine Checkliste, "was muss eine gute Erzieherin, ein guter Erzieher können?" Solch eine Liste brauchen wir jetzt dringend, wenn wir den Beruf aufwerten wollen, wenn wir entscheiden wollen: Ist der Mann, der sich bewirbt, besser als die Frau, die sich bewirbt?

Nele H.: Wenn es eine Männerquote geben soll, wie hoch sollte sie aus ihrer Sicht sein? 50 Prozent?

Klaus Hurrelmann: Da gibt es Faustregeln. Man muss 1/3 erreichen, d.h. also, 33% oder mindestens 30% männliche Erzieher im Kindergarten sollten das Ziel sein. Wenn die einmal da sind, dann ist der Bann gebrochen. Wir wissen das von der Frauenquote. Wenn eine solche Quote unter diesen 30% bleibt, dann werden nur bestimmte Exemplare des einen Geschlechtes angezogen von dem Beruf. Also z.B. nur harmonische, bindungsorientierte und "weiche" Männer, das ist gut, aber Kinder brauchen eben auch die anderen Varianten von Männlichkeit.

Franziska: In welcher Form zeigen sich die Folgen davon, dass Jungen von Frauen erzogen werden?

socrates: Wie genau, wenn überhaupt, wirkt sich das Fehlen männlicher Bezugspersonen auf die Entwicklung von Jungen im Kindergartenalter aus?

Klaus Hurrelmann: Das Entscheidende ist das soziale Modell, wie die Sozialpsychologie das nennt: Also das Rollenvorbild, der Junge muss anschaulich sehen und fühlen und erfahren können, "ah, so geht ein Mann, der meinem Geschlecht angehört mit dem Alltag um, mit einem Konflikt, mit einem Erfolg, mit einer Niederlage". Und das prägt. Wenn der Junge nur sieht, "so macht das eine Frau", dann ist das auch prägend, aber er kann das Verhalten nicht direkt übernehmen, weil er Angehöriger des männlichen Geschlechts ist.

Moderator: Vor dem Chat hatten die Nutzer bereits einige Tage Zeit, Fragen zu stellen und darüber abzustimmen, welche heute den Chat eröffnen. Hier ist eine der Ersten: Stefan: Männer können sich doch schon jetzt auf eine Stelle als Erzieher bewerben – und sie tun´s nicht. Was soll eine Quote daran ändern? Am Ende bleiben die quotierten Stellen mangels Bewerbern unbesetzt. Das kann es doch auch nicht sein, oder?

Klaus Hurrelmann: Ja, das haben wir eben schon einmal angesprochen. Auch ich befürchte, dass dies passieren kann. Deswegen meine Forderung: Es müssen Anreize für die Kindertagesstätte, für den Kindergarten mit der Quote verbunden sein und das bedeutet, jeder Kindergarten z.B. bekommt einen finanziellen Zusatzbetrag dann, wenn es ihm gelungen ist, einen männlichen Erzieher anzuwerben. Und der Kindergarten braucht die Freiheit, entscheiden zu können, was er mit diesen z.B. 2000€ macht, die er pro Jahr bekommt, wenn er einen männlichen Bewerber "angelockt" hat. Meine Erwartung wäre, dass dadurch ein Kindergarten in der Nachbarschaft anfängt, die Werbetrommel zu rühren, und das bringt am meisten.

georg09: Haben Sie Einrichtungen untersucht, in denen mehr Männer arbeiten? Was ist dort anders? Nicht hypothetisch, sondern in der Realität?

Klaus Hurrelmann: Die Einrichtungen gibt es leider nicht, nicht mehr, es hat sie in der Nachkriegszeit auch in Deutschland einmal gegeben. Da war es dann so, dass die Mädchen nicht das Vorbild fanden für ihre Entwicklung, das sie brauchten. Heute wissen wir, dass Mädchen damit besser zurecht gekommen sind damals, als heute die Jungen. Denn alle Studien zeigen, die Jungen lassen heute sehr nach, bei ihren sozialen Kompetenzen, und vor Allem bei den Leistungskompetenzen. Also ihre schulischen Zeugnisse, z.B. in der Grundschule, sind schlechter, sogar deutlich schlechter, als die von Mädchen.

Daniel: Gibt es überhaupt Studien aus denen ersichtlich wird, dass ein Zusammenspiel aus beiden Geschlechtern eine positive Wirkung auf die Entwicklung des Kindes hat? Denn ich persönlich bin bei einer alleinerziehenden Mutter aufgewachsen und hatte auch generell nur einen männlichen Lehrer und dennoch läuft bei mir das Leben derzeit sehr gut!

Klaus Hurrelmann: Meinen Glückwunsch! Zum Glück braucht nicht jeder Junge und nicht jeder junge Mann ein direktes Vorbild, sozusagen "vor der eigenen Nase" und es gibt ganz viele, die können sich dieses soziale Modell Mann aus der Nachbarschaft, sogar aus den Medien oder in der Schule heranziehen und machen dann auch eine wunderbare Entwicklung. Aber es ist nicht mehr selbstverständlich. Wie gesagt, wir haben Studien, aus denen geht hervor, dass die sozialen Fähigkeiten und die Leistungen von jungen Männern insgesamt absinken. Und das hat etwas mit einer Rollenunsicherheit zu tun, mit einer Geschlechtrollenunsicherheit von jungen Männern.

Deniz: Was würde sich an der Erziehung von Mädchen ändern, wenn diese von immer mehr Männern betreut werden würden?

Klaus Hurrelmann: Auch Mädchen brauchen weibliche Impulse und männliche Impulse im Idealfall, wenn sie ein flexibles Konzept von ihrer eigenen Weiblichkeit entwickeln möchten. Und wir hätten heute sicherlich die gleiche Diskussion, wenn sowohl in der Familie, als auch in allen Vorschuleinrichtungen, in der Grundschule und zunehmend jetzt auch in den weiterführenden Schulen Männer überwiegen würden. In den Kindergärten z.B. haben wir heute über 95% Frauen. Wäre das umgekehrt, hätten wir spiegelbildlich die gleiche Diskussion.

Gast: Bildet sich geschlechtliche Identität nicht vielmehr durch das gleichaltrige Umfeld (Freunde, Geschwister etc.) heraus als durch die Lehrkräfte? Inwiefern soll sich beispielsweise ein kleiner Junge mit seinem 40-jährigen Erzieher identifizieren?

Klaus Hurrelmann: Die Gleichaltrigen sind ganz, ganz wichtige Muster und Modelle für die eigene Entwicklung. Der ältere, männliche Erzieher ebenso wie die ältere, weibliche Erzieherin tun gut daran, eben nicht nur als Person, als Vorbild und als Reibungsperson für die Kinder dazustehen, sondern auch dafür zu sorgen, dass männliche und weibliche Gleichaltrige als Orientierungspersonen zur Verfügung stehen.

Matthias Hansal: Wenn wir ueber den Bereich Bildung, besonders im fruehkindlichen Zeitraum sprechen, muessen wir besondere Faktoren in Betracht ziehen. Die meisten KITA/Grundschulen-Stellen sind laengere Zeitraeume besetzt. Wie sollte eine Maennerquote genau durchgesetzt werden? Wuerde das zwangsweise Entlassen von Frauen nicht zu einer "Einstellungsaenderung" in der KITA oder Grundschule fuehren? In wieweit koennte das unser System in Sachen Qualitaet beeintraechtigen? (Verzeihung fuer die Umlaute – ich schreibe gerade aus den USA)

Klaus Hurrelmann: Bitte in den USA einmal schauen, wie da die Lage ist, dies würde mich sehr interessieren. In Deutschland ist tatsächlich die Arbeitsplatzgestaltung sehr stark auch an rechtlich gebundenen Verträgen orientiert. Deswegen stimmt es, wir dürfen durch eine Quote nicht in bestehende Arbeitsverträge eingreifen. Soweit ich weiß, ist das aber gar kein großes Problem, weil sehr viele ältere weibliche Erzieherinnen in Kürze aus dem Beruf altersbedingt ausscheiden und außerdem haben wir gegenwärtig sowieso eine sehr hohe Fluktuation, also einen sehr großen Wechsel von Personal in diesem Beruf.

Matthias Hansal: Ich wuerde gerne noch einmal Stefans Frage aufgreifen und auf den Sinn einer Durchfuehrung einer Maennerquote eingehen. Wir haben immer nur genauso viele (qualifizierte) Maenner wie maennliche Bewerber. Was halten Sie von einer Programmaenderung in Kindergaerten und Grundschulen um diese mehr auf die maennlichen Teilnehmer auszurichten?

Klaus Hurrelmann: Also wenn es darum geht, auch das pädagogische Programm eines Kindergartens stärker in Richtung Leistungssport oder Mannschaftssport, Handwerken, sagen wir mal, politische Beteiligung der Kinder im Stadtumfeld und anderes umzugestalten, so dass dadurch männliche Erzieher selbstverständliche Schwerpunkte haben, die ihnen als Männer auch sehr nahe liegen, dann würde ich sagen, wir sollten dies unbedingt tun. Denn nur mehr Männer in den Kindergarten zu holen, dann aber keine Änderung des pädagogischen Programms zu machen, das wäre nicht sinnvoll. Es geht ja gerade darum, auch solche Aktivitäten im Kindergarten zu fördern, die eben als "typisch männlich" gelten.


Steffii:
Halten Sie eine absolute oder eine relative Quotenregelung für Männer im pädagogischen Personal für sinnvoll?

Jason: Ist eine absolute/relative Männerquote gemäß Grundgesetz möglich? Welche würden Sie bevorzugen?

Klaus Hurrelmann: Weil wir so verrechtlichte oder sagen wir fairerweise: rechtlich sehr stark abgesicherte Arbeitsverträge haben, muss darüber wirklich sehr gut nachgedacht werden. Deswegen wünsche ich mir, dass die einzelnen Kindergärten und einzelnen Kinderkrippen, also jede einzelne KITA, eine viel größere Selbstständigkeit als heute bekommt, ein eigenes Budget hat, das Personal ganz alleine selbst einstellen kann und dann entscheidet, wie es das Ziel erreicht, mehr Männer für den Beruf zu gewinnen. Das heißt also: Je weniger Landesgesetze und Bundesgesetze hier im Spiel sind und je mehr die einzelne Einrichtung tun kann, desto besser, immer verbunden mit der Idee, dass die Einrichtung einen finanziellen Bonus bekommt, wenn sie Männer, sagen wir mal, bis zu einem Anteil von 30% einstellt. Allein das stellt dann schon eine rechtliche "Nuss" dar, die Fachleute knacken müssen.

socrates: Woher weiß man eigentlich, dass all die Leistungsprobleme der Jungen auf das Fehlen von Männern zurückzuführen sind?

Klaus Hurrelmann: Die Frage ist berechtigt. Man weiß es nämlich nicht genau. Man weiß aber, dass Frauen als Erzieherinnen und auch als Lehrerinnen dazu neigen, sehr stark auf Harmonie in den Beziehungen in der Gruppe zu achten und damit Mädchen mehr Möglichkeiten geben, sich in der Gruppe zu entfalten und wohl zu fühlen, als Jungen.. Und dass hierdurch Jungen durch die soziale Gemeinschaftsbildung in ihrer Entwicklung benachteiligt werden, die Frauen von ihrem Naturell her typischerweise bevorzugen. Die Forschung zeigt, wenn diese Frauen geschult werden und stärker auf Regeln, feste Vereinbarungen, Strukturen im Gemeinschaftsleben achten, dann fällt dieser Faktor weg und das heißt glücklicherweise, eine gute Fortbildung der heutigen Frauen im Beruf kann schon einen großen Teil der Nachteile der Jungen ausgleichen. Was dann immer noch fehlt, ist allerdings die soziale Modellbildung, denn Jungen brauchen eben auch das anschauliche Vorbild eines Mannes in einer Erzieherrolle.

Matthias Hansal: Nach einer Spiegel-Studie werden bei erbrachter gleicher Leistung von sowohl Jungs als auch Maedchen, Maedchen mit besseren Noten belohnt, basierend auf sozialen Faktoren. Denken Sie, Jungs wuerden in der Tat von einer Maennerquote in soweit profitieren, als dass diese Ungerechtigkeiten behoben werden koennten? Oder liegt das Problem nicht doch mehr im Elternhaus und an der persoenlichen Motivation zu Lernen?

Klaus Hurrelmann: Ja, die Untersuchung zeigt, es haben sich unbewusst und ohne Absicht in den Kindergärten und in den Grundschulen soziale Spielregeln durchgesetzt, die Mädchen bevorzugen. Also stillsitzen, diszipliniert mitarbeiten, nicht den Ablauf stören, nicht wild herumlaufen, so gesehen also eine weibliche Prägung von sozialem und leistungsorientiertem Arbeiten. Und darum geht es, dass dies zurückgefahren wird und auch männliche Formen in Kindergarten und Grundschulen die Unterrichtsdynamik bestimmen und den sozialen Umgangsstil prägen.

Colmar: Welche Seite (pro oder contra) überwiegt Ihrer Meinung nach bei diesem Thema?

Klaus Hurrelmann: Ich halte es mit der Seite, die darauf drängt, dass wir jetzt so schnell wie möglich Männer für den Erzieherberuf gewinnen, weil eben am Ende der Diskussion – und wir haben ja jetzt schon gesehen, dass es eine sehr differenzierte Diskussion sein muss – eines klar ist: Es ist von Vorteil, wenn sich im Erziehungsprozess Impulse beider Geschlechter durchsetzen und es ist von Nachteil, wenn nur ein Geschlecht Gruppendynamik, Spielregeln, dominiert. Und das gilt sowohl für männlich geprägte, z.B. berufliche Ausbildungsstätten, wie für weiblich geprägte, Kindergarten- und Grundschuleinrichtungen.

Franziska: Wer soll ein Budget für solche Programm stellen?

Klaus Hurrelmann: Der Träger des Kindergartens oder der KITA. Dieser Träger sollte eine Summe an den Kindergarten geben, mit der der Kindergarten selbständig wirtschaftet und ein Kindergarten bekommt jetzt zusätzlich zu dieser Basissumme vom Träger einen vereinbarten Vertrag, wenn er für wichtig definierte pädagogische Aufgaben erfüllt. Und zu einer solchen Aufgabe würde ich dann das Stärken von männlichen Impulsen in der vorschulischen, pädagogischen Arbeit rechnen. Ich könnte mir aber auch Stiftungen vorstellen oder eben Landesmittel im Rahmen von Anreizprogrammen.

Nanny: Sie waren gerade in den Medien mit der Aussage, ein Drittel aller Eltern seien nicht in der Lage, ihre Kinder richtig zu erziehen und sollten daher zu Schulungen verpflichtet werden. Was ist Ihrer Meinung nach "richtige" Erziehung und liegt das Problem in der Tat nicht eher in der Familie als bei Erziehern und Grundschullehrer(inne)n?

Klaus Hurrelmann: Ja, die Familie ist die stärkste Erziehungsinstanz, auch heute noch, die es gibt. Und ein Kind ist im wahrsten Sinne des Wortes "auf Gedeih und Verderb" auf gute Kontakte zu Mutter und Vater angewiesen. Und darauf, dass die Eltern das Kind fördern und nicht überfordern, oder vernachlässigen oder schädigen, oder sogar misshandeln, und letzteres passiert bei etwa 10% der Familien, weitere vielleicht 15% von Eltern sind am Rande ihrer Möglichkeiten. Und dieses knappe Drittel oder Viertel von Kindern leidet unter Eltern, die keine gute Beziehung zu den Kindern aufbauen können und entsprechend haben wir die Situation, dass ein knappes Drittel der Eltern keine guten Erzieher sind.

Moderator: Was sollten Eltern in solchen Schulungen lernen?

Klaus Hurrelmann: Meine Idee ist folgende: Wenn Eltern ihr Kind zum Kindergarten anmelden, dann lädt der Kindergarten verbindlich zu fünf oder sieben Elternabenden ein, wo Väter hoffentlich, Mütter und Erzieherinnen zusammen besprechen: Was mache ich, um mein Kind zur Selbständigkeit zu bringen? Was mache ich, wenn mein Kind aggressiv ist, wenn mein Kind immer wieder den Konflikt mit mir sucht, wenn es gegen Vereinbarungen verstößt, die ich richtig mit ihm getroffen habe? Welche Strafen darf ich ausüben und wie? Also eine gemeinsame Abstimmung von Erziehungsgrundsätzen und Erziehungspraktiken und erneut wäre es jetzt gut, wenn von Seiten des Kindergartens sowohl Erzieherinnen als auch Erzieher mit am Tisch sitzen. Denn dann würden sich auch mehr Väter angesprochen fühlen.

Moderator: Was geschieht mit Eltern, die sich diesen Schulungen entziehen? Bekommen sie die Lizenz zum Erziehen entzogen?

Klaus Hurrelmann: Das wäre die am weitesten gehende Idee, der ich nicht abgeneigt bin. Wenn man als Mutter und als Vater nicht an diesen Elternabenden mit Erziehungsthemen teilnimmt und keinen "Erziehungsführerschein", oder wie man ihn nennen möchte, dort erwirbt, denn den würde ich vergeben, als symbolische Belohnung, dann wird nur ein Teil des Kindergeldes ausgezahlt. Dann werden 30 Euro vom Kindergeld einbehalten. Ich weiß, das ist provokativ und dafür haben wir auch noch keine Rechtsgrundlage, aber wenn wir so etwas machen würden, dann würde sich die Erziehungssituation in vielen Familien am Ende erheblich verbessern.

Franziska: Es gibt immer noch Eltern, die ihre Kinder nicht in Kindergärten schicken. Wie sollen diese an solchen Seminaren teilnehmen?

Klaus Hurrelmann: Das ist eine grundsätzliche, ethische und politische Frage in einer demokratischen Gesellschaft. Darf von staatlicher Seite so etwas wie ein Erziehungsdiktat erfolgen? Und ich meine, der Staat hat die Verantwortung dafür, dass Eltern ihrer Erziehungsaufgabe gerecht werden können. Und deswegen gehört ein Training der Eltern zur guten Erziehung ihrer Kinder mit zu den staatlichen Aufgaben und deswegen würde ich Druck ausüben auf die Eltern, die ihre Kinder nicht zum Kindergarten schicken. Ein Druck könnte darin bestehen, dass finanzielle Konsequenzen existieren.

Magdalena: Kann man sagen, dass Kindergärten und gerade KITAs einen immer größeren Teil der Erziehung, gerade wenn beide Eltern berufstätig sind, übernehmen? Inwiefern werden die Kinder dadurch beeinflusst?

Klaus Hurrelmann: In allen entwickelten Ländern der Welt ist das so. Die Zeit, die Kinder in der Familie verbringen, wird geringer und die Zeit, die sie in öffentlichen Erziehungseinrichtungen verbringen, wird größer. In Deutschland haben sich die Bundesregierungen und die Landesregierungen 40 Jahre lang gegen diesen Trend gestemmt. Wir haben im Vergleich zu anderen Ländern sehr wenige Kindergartenplätze, vor allem Kinderkrippenplätze, und wir haben nur ganz wenige Nachmittagsplätze, sowohl im Kindergarten als auch in der Grundschule. Und erst die letzten beiden Bundesregierungen, interessanterweise auch die große Koalition mit der CDU-Familienministerin, haben hier einen Kurswechsel eingeleitet. Und interessant ist das deswegen, weil v.a. die CDU sich 40 Jahre lang gegen diesen Trend gewehrt hat.

Moderator: Mitchatter Matthias Hansal, der derzeit in den USA ist, hat reagiert und sich über die Hintergründe in den USA kundig gemacht. Hier sein Kommentar:

Matthias Hansal: Ich habe noch einmal mit verschiedenen Lehrer hier in meiner Schule in den USA gesprochen und kurz nachgeforscht. Hier gibt es keine rechtliche Regulierung fuer eine Maennerquote. Allerdings ist es allgemein bekannt, dass Maenner mit bestimmten "degree", Grad von Qualifikation, ganz einfach allgemein bevorzugt werden. Waeren Einstellungspraeferenzen, die z.B. jetzt fuer Frauen existieren (bei gleicher Qualifikation …) nicht ausreichend? Zumindest fuer die Grundschulen in den USA scheint es nach Angaben meiner Lehrer gut zu funktionieren.

Klaus Hurrelmann: Gut, das ist doch ein wichtiger Hinweis. Das würde also bedeuten: Wir können lernen von Lösungen, die in anderen Ländern schon gefunden wurden und müssen nicht mühselig den Weg von ganz vorne beginnen. Denn das ist auffällig, der Männermangel in den Erziehungseinrichtungen ist kein deutsches Phänomen, sondern es ist auch ein globaler Trend, v.a. eben in den reichen Gesellschaften.

Töni: Ich möchte noch einmal auf die "weiblichen" sozialen Spielregeln zurück kommen. Ich denke, dass solche sozialen Spielregeln durchaus sinnvoll sind, damit Unterricht reibungslos ablaufen kann. Außerdem müssen wir auch bei unseren männlichen Lehrkörpern ruhig sitzen bleiben.

Klaus Hurrelmann: Ja, die grundsätzliche Frage ist: Wird dieser Unterrichtsstil, der von einem bestimmten Modell des Lernens ausgeht, wirklich jedem Schüler und jeder Schülerin gerecht? Und da können wir Zweifel haben. Und man merkt nicht sofort, wenn es der gesamte Stil ist, der einem Kind nicht liegt. Das ist sehr schwer herauszufinden, ob das der Grund ist. Aber es leuchtet ja ein, wenn ich in eine Gruppe komme und in dieser Gruppe fühle ich mich in meiner Art mich zu verhalten, nicht richtig wohl, dann leidet darunter meine Leistungsfähigkeit, auch natürlich mein Wohlbefinden. Und ich glaube, hier liegt der entscheidende Punkt, wo wir ansetzen müssen, und die These lautet: Wir brauchen verschiedene Unterrichtsstile, mit möglichst vielfältigen Arbeitsformen, damit für jedes Kind etwas dabei ist, ob männlich oder weiblich.

Mira: Wie kann man dem Beruf Erzieher/Grundschullehrer eigentlich allgemein mehr Ansehen verschaffen?

Klaus Hurrelmann: Ich würde, wie wir das bei vielen anderen Dingen auch machen, starten mit einer Image-Kampagne. Ein Beruf, der fantastisch die Möglichkeit gibt, mit einem Kind, mit einem kleinen Mitglied der Gesellschaft, einem jungen Staatsbürger, einem lebendigen Kerl in Kontakt zu treten, das Leben zu erfahren, Einfluss auszuüben, ein kleines Kind zu trainieren, ihm etwas zu zeigen, mitzuerleben, wie es stark wird, da kann ich mir wunderbare Werbekampagnen vorstellen. Und Werbefachleute werden wissen, wie man das so gestalten kann, dass sich davon v.a. junge Männer angesprochen fühlen, die gerade vor der Berufswahl stehen.

Lena: Ich habe mich auch schon ein bisschen mit dem Thema beschäftigt und sehe sehr viele positive Seiten an einer Männerquote. Gibt es denn wirklich ernsthafte Gründe, die dagegen sprechen?

Klaus Hurrelmann: Nein, gibt es nicht, deswegen bin ich ja auch dafür.

Moderator: Das waren 60 Minuten Expertenchat zum Wettbewerb „Jugend debattiert“. Vielen Dank an alle Nutzer für die Fragen und natürlich an Prof. Hurrelmann für die Antworten. Leider konnten aufgrund der Kürze der Zeit nicht alle Fragen gestellt werden, dafür bitte ich um Verständnis. Wir hoffen, dass ihr viele neue Argumente für die Debatte gefunden habt. Das Schlusswort für heute hat unser Gast, bitte, Herr Prof. Hurrelmann:

Klaus Hurrelmann: Also ich wünsche mir, dass unsere Kinder stark werden, selbständig sind, leistungsfähig sind und sich so entwickeln können. Dass sie ihre persönlichen Eigenschaften und Potentiale entfalten können. Und dazu brauchen sie Väter und Mütter, aber auch Erzieherinnen und Erzieher, die alle ihre Stärken hervorlocken, und das geht nur, wenn Männer und Frauen sich diese Aufgabe gleichberechtigt vornehmen.

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