Am Dienstag, 8.4.08, war Rupert von Plottnitz, Ex-RAF-Anwalt und ehemaliger hessischer Minister für Justiz- und Europaangelegenheiten von den Grünen, zu Gast im tagesschau-Chat in Kooperation mit politik-digital.de. Er sprach über Aus- und Nachwirkungen der 68er, gesellschaftliche Missstände und über die heutige Studentengeneration.

 

Moderatorin: Herzlich
willkommen beim tagesschau-Chat im ARD-Hauptstadtstudio. Aus dem Frankfurter
Studio des Hessischen Rundfunks ist unser heutiger Gast zugeschaltet, mit dem
wir über die Studentenbewegung und ihre Folgen sprechen: Rupert von Plottnitz,
den viele als den Grünen-Politiker in Deutschland kennen, der 1995 in Hessen
ein "klassisches" Minister-Ressort übernommen hat – für Justiz und
Europaangelegenheiten. Hier sorgten Sie für liberale Reformpolitik – unter
anderem dafür, dass Sitzblockaden in der "Tradition gewaltloser
Demonstrationsformen" stehen. Ein Erbe Ihrer Zeit als 1968er?

Rupert von Plottnitz:
Ich glaube, das wichtigste Erbe der 68er ist die Erkenntnis, dass
Demonstrationen im öffentlichen Raum ein genuines Mittel der politischen
Meinungsbildung und des politischen Meinungskampfes sind. Das war bis tief in
die 60er Jahre hinein noch keine selbstverständliche Erkenntnis. Da galten
Demonstrationen im Zweifelsfall als Störfaktoren und Störungen der öffentlichen
Ordnung.

Rupert von Plottnitz

Rupert von Plottnitz

 

Hallooooo: Jedes
Medaillon hat zwei Seiten. Was sind Ihrer Meinung nach die negativen
Auswirkungen "Ihrer" Bewegung auf die Gesellschaft und den Staat ?

Rupert von Plottnitz: Sicherlich
kritisch zu sehen ist das Verhältnis zur politischen Gewalt, wie es sich bei
Gruppierungen wie der RAF herausgebildet hat.

Moderatorin: Die
folgende Frage an Sie ist zugleich eine, die viele User vorab als besonders
wichtig bewertet haben:

Dieter Cohnen: Hätte es nicht den größten Teil der heute gern als
Veränderungen der Gesellschaft durch die 68er bezeichneten Entwicklungen nicht
sowieso gegeben? Auch ohne Institutionen-Marschierer?

Rupert von Plottnitz: Das glaube ich nicht. Und zwar deswegen, weil es in den
60er Jahren in vielen gesellschaftlichen und politischen Bereichen der alten
Bundesrepublik noch reichlich vordemokratisch zuging. Das Beispiel
Demonstrationen und das Verständnis davon habe ich genannt. Wenn es demokratischer
zugeht seitdem, dann liegt es eben auch an der 68er Generation.

79er: Was bleibt von
den Leistungen der 68er?

Rupert von Plottnitz:
Der Abstand zwischen den Ansprüchen des Grundgesetzes und der
Verfassungswirklichkeit ist deutlich geringer geworden im Vergleich zu den 60er
Jahren.

Moderatorin: Herr von
Plottnitz, Sie dürften gerne etwas ausführlicher antworten!

Rupert von Plottnitz:
Gern: Man vergisst leicht, dass die Wahrnehmung demokratischer Rechte noch in den 60er Jahren vielfach auf Obrigkeit, staatliche
Ressentiments und aggressive Reaktionen stieß. Das ist im Regelfall heute nicht
mehr so der Fall.

felix: Ich bin noch jung, deshalb
kenne ich die 68er Bewegung nur aus dem Geschichtsbuch, muss aber sagen, dass
das ganze für mich ein Riesenirrweg war: Freie Liebe, Auflösung der Ehe, gegen
Traditionen und alte Werte, Kinderkriegen erst im Oma-Alter (weil die eigene
"Selbstverwirklichung " wichtiger ist), die beiden Massenmörder Ho
Chi Minh und Mao als Leitfiguren. Inzwischen sind die Alt-68er zu denjenigen
krawatten- und anzugtragenden Spießern geworden, die sie seinerzeit immer
bekämpft haben. Ironie der Geschichte?

Rupert von Plottnitz: Also,
Krawatten wurden zu meiner Zeit auch im Bereich der 68er getragen, vor allem an
den Universitäten war das damals noch viel üblicher als heute. Und dass unter
den 68ern von heute auch Spießer sein mögen, ist sicher nicht zu bestreiten.
Das ändert aber aus meiner Sicht nach wie vor nichts daran, dass die 68er in
erheblichem Ausmaß für demokratische Belebung der alten Bundesrepublik und für
eine längst fällige offensive Auseinandersetzung mit den Missständen der
damaligen Zeit gesorgt haben.

peter
a:
Sehr geehrter Herr Plottnitz. Ich bin
wirklich froh, dass es die 68er-Bewegung gab. Sicher war nicht alles richtig,
was sie wollte und aktiv angegangen ist. Sie hatte ehrenwerte Motive. Sie
wollte einen Neubeginn, ohne den berühmten „Muff von tausend Jahren". Eine
bessere, sozialere und gerechtere Welt. Sicher war es damals cool, bei den
68ern mitzumischen. Ein Lebensgefühl. Wie kann es sein, dass es nach vierzig
Jahren keine Massenbewegung gegen „Heuschrecken" oder den „gläsernen Bürger" gibt?
Kaum jemand reagiert noch? Geht es den Menschen noch zu gut, oder haben sie
schon resigniert?

Rupert von Plottnitz: Die Antwort
auf diese Frage ist sehr schwierig. Denn in der Tat, es gibt ja auch
gegenwärtig Fehlentwicklungen und Missstände, die allen Anlass zur Empörung
gäben.
Warum es heute im Gegensatz zu damals keine
dauerhafte Massenbewegung dagegen mehr gibt, darauf weiß auch ich keine
schlüssige Antwort. Allerdings gibt es ja durchaus auch Widerstand, in anderen Formen als damals. Wenn ich an Organisationen
wie ATTAC z.B. denke oder an Umweltaktivisten bei Greenpeace oder
vergleichbaren Gruppierungen.

robert_mey: 40 Jahre
nach 1968 scheint die Studentenbewegung tot zu sein. Woran kann dies liegen?

Rupert von Plottnitz:
Eine Rolle spielt aus meiner Sicht sicherlich, dass auch unter Studenten
heutzutage Existenzangst eine größere Rolle spielt, als dass zur damaligen Zeit
der Fall war. Studenten am Ende der 60er Jahre hatten in aller Regel keinen
Anlass zu der Angst, brotlos leben zu müssen.

antares: wie ist es um das
Durchhaltevermögen von 68er bestellt? Sind Sie / sie überhaupt noch sichtbar
bzw. in einflussreichen Positionen?

Rupert von Plottnitz: Wer
sich in der Politik der Bundesrepublik umsieht, wird feststellen, dass in den
Parteien – namentlich bei den Grünen
– eine Reihe von Personen aktiv waren
oder noch sind, die durch 68 geprägt wurden.

MSchneider: Inwieweit
hatte die Gesellschaftskritik der "Außerparlamentarischen Opposition"
überhaupt den Anspruch, den politischen Status Quo der BRD Ende der 60er zu
reformieren, d.h. inwieweit ist von einem "konstruktiven" Protest zu
sprechen und nicht von einem Protest, der den Geltungsanspruch des politischen
Systems von vornherein ablehnte?

Rupert von Plottnitz: Nach meiner
Erinnerung ging es in den Anfängen dessen, was heute mit 68 gemeint ist,
durchaus um die Forderung nach einer Demokratisierung der Gesellschaft, sprich
um die Forderung nach Reformen. Erst mit der Heftigkeit der staatlichen
Reaktionen auf diese Forderung kam eine Militanz auf, die so etwas wie den
Systemwechsel wollte.

smrtfasz: Gibt es
Gruppen welche Sie als "Erben" der 68er ansehen?

Rupert von Plottnitz: In den
Anfängen der Grünen gab es sicherlich Gruppierungen, die sich als Erben der
68er verstanden haben. Denken Sie an jemanden wie Rudi Dutschke, der zu den
Gründungsmitgliedern der Grünen gehörte. Für die SPD und Teilbereiche der SPD, insbesondere
früher bei den Jungsozialisten, gilt sicherlich das gleiche.

Ping: Haben sich die Rebellen von einst schlucken lassen? Oder
wie ist es zu erklären, dass heute ein Oskar Lafontaine weiter links steht als
die meisten Grünen? Sind die 68er dem Geschmack der Macht erlegen, haben sie
sich kaufen lassen? Sind Ideale der "Realo-Politik" geopfert worden?

Rupert
von Plottnitz
: Die 68er-Zeit liegt 40
Jahre zurück. Inzwischen ist viel passiert, auch weil es die 68er gab. Nach
meinem Eindruck, wurde da niemand geschluckt, allerdings hat sich die
Erkenntnis durchgesetzt, dass der Weg der Parlamente und der Demokratie in
Ländern wie der Bundesrepublik noch immer das probateste Mittel ist, um
erwünschte gesellschaftliche und politische Veränderungen zu realisieren.

Moderatorin: Hier ein
kurzes User-Statement, keine Frage. Möchten Sie darauf dennoch reagieren?

chong: Die "68er" haben genauso viel und genauso wenig
geleistet wie Dutzende andere Gruppierungen der gleichen Generation.

Rupert von Plottnitz:
Es gibt überhaupt keinen Grund, die 68er zu idealisieren oder zu historischen
Heroen aufzublasen, aber wo etwa im Bereich der demokratischen Kultur im Lande
ihre ursprünglichen Verdienste lagen, habe ich ja versucht deutlich zu machen.

Moderatorin: Sind Politiker der so
genannten bürgerlichen Parteien beeinflusst von 1968 – woran sehen Sie das?

Rupert von Plottnitz:
Auch wieder im Bereich der demokratischen Frage. Wenn sich am Ende der 60er
Jahre die Einsicht durchgesetzt hat, dass erhebliche Teile des damaligen
Demonstrationsstrafrechts keinen Bestand vor dem Grundrecht der
Versammlungsfreiheit haben können und deswegen gestrichen werden müssen, dann
liegt das eben auch an den so genannten 68ern.

Moderatorin: Eine
persönlichere Frage an Sie:

Daniel: Stehen Sie auch heute noch zu ihrer Rolle als Verteidiger
der RAF oder inwiefern hat sich ihre Meinung zu Selbiger verändert?

Rupert von Plottnitz:
Im Großen und Ganzen stehe ich zu der Rolle, die ich damals als Verteidiger
gehabt habe. Es gab sicherlich in dem ein oder anderen Verfahren verbale
Schärfen, die auch mir heute fremd vorkommen. Aber wenn es die gab, dann im
Wesentlichen deshalb, weil es solche Schärfen sehr wohl auch bei den übrigen
Verfahrensbeteiligten, sprich Anklägern und Gerichten gab.

al_capone: Meinen Sie,
dass die 68er den Überwachungsstaat nur ein wenig aufschieben konnten? Ist
angesichts der modernen Gefahren eine solche Überwachung nötig oder wird
überreagiert? Wie beurteilen Sie die Arbeit ihres früheren Kollegen Otto Schily
und die seines Nachfolgers Wolfgang Schäuble? Insbesondere das Verhältnis von
Sicherheitsgewinn zu Freiheitsverlust.

Rupert von Plottnitz:
Der wesentliche Unterschied der Gegenwart zur damaligen Vergangenheit liegt
sicherlich darin, dass es technologisch ganz andere und neue Möglichkeiten der
Überwachung von Bürgerinnen und Bürgern gibt. Was Schily und Schäuble angeht:
Da gehöre ich zu den Skeptikern, weil ich glaube, dass sie zu häufig der
Meinung sind, man müsse in der Auseinandersetzung mit dem islamistischen Terror
auf rechtsstaatliche Sicherungen verzichten. Die aber gerade gilt es gegen
diesen Terror zu verteidigen.

Daniel: Die Rechte der Bürger werden heute mehr und mehr
eingeschränkt. Doch anders als damals scheint sich heute kein Widerstand zu
regen. Woran liegt das?

Rupert von Plottnitz:
Das hat möglicherweise auch mit der Verbreitung der neuen Technologien und der
dazugehörenden Medien zu tun. Der Wunsch und das Bedürfnis nach Intimität und
Privatheit scheint weniger verbreitet zu sein als früher. Es gibt ja
Zeitgenossen, die drängt es geradezu danach, sich mit ihren Intimitäten und
Privatheiten in der öffentlichen Medienwelt zu präsentieren. Bei solchen
Vorzeichen nimmt die Zahl derjenigen ab, die auch staatlichen Instanzen
gegenüber Wert auf ihre Freiheitsrechte legen.

Moderatorin: Noch
einmal zurück zum politischen Engagement von Studenten, das viele unserer
Chat-Leser und -Fragenden bewegt:

DanielOL: Nochmals kurz zurück zur derzeitigen "Lage" der
Studenten. Sehen sie eher einen politischen/gesellschaftlichen Vorteil darin,
dass Studenten heute weniger aktiv ihre Meinungen und Rechte vertreten oder
können aus Sicht der Politik und Gesellschaft eventuell gar Nachteile darin
bestehen, dass man es hier mit "angepassten/ängstlichen" Studenten zu
tun hat?

Rupert von Plottnitz:
Wenn ich an die Auseinandersetzung um die Studiengebühren, z.B. hier in Hessen
denke, dann ist es ja durchaus nicht so, dass Studenten nur lethargisch auf das
Zeitgeschehen reagieren. Aber richtig bleibt auch: Je weniger Menschen – ob
Studenten oder nicht – sich für die öffentlichen Angelegenheiten interessieren
und engagieren, umso schwieriger wird es für die Demokratie und umso leichter
haben es geschworene Feinde der Demokratie.

Jonnybla: Was fehlt
den heutigen Studenten, weshalb sie im Gegensatz zur den 68ern so unpolitisch
sind?

Rupert von Plottnitz: Einen
wichtigen Punkt habe ich, glaube ich, schon genannt: Es gibt auch bei Studenten
mehr als früher soziale Ängste und Existenzängste. Die könnten das Engagement
für politische Aufmüpfigkeit und Kritik dämpfen.

emma: Mit welchem Slogan würden Sie heute als Jugendlicher auf
die Straße gehen?

Rupert von Plottnitz:
Ein Experte für Slogans war ich nie, die sind mir im Regelfall zu kurz. Aber
der Satz "Demokratie und Rechtsstaat lassen sich nicht mit den Mitteln
ihrer Feinde und Gegner verteidigen" könnte mir schon gefallen.

trubel: Vielleicht bin
ich zu jung – aber mir ist nie klar, was die 68er eigentlich als soziale
Gerechtigkeit verstanden haben?

Rupert von Plottnitz: Sie haben
wahrscheinlich unter sozialer Gerechtigkeit die Beseitigung dessen verstanden,
was auch heute zu Recht als Ungerechtigkeit wahrgenommen wird. Nämlich dass am
oberen Ende der Gesellschaft ein neofeudaler Reichtum statthält, während am
unteren Ende der Gesellschaft immer mehr Menschen Probleme haben, eine
menschenwürdige Existenz zu führen.

Moderatorin: Hier zwei
kurze aktuelle Leser-Beiträge:

kheptner: Studenten
von heute haben einfach kein Interesse.

chong: Als Jugendlicher muss ich
heute nicht auf die Straße gehen, sondern ins Internet.

Rupert von Plottnitz:
Dass Studenten prinzipiell interessenlos sind, das wäre aus meiner Sicht eine
unzulässige Verallgemeinerung und mehr ein Vorurteil. Und ob mit den Mitteln
des Internets mehr durchzusetzen ist als mit den Mitteln der klassischen
Demonstration und Versammlung, den Beweis sehe ich noch nicht. Eine Anmerkung
noch, das betrifft aber sicherlich nicht
Länder wie die Bundesrepublik: Unter den Bedingungen der politischen Diktatur
ist das Internet sicherlich ein sehr erwünschtes Widerstandsmedium.

Jonnybla: Vielleicht liegt es daran, dass heutige Studenten keinen
moralischen Konflikt mit der Vorgeneration haben und aufgrund des angespannten
Arbeitsmarktes und des Bachelor-/ Mastersystems und der Studiengebühren keine
Zeit mehr zur politischen Orientierung haben. Halten Sie diese Entwicklung für
richtig?

Rupert von Plottnitz:
Richtig ist sicherlich, dass die 68er ja nicht vom Himmel gefallen sind. Es
waren im wesentlichen drei Punkte, die sie hervorgebracht haben: Zum einen die
Verdrängung des NS-Terrors in der Gesellschaft der alten Bundesrepublik und die
Repräsentanz von NS-Tätern in den Eliten der alten BRD, die
Menschenrechtsverbrechen im Vietnamkrieg und undemokratische Reaktionen auf
demokratische Versammlungen. Vergleichbare Punkte auf denen sich Widerstand
heutzutage konzentrieren könnte, gibt es möglicherweise nicht mehr in gleicher
Form.

Moderatorin: Lassen Sie uns zu den
Einflüssen der 68er auf die aktuelle Politik kommen!

72er: Lieber Herr von Plottnitz, finden Sie, dass sich das
politische System in seinen Grundfesten verändert hat, wenn man mal die
Gewissensfreiheit des Abgeordneten im Fall Ypsilanti näher betrachtet? Haben
die 68er den Einfluss von Lobbyisten und der Medien wirklich zurückgedrängt?
Sind die abendlichen "Talkshows" ein Spiegelbild von
Scheindemokratie?

Rupert von Plottnitz:
Talkshows sind Diskussionen und keine parlamentarischen Entscheidungsgremien,
das wird manchmal vergessen. Ansonsten dürfte eins der entscheidenden Probleme
der Gegenwart darin bestehen, dass sich demokratisch legitimierte Politik mit
ihren Mitteln und Möglichkeiten im Verhältnis zu mächtigen Markt- und
Wirtschaftsinteressen immer weniger zutraut.

grummthater: Wie
bewerten Sie in diesem Kontext die heutigen "politischen Skandale" – Reaktionen
auf Guantanamo Bay und die Behandlung der G8-Gegner vor und während dem Gipfel?
Sind das nicht auch ähnliche Gründe? Und warum bleibt dann solch eine
Breitenwirkung aus?

Rupert von Plottnitz:
Der G8-Gipfel ist ja ein Beispiel dafür, dass es dankenswerterweise nach wie vor
kritische Wachsamkeit und kritische Reaktionen auf die aktuellen politischen
Missstände dieser Welt gibt. Zu Guantanamo wird ja Gott sei Dank der Druck
selbst in den USA inzwischen groß und größer, mit einem solchen Raum der
rechtsfreien Willkür endlich Schluss zu machen. Man kann da nur hoffen, dass
dieser Druck möglichst schnell die nötigen Erfolge zeigt.

Moderatorin: Gäbe es
die Grünen ohne 1968? Wäre Schwarz-Grün als Regierungskoalition ohne 1968 denkbar?

Rupert von Plottnitz: Ich glaube,
dass bei den Grünen zumindest in den Anfangsjahren viele Traditionen, die auch
bei den 68ern eine Rolle spielten, virulent waren. Ich denke da insbesondere an
die Forderung nach möglichst direkten demokratischen Entscheidungsformen.
Ein Zusammenhang zwischen 1968 und Schwarz-Grün als
Möglichkeit vermag ich zumindest noch nicht zu erkennen.

karl: Sehr geehrter Herr von Plottnitz, würden Sie Herrn Köhler
raten, Christian Klar zu begnadigen und wenn ja, mit welcher Begründung?

Rupert von Plottnitz:
Zur Natur von Gnadenakten gehört, dass sie umso rarer werden, je öffentlicher
und größer der Druck ist, der auf die jeweils zuständigen
Entscheidungsinstanzen ausgeübt wird. Deswegen sehe ich ab von Ratschlägen dieser
Art, wie sie hier nachgefragt werden.

Moderatorin: Zwei Nachfragen zu
neuen diskutierten Koalitionen:

Unteilbar: Grüne und
CDU, was sagen Sie dazu? SPD und Linke – unvereinbar?

Rupert von Plottnitz:
Grüne und CDU, da fehlt mir zumindest für Hessen bisher noch die Phantasie,
schließlich ist der CDU-Landesverband in Hessen in besonders aggressiver Weise
rechtskonservativ orientiert. SPD und Linke: Da gibt es inhaltlich vermutlich
mehr Gemeinsamkeiten als beide erahnen, aber noch scheint das Bedürfnis, die
Linke zu dämonisieren, bei der SPD insgesamt größer zu sein als mögliche
realpolitische Vernunft, wenn es um potenzielle Bündnisse geht.

studentin: Sie kennen
sich aus mit Protest gegen Staatsgewalt. Wie stehen Sie zur Debatte um den
Boykott der Olympischen Spiele? Welche Form des Protestes gegen den
Unrechtsstaat China ist sinnvoll?

Rupert von Plottnitz:
Bei den Olympischen Spielen wundert mich am meisten, dass erst jetzt
aufzufallen scheint, dass in China eine politische Diktatur das Sagen hat.
Warum dorthin die Olympischen Spiele überhaupt vergeben worden sind, wissen
wahrscheinlich nur die Sponsoren der Spiele. Ich selbst könnte mit einem
Boykott gut leben, solange sich in der Situation der Menschenrechte in China –
nicht nur in Tibet – nichts Entscheidendes ändert.

Moderatorin: Während
des Chats haben wir unsere User gefragt: Ist den 68ern der Marsch durch die
Institutionen gelungen? Hier die Antwort: 50 Prozent haben "Ja"
gesagt, 50 Prozent "Nein". Herr von Plottnitz – können Sie mit dieser
Bilanz leben?

Rupert von Plottnitz:
Bestens!

Moderatorin: Eine
persönliche Frage zum Schluss: Gibt es etwas, was Sie sehr bereuen – was z.B.
ist mit dem unkritischen Blick der 68er gegenüber Pol Pot und Mao Zedong?

Rupert von Plottnitz:
Das ist sicherlich ein wichtiger Punkt der Selbstkritik aus heutiger Sicht.
Ich habe auch zu denen gehört, die die Kulturrevolution in China für einen
Moment der Demokratisierung erstarrter Parteistrukturen gehalten hat. Das war
ein böser Irrtum, den ich heute nur bedauern kann.

Moderatorin: Das war eine
interessante zeithistorische Stunde hier im tagesschau-Chat. Herzlichen Dank,
Herr von Plottnitz, dass Sie sich Zeit für die Diskussion mit den Lesern von
tagesschau.de und politik-digital.de genommen haben. Dankeschön auch an unsere
User für die vielen Fragen, die wir leider nicht alle stellen konnten.

Rupert von Plottnitz:
Einen schönen Gruß auch an die Moderatorin, einen Dank zurück und vielen Dank
für das Interesse bei den Anfragenden.