Roland Koch und Kurt Beck sind am 9. September 2002 zu Gast im tacheles.02 Live-Chat von tagesschau.de und politik-digital.de.

 

Kurt Beck
Roland Koch

 

Moderator: Herzlich willkommen bei tacheles.02 spezial! Wir freuen uns heute auf 60 Minuten Chat-Austausch zwischen zwei Ministerpräsidenten zum Thema "Arbeit oder nicht?". Wir werden sowohl die Frage nach der Entwicklung der Deutschen Wirtschaft als auch die Arbeitsmarktpolitik behandeln. Unsere beiden Gäste sind in diesen Feldern große Experten: Sie müssen tagtäglich mit Arbeitslosigkeit und Wirtschaftsflaute umgehen. Ich begrüße Sie, Herr Ministerpräsident
Roland Koch (CDU, Hessen). Ich begrüße auch Herrn Ministerpräsident
Kurt Beck (SPD; Rheinland-Pfalz), der in Mainz hinzugeschaltet ist. Sind Sie bereit, meine Herren?

Kurt Beck: Hallo von meiner Seite an den Moderator, den Kollegen Koch und alle User.

Roland Koch: Hallo Herr Kollege, entschuldige mich für die Verspätung und wünsche uns eine gute Diskussion.

Moderator: tacheles.02-Spezial ist ein Format von tagesschau.de und politik-digital.de und findet im Rahmen des Debattenforums wahlthemen.de statt, einem Projekt der Bundeszentrale für politische Bildung in Kooperation mit dem Zentrum für Medien und Interaktivität und politik-digital.de.

Fangen wir mit dem Naheliegenden an: Sie haben sicher gestern das Fernsehduell gesehen. Darüber, wer der Gewinner ist, streiten sich nun wieder die Demoskopen. Aber insgesamt betrachtet: Meinen Sie, dass dies eine Form ist, das zur politischen Willensbildung beitragen kann und wiederholt werden sollte?

Kurt Beck: Die gestrige Veranstaltung fand ich insgesamt besser als die erste. Sie war nicht so steril, meinerseits habe in den Bundeskanzler als sehr identisch erlebt, er war argumentativ stark, und hat die Runde aus meiner Sicht deutlich gewonnen.

Roland Koch: Also wenn 15 Millionen Menschen zuschauen, muss es ein Erfolg sein. Es war kompakte politische Information. Fakten haben bei den beiden Konkurrenten eine unterschiedliche Rolle gespielt. Stoiber ist eben eher der kompetente Kenner, Schröder spielt immer mit seinen schauspielerischen Talenten.

Kurt Beck: Natürlich sieht jeder die Dinge etwas aus seiner Brille, aber die Antwort des Kollegen Koch scheint mir doch sehr die abgesprochene Verteidigungslinie in Unionskreisen widerzuspiegeln. Entscheidend ist eh, wie die Leute die Sache beurteilt haben.

Roland Koch: Die Unterschiede der beiden Menschen dürfen die Kontroverse in der Sache nicht verdecken. Die Arbeitslosigkeit ist eben ein Thema, dem der Bundeskanzler wegen der schlechten Zahlen gerne ausweicht.

Moderator: Gut, genau das war zu erwarten: Beide Seiten reklamieren den Sieg für sich. Eine Nachfrage an Sie, Herr Koch: Sie haben vor kurzem ein Fernsehduell vor der Landtagswahl in Hessen (2. Februar 2003) abgesagt. Grund: Ihr derzeitiger Koalitionspartner, die FDP, könnte sich sonst benachteiligt fühlen. Die SPD wirft Ihnen vor, sich nicht stellen zu wollen. Werden Sie Ihre Entscheidung nach der gestrigen Erfahrung noch einmal überdenken? Auch Herr Stoiber sagte ja gestern, so ein Format sei vermutlich jetzt nicht mehr wegzudenken.

Roland Koch: Es wird auch in Zukunft in Deutschland normalerweise Koalitionsregierungen geben. Das ist der Unterschied zu Amerika. Bei der erfolgreichen Zusammenarbeit in Hessen werde ich den Wählern nicht vorgaukeln, ich wollte die nächste Wahl alleine bestehen. Wir treten als Team an. Das soll man auch sehen.

Moderator: Und wenn die kleinen Partner ein eigenes Duell bekämen? Würden Sie dann gegen Ihren Herausforderer antreten?

Roland Koch: Die Frage des Duells der Kleinen löst die Frage des Koalitionsteams nicht. Aber man wird die Frage sicher immer für den konkreten Einzelfall beantworten müssen.

Moderator: Der ehemalige US-Wahlkampfberater Dick Morris hat gesagt: "Wer als Erster versteht, dass er nur über Themen reden sollte, die er auch beeinflussen kann", würde die Wahl gewinnen. Die Wirtschaft zählt er ausdrücklich nicht dazu. Sehen Sie das ebenso? Vielleicht Herr Beck zuerst.

Kurt Beck: Natürlich kann Politik nur Rahmenbedingungen des wirtschaftlichen Geschehens beeinflussen, aber dazu muss und soll sie sich auch äußern. Im Übrigen sind die amerikanischen Erfahrungen nicht eins zu eins auf Deutschland zu übertragen. Dick Morris hat sicher viel Erfahrung, aber aktuell ist seine Beraterfunktion ja auch nicht mehr.

Roland Koch: Ich halte es für einen Irrtum, dass man die Wirtschaftspolitik für unbedeutend hält. Schließlich gibt es im Augenblick große Unterschiede zwischen der Wirtschaft in Deutschland und anderen europäischen Ländern. Wir sollten uns schon zutrauen, durch Änderungen in der Politik so gut zu werden wie einige unserer Nachbarn.

Kurt Beck: Zu Herrn Koch ein Kurzeinwurf: Ich will ergänzend hinzufügen, dass in der Tat sich in den letzten vier Jahren entgegen verbreiteter Vorurteile vieles zum Positiven verändert hat, der Export ist seit 1998 um über 30 Prozent auf 637 Milliarden. Euro gestiegen und die ausländischen Direktinvestitionen in Deutschland betrugen im letzten Regierungsjahr Kohl gerade noch 31 Milliarden. Euro. Sie lagen im letzten Jahr bei 321 Milliarden. Euro. Damit war Deutschland an zweitbester Stelle in der Welt. Nur soviel, um das Negativgerede zu relativieren.

Roland Koch: Hallo Herr Beck, wo sind die Jobs der 750 000 Menschen geblieben, die in den letzten vier Jahren in Ruhestand gegangen sind, ohne dass entsprechend junge Menschen neu hinzukamen? Eigentlich müssten wenigstens die von der Arbeitslosenzahl inzwischen abgezogen werden können, oder?

Moderator: Noch mal zurück zur Ausgangsfrage, bevor wir zum Arbeitsmarkt kommen: Also sind Sie beide einer Meinung: Herr Morris soll sich für die deutsche Situation zurückhalten, ein wenig beeinflussen kann man die Wirtschaft als Politiker, und das versucht die Politik.

Kurt Beck: Zu Herrn Koch: Gerne weise ich noch einmal darauf hin, dass die Arbeitslosigkeit in der Kohl-Zeit im Höhepunkt bei 4,9 Millionen. lag.

Moderator: Herr Beck, zum Arbeitsmarkt kommen wir gleich. Moment bitte noch!

Roland Koch: Die Politik beeinflusst die Wirtschaft nicht nur ein wenig. Steuern und Arbeitsmarkt haben viele politische Einflüsse und schon in den Bundesländern kann man die Unterschiede erkennen.

Moderator: Interessant bei den gestrigen ersten Umfragen nach dem Duell war aus meiner Sicht vor allem eines: Auch wenn Schröder in fast allen Bereichen vorne lag, so gab es doch einen Bereich, in dem die Befragten die Argumente von Kanzlerkandidat Stoiber überzeugender als die von Schröder fanden: Ausgerechnet im Bereich Arbeitsmarktpolitik! (30Prozent fanden hier Schröder besser, 46 Prozent fanden Stoiber besser). Herr Beck, hat die SPD hier Nachholbedarf in der Kommunikation des Erreichten oder ist nicht genug erreicht worden?

Kurt Beck: Noch mal zum Einwurf des Moderators:
Ich habe keine Einwände gegen Stellungnahmen von Herrn Morris, meinerseits wollte ich lediglich auf die Unterschiede zwischen den wirtschaftlichen Gegebenheiten in den USA und Deutschland hinweisen.

Zu der Frage der Einschätzung des TV-Duells zum Thema Arbeitsmarkt: Da gilt wie übrigens generell, dass manches an Einschätzungen im Nachhinein durch die Erwartungen im vorhinein geprägt zu sein scheint.

Moderator: Herr Koch, wie erklären Sie sich, das Schröder in dieser eben zitierten Umfrage Kompetenz im Bereich Arbeitsmarkt eher abgesprochen wird?

Roland Koch: Er hat versucht, die Gründe für unsere Probleme von sich wegzuschieben und hat auf die Weltwirtschaft gezeigt. Angesichts der Tatsache, dass Deutschland Schlusslicht in der Wirtschaft Europas ist, reicht das den Zuschauern nicht mehr.

Moderator: Bleiben wir einen Moment bei der Weltwirtschaft, wir kommen auch später darauf zurück: Wieviel der Arbeitslosigkeit ist hausgemacht, wieviel ist Ausdruck der globalen Trends?

Kurt Beck: Dem, was Herr Koch einwendet, möchte ich zunächst entgegenhalten, dass sowohl in Frankreich als auch in Spanien und in Italien die Arbeitslosigkeit deutlich höher ist als in Deutschland. Von einem Schlusslicht kann also nicht die Rede sein.

Roland Koch: Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt, der ja sicher der SPD nichts Böses will, hat dazu gesagt: Die deutschen Probleme sind keine Folge der Globalisierung, sondern hausgemacht. Das sehe ich auch so. Gerade die Benachteiligung des Mittelstandes und der Menschen mit geringen Einkommen sind ein typisch deutsches Problem.

Kurt Beck: Übrigens in Bayern ist im Verlauf dieses Jahres 2002 die Arbeitslosigkeit um fast 20 Prozent angestiegen, wäre dies nicht der Fall, hätten wir weniger als 4 Millionen Arbeitlose zum gegenwärtigen Zeitpunkt. So relativieren sich die Argumente von den hausgemachten Gründen für die Arbeitslosigkeit.

Roland Koch: Das Bayern-Argument finde ich lustig. Hätten wir überall in Deutschland nur so viel Arbeitslosigkeit wie in Bayern, gäbe es 1,5 Millionen Arbeitslosen-Schicksale in Deutschland weniger.

Kurt Beck: Auch die Benachteiligung des Mittelstandes durch die Steuerreform ist bei genauer Betrachtung nicht mehr als Propaganda. Mittelstand ist durch die Steuerreform um 19 Milliarden. Euro entlastet worden, ein weiterer Schritt wird 2004 folgen.

Moderator: Letzte Woche wurden die Arbeitsmarktstatistiken für den August vorgelegt: Eine minimale Entlastung des Arbeitsmarktes wurde da verzeichnet. Die CDU sprach von einer "verheerenden Bilanz", während Bundeskanzler Schröder hierin ein "Zeichen der Hoffnung" sah. Wer hat denn nun Recht, Herr Koch, Herr Beck? Vielleicht Sie zuerst, Herr Beck.

Kurt Beck: Noch zur Klarheit: was Bayern angeht habe ich von den Linien, von den Trends, gesprochen. Die sind genauso wie ich sie dargestellt habe.
Zur Frage des Moderators: Die Arbeitslosenzahlen im Ferienmonat August sind gegen die landläufige Erfahrung, dass in diesem Monat nicht eingestellt wird, leicht gesunken. Das begründet gemeinsam mit der Betrachtung der Entwicklung der Langzeitarbeitslosigkeit und der Jugendarbeitslosigkeit – bezogen auf die Besonderheiten des Monats August – vorsichtigen Optimismus.

Roland Koch: Der Hinweis auf "Trends" ist ja schon wieder ein Teil des Rückzugs, insofern okay. Man sollte aber doch daran erinnern, dass mehr als ein Drittel aller Arbeitsplätze, die in den letzten vier Jahren in den alten Bundesländern entstanden sind, in Bayern sind. Wenn es diesen Trend in ganz Deutschland gegeben hätte, könnte der Bundeskanzler sich vielleicht dafür loben lassen. Aber so?

Kurt Beck: Herr Kollege Koch, wir sind uns sicher schnell einig, wenn ich feststelle, dass sowohl Hessen als auch Rheinland-Pfalz bei annähernd so starker Unterstützung wie sie Bayern in den letzten 10-15 Jahren erfahren hat, auch weit überdurchschnittliche Ziffern vorlegen könnten. Da ist vieles mit Bundesmitteln finanziert, was ich nicht beklage, aber doch der Korrektheit halber feststelle. Wenn ich im übrigen darauf hinweisen darf, dass die schreckliche Erfahrung des Terrors am 11.9. letzten Jahres eine Menge mit der Stimmungslage und der Kaufkraftzurückhaltung unserer Bevölkerung zu tun hat, dann erfüllt uns das sicher gemeinsam mit Sorge, wie sich die Diskussion um eine kriegerische Intervention im Irak auf die Weltwirtschaft und auf uns auswirken wird.

Roland Koch: Wenn im August über vier Millionen Arbeitslose zu verzeichnen sind, dann bedeutet dies eine Zahl um einige hunderttausend höher bis zum Ende des Jahres, allein wegen des Winters. Da vom "Zeichen der Hoffnung" zu sprechen, ist gegenüber den Arbeitslosen zumindest nicht sehr rücksichtsvoll. Man darf das 3,5-Millionen-Versprechen nicht vergessen und auch nicht die Tatsache, dass 750.000 Menschen weniger heute Arbeit suchen und trotzdem die Arbeitslosenzahl – wie vor vier Jahren – über vier Millionen ist. Sicherlich gab es vor 15 Jahren auch Unterstützung für Bayern. Aber seit vielen Jahren ist Bayern ein Nettozahler, von dem auch Rheinland-Pfalz nicht unerheblich profitiert. Die Leistung der Bayern besteht darin, die Hilfen zur Umwandlung vom Agrarland zum Technologiestandort sehr erfolgreich genutzt zu haben. Das ist eben gutes Politikmanagement. Und man sieht daran, wie stark der Amerikaner Morris sich geirrt hat.

Kurt Beck: Richtig ist, dass Bayern seit einigen Jahren Nettozahler im Länderfinanzausgleich ist. Richtig ist aber auch, dass Rheinland-Pfalz bis heute durch die Stationierung von Streitkräften einen weit überdurchschnittlichen Beitrag zur Landesverteidigung geleistet hat und leistet. Und wir mussten zu Zeiten der Kohl-Regierung ohne Hilfe mehr als 70.000 Stellen für Soldaten und zivile Mitarbeiter durch zivile Strukturen ersetzen.

Roland Koch: Wollen wir jetzt wirklich die ehemaligen Zonenrandgebiete gegen Streitkräfte-Stationierung aufrechnen?

Kurt Beck: Nur um die Anstrengungen vergleichbar zu halten. Lieber Herr Koch: Für die Zonenrandgebiete gab es richtigerweise Hilfe und Förderung für die Umwandlung von militärischen in zivile Strukturen. Unter der Verantwortung ihrer Partei leider so gut wie nicht.

Moderator: Nochmal direkt zum Arbeitsmarkt: Immer wieder wird dem Kanzler von der CDU das Versprechen vorgehalten, die Arbeitslosigkeit bis 2002 unter 3,5 Millionen zu bringen. Die SPD kontert, dass auch Stoiber – für das Bundesland Bayern – 1996 das Versprechen abgegeben habe, die Zahl der Arbeitslosen bis 2000 zu halbieren und dieses Ziel nicht erreicht habe. Dieses Jahr halten sich beide Parteien mit konkreten Versprechungen für den Arbeitsmarkt zurück. Haben die Wähler nicht Anspruch auf so klar formulierte Versprechen, um den Erfolg einer Politik zu bemessen?

Kurt Beck: Mir scheint, dass aufgrund gerade der starken Abhängigkeit unserer Wirtschaft von den internationalen Abläufen für jeden Verantwortlichen vernünftig ist, sich nicht auf konkrete Zahlen festzulegen. Dies bedeutet nicht, dass wir nicht alle Kraft in die Beseitigung von Arbeitslosigkeit investieren müssen.

Roland Koch: Die Politik sollte sich um die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft kümmern, dort hat sie Kompetenz. Wenn es bessere Zeitarbeitsbedingungen gibt,
wenn es ohne das unsinnige Scheinselbständigen-Gesetz wieder mehr Existenzgründungen gibt, dann werden viele Menschen in Deutschland zusätzlich Beschäftigung schaffen. An diesem Erfolg kann sich die Politik messen lassen, wenn sie vorher eine verbindliche Zahl benennt.

Moderator: Herr Beck, unterschreiben Sie dies?

Kurt Beck: Eine Politik, die das Einräumen von Kaufhausregalen zur unternehmerischen Tätigkeit deklariert, oder die ungesicherte Arbeitsverhältnisse zum Regelfall werden lässt, hat nicht den Anspruch, mehr wirkliche Selbständigkeit und mehr verantwortliche neue Arbeitsplätze zu schaffen. Die Teilung von Regelarbeitsplätzen, von denen eine Familie leben kann, in 624-DM- oder wie von der Union gewollt 500-Euro-Verträge halte ich für unverantwortlich gegenüber den betroffenen Menschen. Im Übrigen wird dadurch die Grundlage unserer Sozialsysteme ausgehöhlt.

Roland Koch: Warum ist Teilzeitarbeit ein ungesichertes Arbeitsverhältnis?
Der Mitarbeiter hat die gleichen Rechte wie jeder andere Arbeitnehmer, aber das unternehmerische Risiko wird kalkulierbarer. Deshalb gibt es das in allen anderen Ländern, und nur bei uns verhindern ideologische Sperren zusätzliche Beschäftigung. Und zum Thema Scheinselbständigkeit: Sind Ihnen denn wirklich schon viele Existenzgründer begegnet, die im ersten halben Jahr mehr als einen Kunden haben? Das ist aber in Deutschland eine Ordnungswidrigkeit!

Kurt Beck: Da hat auch nichts mit ideologischen Sperren zu tun, sondern mit der Orientierung, auch der arbeitsmarktpolitischen Entscheidungen, an den Menschen.

Roland Koch: Warum polemisieren Sie gegen die 500-Euro-Verträge? Die hat doch Ihr Herr Hartz vorgeschlagen. Bei der CDU geht es um 400 Euro, ohne Beschränkungen auf "haushaltsnahe Tätigkeiten", was auch immer das ist .

Kurt Beck: Alle Rezepte, die die Union bietet, hat sie in den 16 Jahren vor 1998 bereits vorexerziert. Für den Misserfolg ist sie abgewählt worden. Jetzt gleiche Inhalte und gleiche Personen – was soll daran neu sein, wie soll das funktionieren?

Roland Koch: Im Startprogramm der CDU können Sie den Fahrplan der ersten Regierungsmonate genau nachlesen. Steuersenkungen zum 1. Januar, keine weitere Ökosteuer, neue Bündnisse für Beschäftigung in den Betrieben, mehr Zeitarbeit, 400-Euro-Jobs und Privilegien bei den Sozialbeiträgen für niedrige Einkommen – das sind die ersten Stationen für neues Wirtschaftswachstum.

Moderator: Und noch Mal zur Frage der Versprechungen: Ist der Wähler nicht zu Recht gelangweilt von den butterweichen Phrasen im Wahlkampf, die nichts versprechen und alles offen halten? Die nur sagen, was nicht gewollt wird und wenig gesagt wird, was im Fall eines Wahlsiegs wirklich angepackt wird? Oder betreibe ich hier einen Politikpessimismus, den Sie so nicht sehen?

Kurt Beck: In den vier Jahren Gerhard Schröder ist die größte Steuerreform der Geschichte des Bundesrepublik gemacht worden; eine Rentenreform die weit in die Zukunft reicht und es sind Verbesserungen im Bereich der Bildung und Ausbildung durch eine 30 Prozent Steigerung der Bundeshaushaltsansätze umgesetzt worden. Das sind sie, die Rahmenbedingungen, die immer reklamiert werden. Von Phrasen kann da nicht die Rede sein.

Moderator: Die SPD hat mit etwas Häme darauf verwiesen, dass die Arbeitslosenzahl in Bayern im letzten Monat gestiegen sei. Gekontert wird unter anderem mit Hinweis auf die globale konjunkturelle Lage. Wieviel Einfluss haben Sie eigentlich als Ministerpräsidenten auf die Verbesserung der Situation am
Arbeitsmarkt? Vielleicht Herr Koch zuerst, bitte.

Roland Koch: Wir tragen die Verantwortung für die Infrastruktur, in meinem Land, zum Beispiel den Ausbau des Frankfurter Flughafens. Darüber hinaus haben wir viel Einfluss auf Bürokratie und Genehmigungsverfahren und in diesen Jahren wird die Organisation der Kooperation zwischen Unis, FHs und der Wirtschaft für gemeinsame neue Produkte immer wichtiger. Rot-Grün hat die Biotechnologie nach 1990 aus Hessen vertrieben, wir holen sie jetzt Stück für Stück zurück. Daran kann man die Einflussmöglichkeiten praktisch gut erkennen.

Moderator: Herr Beck, was meinen Sie dazu?

Kurt Beck: Wir in den Ländern haben ebenfalls die Möglichkeit, Rahmenbedingungen zu beeinflussen. Das gilt für die Infrastruktur, die Bildung und Ausbildung, Genehmigungsverfahren, usw. Wir haben das versucht, und die Tatsache, dass Hessen und Rheinland-Pfalz je nach Jahreszeit an dritter oder vierter Stelle bundesweit liegen, zeigt, dass wir trotz nicht einfacher Voraussetzungen Beiträge geleistet haben.

Moderator: Kommen wir zum Bericht der Hartz-Kommission. In einem Interview haben Sie, Herr Ministerpräsident Koch, gesagt, die Vorschläge seien "nur eine Kopie von uns". Na super! – sollte man meinen. Beide großen Volksparteien sind einer Meinung! Und das im Wahlkampf. Warum trägt die CDU die Vorschläge denn dann nicht mit? Und warum gesteht die SPD der CDU nicht zu, einige der Hartz-Vorschläge zuerst beschrieben zu haben?

Roland Koch: Wesentlicher Teil der Hartz-Vorschläge ist die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Ein entsprechendes Hessen-Gesetz hat die Mehrheit im Bundesrat verabschiedet, aber Rot-Grün haben es im Bundestag verhindert. Herr Hartz weiß, dass die Scheinselbständigkeits-Regelung unsinnig ist, aber statt sie aufzuheben, umgeht er sie mit der "Ich-AG". Hartz weiß, dass wir mehr Zeitarbeit brauchen, aber er will praktikable Regelungen nur neuen staatlichen Zeitarbeitsfirmen erlauben. Mit diesem Spagat zwischen SPD-Programm und Wirklichkeit geht es eben nicht.

Kurt Beck: Die Hartz-Vorschläge beziehen ihre Stärke aus der Ausgewogenheit. Die Tatsache, dass Unternehmer, Gewerkschafter, das Handwerk und die Politik an einem Tisch saßen und diese Lösungen gebilligt haben, ist ihre Stärke.
Es macht keinen Sinn, sich Teile herauszubrechen, die einem etwas genehmer sind. Aus dem Ganzen erst wird ein Konzept.

Roland Koch: Von dieser Zustimmung ist ja heute schon nichts mehr übrig.

Kurt Beck: Wer zuerst welchen Teilvorschlag gemacht hat, ist für meine Bewertung gleichgültig. Da gönne ich jedem beanspruchte Erstlingsrechte. Herzliche Bitte: Zerreden wir die Chance nicht, der 23. September kommt so sicher wie das Amen in der Kirche. Und dann muss handeln, wer immer auch die Bundestagswahl gewinnt.

Roland Koch: Die Gewerkschaften haben sich distanziert, die großen Unternehmer-Verbände sind skeptisch, und der neue Arbeitsamts-Chef Gerster hat einen großen Teil der Vorschläge für undurchführbar erklärt. Der Unsinnigkeit vieler Vorschläge kann man nicht entfliehen, indem man sie als Gesamtkonzept bezeichnet.

Moderator: Ich denke, wir haben noch Zeit für eine letzte Frage.
Wir haben uns die beiden Regierungsprogramme von CDU und SPD angeschaut. In einem steht geschrieben: "Ein wesentlicher konzeptioneller Schritt zu einer solchen neuen Kultur des Förderns und Forderns besteht in der Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe." Und im Programm der anderen Partei steht: "Die Verzahnung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe für Arbeitslose ermöglicht konzentrierte Bemühungen im Interesse der Langzeitarbeitslosen
für eine bessere, schnellere Vermittlung in Beschäftigung." In vielen arbeitsmarktpolitischen Sachfragen unterscheiden Sie sich doch gar nicht, scheint es. Stimmen sie mir zu?

Roland Koch: Wie schon gesagt, wenn die SPD diesen Programmpunkt ernst meinen würde, hätte sie das schon im Sommer als Gesetz beschließen können. Es ist richtig, die Zeit der Sprüche ist vorbei. Es ist Zeit für Taten.

Kurt Beck: Natürlich gibt es in den Programmen auch Übereinstimmungen. Meine Sorge ist, dass sich in der Union die Kräfte durchsetzen, die die Sicherheit und Zukunftsberechenbarkeit der Arbeit für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Frage stellen. Das würde eine tiefgreifende Veränderung nicht nur am Arbeitsmarkt, sondern auch in unserer gesamten Gesellschaft bewirken. Hire and fire, das ausbooten von Betriebsräten darf nach meiner festen Überzeugung nicht Platz greifen. Es geht darum, wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Erfolg mit sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Vernunft zusammenzuführen. Das ist der Kern unseres Programms als Sozialdemokraten, von dessen Erfolg ich überzeugt bin. Danke für den Meinungsaustausch. Ich bitte um Verständnis, dass ich mich aus terminlichen Gründen verabschieden muss.

Moderator: Liebe Chatter und Chatterinnen: Die Zeit ist bereits wieder verflogen. Wir bedanken uns im Namen von tagesschau.de, wahl.tagesschau.de, politik-digital.de sowie wahlthemen.de für Ihre Teilnahme. Auch an beide Herren geht unser ausdrücklicher Dank! Wir würden uns freuen, wenn Sie ein wenig Spaß gehabt haben und das ein oder andere neue Argument gehört haben. Wir wünschen einen schönen Tag!

Roland Koch: Viele Grüße nach Mainz!

Kurt Beck: Viele Grüße nach Berlin an den Kollegen Koch, den Moderator und alle, die im Chat dabei waren.


tacheles.02-Spezial ist ein Format von tagesschau.de und politik-digital.de und findet im Rahmen des Debattenforums "WAHLTHEMEN.DE" statt, einem Projekt der Bundeszentrale für politische Bildung in Kooperation mit dem Zentrum für Medien und Interaktivität und politik-digital.de.